„Verdammt, in dem Ding schaue ich ja aus wie eine Münze auf zwei Beinen. Oder irgendein Damenhalsband.“

„Sie ist nur für den Abend gedacht, Mylord. Für tagsüber vollkommen unpassend. Ich habe sie nicht deswegen hochgehalten, um Ihnen nahezulegen, sie jetzt sofort anziehen, sondern nur, um zu eruieren, ob sie Ihrem Geschmack besser entspricht.“

„Ich würde aussehen wie ein Fisch auf dem Trockenen.“ Tristan schüttelte den Kopf. „Das kommt davon, wenn man den Franzosen erlaubt, die Mode festzulegen.“

Reeves faltete die Weste sorgfältig zusammen und legte sie wieder in den Kasten. Dann zog er eine neue, weitaus einfachere hervor. Sie war rot, mit schmalem schwarzen Besatz.

Tristan nahm die Weste und betrachtete das Kleidungsstück angeekelt. „Gibt’s denn keine schwarzen Westen?“ „Schwarze Westen werden höchstens von Landpfarrern oder arroganten Straßenräubern getragen.“

„Mit Landpfarrern kenne ich mich nicht aus, aber mit den Straßenräubern haben Sie recht. Die tragen wirklich jede Menge Schwarz.“

Reeves’ blaue Augen hefteten sich auf Tristan. „Dürfte ich fragen, woher Sie das wissen, Mylord?“

Tristan wandte sich zum Spiegel und streifte die Weste über. „Vor knapp einem Jahr wurde ich überfallen, als ich unterwegs nach Bath war. Der Mann war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, weswegen es auch verdammt schwierig war, ihn zu erwischen.“

„Ihn zu erwischen, Mylord?“

„Ihn anzuschießen.“

Reeves hielt inne. „Sie haben auf ihn geschossen?“

„Ich habe es versucht, aber er konnte entkommen. Ich habe keine Blutspuren gefunden, daher muss ich annehmen, dass ich ihn verfehlt habe. Wirklich verdammt schade.“ Reeves lächelte angespannt. „Natürlich, Mylord. Hier. Lassen Sie sich in den Rock helfen.“

Tristan schob die Arme in die Ärmel. So ein enges Kleidungsstück zu tragen fühlte sich merkwürdig an. Sämtliche Kleider, die Reeves für ihn hatte machen lassen, saßen ungewohnt eng, von den gewirkten Kniehosen bis zum Krawattentuch. Er kam sich darin vor wie ein gerefftes Segel.

Er nahm seinen Stock. „Nachdem ich nun verschnürt bin wie ein Gänsebraten, möchte ich jetzt, wenn Sie nichts dagegen haben, meinen Morgenspaziergang machen.“

„Sie haben noch etwa eine halbe Stunde, bis Mrs. Thistlewaite kommt. Achten Sie mir nur gut auf die Pfützen.“ Reeves nickte zu Tristans glänzenden Stiefeln.

„Wozu brauche ich Stiefel, wenn ich sie nicht dreckig machen darf?“

Reeves öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als die Tür mit einem Knall aufflog. Stevens steckte den Kopf herein und riss die Augen auf, als er Tristan sah. „Kreuzwetter, Käpt’n ... ich meine, Mylord. Wenn Sie jetzt nicht ausschauen wie ein feiner Herr, dann weiß ich auch nicht.“

„Master Stevens“, mahnte Reeves ruhig, „normalerweise klopft man an, ehe man einen Raum betritt.“

„Was Sie nicht sagen. Na dann.“ Stevens drehte sich um und klopfte an die Tür hinter sich, bevor er sich lächelnd an Reeves wandte. „Na, wie war das?“

„Hervorragend, nur dass man sonst vor der Tür steht, anklopft und wartet, bis man hereingebeten wird.“

„Meine Güte, das würde ja ewig dauern. Käpt’n ... Mylord, haben Sie so was schon mal gehört? Dass man anklopft und dann wartet, bis man reingebeten wird?“

„Die Benimmregeln, Stevens, mich bringen sie auch schier um. Bis der Monat vorbei ist, werden wir uns selbst nicht wiedererkennen. “

„Master Stevens“, sagte Reeves. „Haben Sie die Schere mitgebracht, wie ich Ihnen aufgetragen habe?“

Stevens nickte, griff in seinen voluminösen Rock und zog aus dem Hosenbund eine ziemlich gefährlich aussehende Schere heraus.

Tristan betrachtete sie mit Unbehagen. „Wozu soll die dienen? Wollen Sie damit die rosa Weste zerschneiden und ein Segel daraus nähen?“

Stevens lachte scheppernd. „Käpt’n, Sie wissen doch bestimmt Bescheid! Die Schere ist für Ihre Haare.“

„Was?“ Tristan trat einen Schritt zurück und sah die Schere entsetzt an. „Reeves, Sie wollen mir doch nicht etwa die Haare schneiden!“

Reeves warf Stevens einen strengen Blick zu. „Es lag nicht in meiner Absicht, dass der Earl von meiner Anregung auf diese Weise erfährt.“

Tristan sah ihn finster an. „Na, nach einer Anregung sieht mir das aber nicht aus.“

„Mehr sollte es aber nicht sein. Allerdings braucht Ihr Haar tatsächlich einen Schnitt. Es ist zu lang für die gegenwärtige Mode.“

Grollend berührte Tristan den sauber gebundenen Zopf in seinem Nacken. Er ging ihm bis über die Schultern, was durchaus akzeptabel war - die anderen Kapitäne trugen ihr Haar meist länger. Tristan hatte diesen Zopf, seit er sein erstes Schiff übernommen hatte, und es fiel ihm im Traum nicht ein, sich von ihm zu trennen. „Ich lasse mir das Haar nicht schneiden. Die Treuhänder sollen zum Teufel gehen.“ Reeves seufzte. „Vielleicht kann Mrs. Thistlewaite Sie zur Vernunft bringen.“ Damit entließ der Butler den inzwischen recht kleinlauten Stevens und wandte sich den restlichen morgendlichen Verrichtungen zu.

Tristan ertappte sich dabei, wie er unruhig auf die Uhr blickte und die Minuten bis zu Prudences Ankunft zählte. Die Zeit mit ihr war rasch zum Höhepunkt jeden Tages geworden. Bei dem Gedanken musste er kurz innehalten. Er dachte wirklich ganz schön oft an sie. Wenn er so zurückdachte, hatte er an diesem Morgen eigentlich dauernd an sie gedacht - seit er aufgewacht war. Doch seine wachen Gedanken waren bei Weitem nicht so beunruhigend wie sein letzter Traum.

In seinem Traum hatte sie bei ihm im Bett gelegen und war erwacht, als die Morgensonne über den Horizont gestiegen war. Sie hatte tief geschlafen, das lange seidenbraune Haar floss um ihre nackten Schultern ...

Nicht, dass er gewusst hätte, ob sie nackt schlief, er wusste es natürlich nicht. Wenn nicht, fragte er sich, was wäre wohl nötig, um sie dazu zu überreden ...

Er lächelte versonnen, während Reeves ihm den neuen Rock über den Schultern glatt strich. Meist waren die Frauen so damit beschäftigt, wie sie auf andere wirkten, dass sie sich kaum darum kümmerten, wie sie wirklich waren. Doch Prudence war einfach nur sie selbst, und das wusste er zutiefst zu schätzen. Er war zu lange allein auf hoher See gewesen, um den Orkanböen einer launischen und selbstsüchtigen Frau entgegentreten zu können. Prudence war anders. Sie erfüllte ihn, reizte ihn, forderte ihn heraus und mehr.

„Mylord?“

Tristan blinzelte. „Verzeihung, Mr. Reeves. Sagten Sie etwas?“

„Ja, Mylord. Mehrmals.“

„Entschuldigen Sie. Ich habe gerade an ... an ein Schiff gedacht. “ Ein Schiff mit wahrhaft herrlichen Toppsegeln.

„Natürlich, Mylord“, meinte Reeves, nahm die Bürste und führte sie über Tristans Schultern. „Ich wusste gar nicht, dass eines Ihrer Schiffe Prudence hieß.“

„Wie ... wovon reden Sie da?“

„Nur davon, dass Sie den Namen vor sich hin murmelten, als ich Ihre Ärmel glatt strich. “

„Oh.“

Reeves legte die silberne Bürste auf das dafür vorgesehene Tablett auf der Kommode zurück. „Wirklich ein erstaunlicher Zufall, dass sowohl Ihr Schiff als auch Ihre Nachbarin Prudence heißen. Das muss die Unterhaltung zwischendurch doch ungemein erschweren!“

Tristan sah Reeves direkt in die Augen. „Sind wir jetzt fertig mit Anziehen?“

„Ja, Mylord. Gestatten Sie mir die Bemerkung, dass Sie überaus schneidig aussehen.“

„Danke, Reeves.“ Tristan wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne, weil ihm ein Gedanke gekommen war. „Ach, ich wollte Sie schon heute Morgen danach fragen und hätte es beinah vergessen.“

„Ja, Mylord?“

„Haben Sie von Mr. Dunstead gehört?“

Eine kurze Pause entstand. Nicht lang, dennoch verräterisch. „Bisher leider nicht“, erwiderte Reeves.

„Hm.“ Tristan sah den Butler scharf an. „Letzte Woche kam an einem Abend ein Fremder hierher. Sehr spät. Sie haben ihn getroffen und mit ihm gesprochen. Ich weiß das, weil Toggle auf dem Abort war und es mitbekommen hat. Sie haben Nachricht von Mr. Dunstead erhalten.“

Auf Reeves’ Stirn zeigte sich ein schwaches Runzeln. „Master Toggle ist wirklich ein Meister darin, sich da herumzutreiben, wo er nicht erwünscht ist.“

„Es ist seine große Gabe.“

„Ja, Mylord.“

„Nun?“

Reeves antwortete nicht.

„Verstehe. Die nächste Merkwürdigkeit hat sich vor drei Tagen ereignet. Sie haben das Haus nach dem Dinner verlassen und sind erst zwei Stunden später zurückgekommen.“ „Ja. Mylord. Das stimmt.“ Der Butler begegnete Tristans Blick und seufzte. „Ich wollte nichts sagen, ehe sich das Problem von selbst gelöst hat, aber ... vielleicht ist es so besser. Mylord, Mr. Dunstead hat Master Christian tatsächlich gefunden. “

Tristans Herz setzte einen Schlag aus.

Reeves hob die Hand. „Mehr kann ich jetzt nicht sagen, Mylord. Noch nicht. Es ist eine Ehrensache. Er hat mir nicht gestattet, Ihnen seinen Aufenthaltsort zu verraten.“

Tristan biss die Zähne zusammen. „Geht es ihm gut?“

„Ja, Mylord. Sehr gut.“

Tristan entspannte sich ein wenig. „Reeves, ich werde ihn aufsuchen.“

„Ich glaube, dass er das auch hofft.“

„Das bezweifle ich, sonst wäre er doch längst hier. Hat er gesagt, warum er nicht möchte, dass wir uns sofort treffen?“ „Erst hat er noch ein paar wichtige Entscheidungen zu treffen, hat er gesagt. Wegen seines Berufs.“

„Was ist er denn?“

„Ich fürchte, das darf ich Ihnen auch nicht sagen.“ „Reeves, meine Geduld hat Grenzen.“

„Natürlich, Mylord. Ich werde dafür sorgen, dass Master Christian von diesem Umstand ebenfalls in Kenntnis gesetzt wird.“ Reeves ging zur Tür. „Einen angenehmen Morgenspaziergang, Mylord. Wenn Sie zurückkehren, steht das Frühstück auf dem Tisch.“

Tristan nickte kurz, bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. Christian so nah zu sein - und doch so fern. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Schließlich konnte er Christian ja nicht zwingen, sich zu zeigen, wenn er dazu noch nicht bereit war. Also sagte er bloß: „Danke, Reeves. Für alles.“

Der Butler lächelte. „Es war mir ein Vergnügen. “ Eine letzte Verneigung, dann hatte er den Raum verlassen.

Tristan stand da und starrte auf die Tür. Christian. Was, in drei Teufels Namen, tust du da?