Fünfzehn
Als ich am Nachmittag bei Dr. Weir vorbeischaute, stutzte er gerade die Büsche im Garten.
»Sie haben sich in den letzten Tagen ziemlich rar gemacht«, begrüßte er mich. »Waren Sie weg?«
»In gewisser Hinsicht schon. Ich war in Slains, vor dreihundert Jahren. Und weil meine Figuren jetzt von Spionen zu reden beginnen, komme ich zu Ihnen.«
»Och, aye?«
»Zum Beispiel von Daniel Defoe.«
»Ah.« Er richtete sich auf. »Da kann ich Ihnen vielleicht tatsächlich weiterhelfen, sobald ich nachgesehen habe, wie schlimm der Fliederbusch heute Nacht vom Sturm erwischt worden ist.«
Ich folgte ihm zu dem kahlen, ziemlich hohen Busch vor einem Fenster des Hauses.
»Viel Glück hatte ich bisher nicht damit. Eigentlich sollte er bedeutend kräftiger sein, fast wie ein Baum, aber er will einfach nicht richtig wachsen.«
Die Rinde fühlte sich glatt an unter meinen Fingern und erinnerte mich an die Abschiedsszene zwischen Moray und Sophia. »Ich muss gestehen, dass ich den Geruch von Flieder nicht sonderlich leiden kann. Bisher wusste ich nicht, warum, doch jetzt glaube ich, die Antwort gefunden zu haben.«
»Ach?« Der Arzt wandte sich mir mit interessiertem Blick zu. »Und wie lautet sie?«
Ich erzählte es ihm.
»Ja«, sagte er, »Gerüche lösen oft Erinnerungen aus.«
»Ich weiß.« Der Duft von Pfeifentabak zum Beispiel versetzt mich in meine Kindheit zurück, in das kleine Arbeitszimmer meines Großvaters. Dort hatte er mir das erste Mal von dem kleinen Stein mit dem Loch in der Mitte erzählt, der mich vor allem Übel schützen würde.
»Was wird in Ihrem Buch aus dem Soldaten?«, erkundigte sich Dr. Weir.
»Das weiß ich noch nicht. Allerdings kann er in der Realität nicht nach Slains zurückgekehrt sein, weil die echte Sophia drei Jahre später wieder in Kirkcudbright war und meinen Vorfahren heiratete.«
Dr. Weir zuckte mit den Achseln. »Es waren gefährliche Zeiten. Höchstwahrscheinlich ist er auf dem Kontinent gefallen.«
»Nicht eher 1708, bei dem Invasionsversuch?«
»Ich glaube nicht, dass damals irgendjemand umgekommen ist.« Stirnrunzelnd versuchte er sich zu erinnern. »Natürlich müsste ich das erst nachlesen …«
Schade, dachte ich, denn das wäre eine hübsche romantische Wendung für mein Buch gewesen.
Dr. Weir richtete sich auf. »Kommen Sie doch mit rein auf eine Tasse Tee und sagen Sie mir, was Sie über Daniel Defoe erfahren möchten.«
Elsie Weir hatte eine eindeutige Meinung über den Verfasser von Klassikern wie Robinson Crusoe oder Moll Flanders. »Er war ein hinterlistiges Wiesel«, sagte sie.
Der Arzt nahm einen Keks von dem Teller, den sie ihm hinhielt, und rügte sie: »Elsie.«
»Douglas, du hast ihn selbst so genannt.«
»Aye …« Der Arzt lehnte sich auf seinem Sessel zurück und legte den Keks auf seinem Teller ab. Die Vorhänge waren weit geöffnet, um das Sonnenlicht hereinzulassen, das meine Schultern wärmte, als ich mich von meinem Platz bei den Bücherregalen aus vorbeugte, um ebenfalls einen Keks zu nehmen.
»Daniel Defoe«, erklärte Dr. Weir, »tat nur das, was er für richtig hielt. Das ist das Motiv der meisten Spione.«
Elsie setzte sich neben mich. »Meiner Ansicht nach wollte er bloß seine Haut retten und ordentlich Geld kassieren.«
Der Arzt lächelte belustigt. »Sie weigert sich sogar, seine Bücher zu lesen.«
»Stimmt«, bestätigte Elsie.
»Obwohl der Mann inzwischen zu lange tot ist, um noch von den Tantiemen profitieren zu können«, sagte Dr. Weir. »Defoe unterstützte King William und war kein Freund der Jakobiten. Aber zu Beginn von Queen Annes Herrschaft machte er den Fehler, ein satirisches Pamphlet zu verfassen, das der Königin nicht gefiel, und so wurde er verhaftet. Weil er gerade pleite war, nahm er das Angebot an, das ihm Premierminister Robert Harley als Alternative zu Gefängnis und Pranger machte. Harley war der erste Spitzel der Königin.«
Den Namen kannte ich.
»Harley«, fuhr Dr. Weir fort, »erkannte sehr schnell, wie günstig es wäre, wenn jemand wie Defoe Propagandaschriften für ihn formulierte. Kurz vor der Ratifizierung der Union schickte Harley ihn nach Edinburgh, um sie hinter den Kulissen zu propagieren und ihre Gegner zu diskreditieren, unter dem Vorwand, er schreibe ein Buch über die Union und benötige Hilfe bei den Recherchen. Ein bisschen erinnert mich das an Ihre Tätigkeit hier in Cruden Bay.«
Die Menschen redeten gern mit Schriftstellern, das wusste ich.
»Sie hielten ihn also nicht für einen Spion«, erklärte Dr. Weir. »Aber er gab alles, was sie ihm erzählten, an Harley in London weiter. Defoe hatte eine schnelle Auffassungsgabe, war ein guter Beobachter und ein ausgezeichneter Manipulator. Sein Anteil an der Durchsetzung der Union ist unbestritten.«
»Wie gesagt: ein Wiesel«, wiederholte Elsie und stellte klappernd ihre Teetasse ab.
»Glauben Sie, dass er sich jemals in Slains aufgehalten hat?«, fragte ich.
»Defoe?« Der Arzt runzelte die Stirn. »Möglicherweise wusste er um die Pläne der Verschwörer, und bestimmt kannte er den Earl of Erroll, der häufig in Edinburgh war, aber ich weiß nichts davon, dass Defoe jemals nach Slains gekommen wäre. Allerdings gab es noch andere Spione, nicht nur in Schottland. Die Engländer interessierten sich sehr für das, was in Saint-Germain vor sich ging. Sie hatten ein ganzes Netzwerk von Agenten in Paris und Versailles und schickten sogar welche direkt nach Saint-Germain, normalerweise junge Frauen, die den Höflingen im Bett Informationen entlockten.«
»Die bewährte Methode«, lautete Elsies Kommentar, deren Laune sich ein wenig verbessert hatte, seit wir nicht mehr über Defoe sprachen.
»Und Slains …«, sagte Dr. Weir. »Ob sich nicht vielleicht doch der eine oder andere Spion in den hohen Norden verirrt hat, müsste ich nachlesen.«
Dann wandten wir uns anderen Themen zu, und am Ende blieb ich deutlich länger als geplant. Als ich mich von den Weirs verabschiedete, dämmerte es bereits. Wieder kreisten heiser rufende Saatkrähen über Castle Wood. Ich beschleunigte meine Schritte und bog beim Kilmarnock Arms in die Main Street ein, den Blick auf die verschwommen vor mir aufragende Silhouette der Dünen gerichtet.
Es war windig, und aus der Ferne hörte ich das Tosen der Wellen, die gegen das Ufer schlugen.
Ihr Rhythmus hatte eine hypnotisierende Wirkung auf mich. Den dunklen Pfad den Ward Hill hinauf setzte ich fast automatisch einen Fuß vor den anderen, während in meinem Kopf Wachträume kreisten. Auf diesem Weg lauerte etwas auf mich, das spürte ich. Plötzlich trat ich ins Nichts, besser gesagt in eine tiefe Furche unter dem dichten Gras, so dass ich das Gleichgewicht verlor und ins Rutschen geriet.
Instinktiv versuchte ich, mich irgendwo festzuhalten, während ich die steile, meerwärts gewandte Seite des Hügels hinunterschlitterte, bis ich in einem schiefen Zaun landete, der immerhin so stabil war, dass er meinen Sturz bremste.
Mein Knöchel schmerzte höllisch. Wie dumm von mir, dachte ich. Der Pfad war deutlich zu sehen, aber …
Jetzt wurde mir bewusst, dass ich an dieser Stelle nicht das erste Mal unaufmerksam gewesen war, doch bisher hatte sich immer jemand an meiner Seite befunden, der einen Sturz verhinderte.
Ich wagte einen Blick die Klippe hinunter und überlegte, welche Form sie im Jahr 1708 gehabt hatte. Konnte es sein, dass mein Körper sich an einen anderen Weg erinnerte, den Wind und Meer inzwischen abgetragen hatten?
Da entdeckte ich oben auf dem Pfad eine dunkle Gestalt und rief, so laut ich konnte.
»Du gütiger Himmel!«, stieß Stuart Keith hervor, kletterte leichtfüßig wie eine Bergziege den Hügel zu mir herunter und ging neben mir in die Hocke. »Was ist denn passiert?«
»Ich bin gestürzt«, erklärte ich, »und hab mir den Knöchel verstaucht, nichts Schlimmes. Aber ich brauche Hilfe.«
Er tastete stirnrunzelnd mein Fußgelenk ab. »Meinen Sie, er ist gebrochen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur verdreht oder verstaucht.«
»Das sollte sich mal lieber ein Arzt ansehen.«
»So arg ist es auch wieder nicht. Ehrlich«, fügte ich hinzu, als ich seinen zweifelnden Blick sah. »Ich hab mir schon mal den Knöchel gebrochen, ich weiß, wie sich das anfühlt.«
»Sicher?«
»Ja. Wenn Sie mir nur aufhelfen würden«, bat ich und streckte ihm die Hand hin.
»Kommen Sie wirklich zurecht? Ich könnte Sie tragen.«
»Na toll, dann fallen wir beide die Klippe runter. Ich schaff’s schon, wenn Sie mich stützen.«
Er schleppte mich praktisch den Hügel hinauf zum Pfad und den restlichen Weg zum Cottage.
»Da wären wir«, sagte Stuart ein wenig außer Atem, wartete, bis ich die Tür aufgeschlossen hatte, und dirigierte mich zu einem der Sessel.
»Danke, ich wüsste nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«
»Aye – ich rette gern hübsche Mädchen aus Gefahren«, erklärte er mit einem Lächeln. »Lagern Sie das Bein hoch. Ich hol was zum Kühlen.«
Im Kühlschrank befand sich lediglich eine kleine Packung Mischgemüse, aber die eignete sich durchaus für diesen Zweck. »Wann sind Sie zurückgekommen?«, fragte ich Stuart.
»Gerade erst. Eigentlich wollte ich mit meinem Besuch bei Ihnen bis morgen früh warten, aber zum Glück hab ich mir’s anders überlegt.«
Da klingelte das Telefon.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte er, »ich geh schon ran.«
Ich betete, dass es nicht meine Mutter oder, schlimmer noch, mein Vater war, als Stuart charmant wie immer sagte: »Nein, sie ruht sich aus. Augenblick.« Dann reichte er mir das Telefon.
»Hallo«, meldete ich mich, auf alles gefasst.
»Störe ich?«, erkundigte sich Jane in trockenem Tonfall.
»Nein, nein.«
»Du klingst irgendwie … beschäftigt.«
»Ich …«
»Du brauchst mir nichts zu erklären«, sagte sie. »Ich bin deine Agentin, nicht deine Mutter. Ich wollte nur fragen, ob du am Samstag zum Mittagessen kommen möchtest.«
Die Wochenenden verbrachte ich nun mit Graham, aber andererseits war ich auch gern mit Jane, Alan und ihrem Baby zusammen, und am Samstag konnte ich mich sicher wieder bewegen. »Ja«, antwortete ich, »gern.«
»Gut. Soll ich dich mit dem Wagen abholen, oder hast du dir mittlerweile einen Chauffeur angelacht?«
»Das sage ich dir noch.«
»Ist er aus der Gegend?«
»Jane.«
»Na schön, ich halt mich raus und stör dich nicht länger.«
Seufzend legte ich den Hörer auf die Gabel. Stuart, der sich am Stromzähler zu schaffen machte, wandte sich grinsend mir zu. »Nicht herschauen. Die Münzen sind fast durch. Ich manipuliere das Gerät gerade.«
»Ihr Bruder hat das auch schon mal gemacht. Irgendwann wird Ihr Vater merken, dass ich nicht so viel zahle, wie ich sollte.«
»Graham war hier? Wann denn?«
»Ach, vor einer Weile. Er hat mir bei den Recherchen zu meinem Buch geholfen.« Um Stuart von weiteren Fragen abzulenken, schob ich den Strumpf von meinem Bein und warf einen Blick auf den Knöchel.
»Du lieber Himmel«, rief er aus.
Der Knöchel war geschwollen und pochte dumpf.
Stuart runzelte die Stirn. »Wollen Sie ihn wirklich nicht anschauen lassen?«
»Ich zeige ihn morgen Dr. Weir«, versprach ich. »Aber glauben Sie mir: Er ist nur verstaucht. Ein bisschen Ruhe und ein Aspirin, und die Welt sieht gleich wieder anders aus.«
Seine Sorge rührte mit ziemlicher Sicherheit nicht nur daher, dass ich mich weigerte, einen Arzt zu rufen, sondern auch daher, dass er mich in dieser Nacht nicht würde verführen können. Aber er war Gentleman genug, um mir ein Aspirin und ein Glas Wasser zu bringen. »Ruhen Sie sich aus«, verabschiedete er sich von mir. »Wir sehen uns morgen.«
Ich hatte tatsächlich vor, mich auszuruhen. Sobald Stuart weg war, lehnte ich mich in meinen Sessel zurück und schloss die Augen, doch als der Wind an den Fenstern rüttelte und ums Cottage heulte, glaubte ich wieder, Stimmen zu hören, und eine von ihnen warnte mich: »Du vergeudest deine Zeit.«
Nun war an Ruhe nicht mehr zu denken. Es fiel mir schwer, zum Tisch zu humpeln, aber noch schwerer wäre es gewesen, im Sessel sitzen zu bleiben, wenn meine Figuren zu mir sprachen.