6. KAPITEL
Es ist wichtig, dass der Dienstherr Respekt von seinesgleichen verlangt. Wenn sein Kammerherr ihn dabei unterstützen kann, soll er es tun, auch wenn es eventuell unangenehm ist: Am Ende wird es sich auch für ihn bezahlt machen. So ungerecht es auch sein mag, das Vermögen des Dieners wird anhand des Erscheinungsbildes seines Herrn beurteilt. Ein Soßenfleck auf seiner neuen Weste könnte für den Diener bedeuten, dass er eine Menge an Hochachtung einbüßt.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Prudence klopfte mehrmals so energisch an die verwitterte Tür, dass ihr die Knöchel durch die Handschuhe hindurch wehtaten. Über ihr schrie eine einsame Möwe. Das Geräusch hallte unheimlich in der Luft wider. Der Wind peitschte noch ein wenig kälter gegen die Tür, fuhr ihr unter die Röcke und blies ihr kalte Luft um die Knöchel. Prudence fuhr zusammen und zog sich den Mantelkragen enger um den Hals.
Wo war dieser verflixte Captain? Zweifellos saß er drinnen gemütlich am Feuer, ließ sich wärmen und trank einen Brandy nach dem anderen. Das taten die Seeleute doch, hatte sie zumindest gehört.
Hinter ihr ertönte ein lautes Blöken. Sie drehte sich zu dem Schaf um, das recht brav hinter ihr stand. Sie hatte es sich mit ihrem roten Schal an der Taille festgebunden.
„Still, Mrs. Fieldings!“ Aus irgendeinem Grund hatte sie das Schaf taufen wollen, und der Name der Haushälterin schien ihr ziemlich passend. Irgendetwas an der humorlosen Miene des Schafs erinnerte sie lebhaft an Mrs. Fieldings morgendliche Strenge.
Der Wind frischte noch mehr auf. Mrs. Fieldings reckte den Kopf und begann mit gelben Zähnen am roten Schal zu knabbern.
„Hör sofort auf damit!“, befahl Prudence dem Tier. „Den hat Mutter für mich gestrickt. “
Das beeindruckte Mrs. Fieldings nicht im Mindesten. Eher im Gegenteil. Sie knabberte noch eifriger.
„Heb dir das für die Vorhänge des Captains auf.“ Die morgendliche Kälte war die einzige Reaktion auf diese Bemerkung. Prudence erschauerte und klopfte noch einmal, noch härter diesmal. Drinnen regte sich nach wie vor nichts, nur der eisige Wind pfiff fröhlich um sie herum. Ihr wurde noch kälter. „Zum Kuckuck“, brummte sie und begann mit der Faust gegen die Tür zu hämmern. „Wo sind die denn alle?“ Die Worte waren kaum über ihre Lippen, als die Tür aufgerissen wurde. Doch kein wutentbrannter Captain stand vor ihr und starrte erbost auf sie nieder. Stattdessen starrte ihr Stevens entgegen, blinzelnd, als wäre er gerade erst aufgestanden. Über dem gestreiften Hemd trug er einen Überrock aus schwarzem Baumwollstoff, auf dem Kopf ein geknotetes buntes Tuch. Er sah ziemlich piratenhaft aus. Als er sie erkannte, hielt er mitten im Gähnen inne. „Bei allen Weltmeeren, Madam. Ich dachte schon, ein Geldeintreiber steht vor der Tür, um sich sein Moos abzuholen, aber echt.“ Demnach war es um die finanziellen Verhältnisse des Captains nicht zum Besten bestellt, ja? Das hätte sie nicht überraschen sollen. „Ich bin kein Geldeintreiber.“
„Nein, natürlich nicht, Mrs. Thistlewaite. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Ich möchte den Captain sprechen.“
„Oho, so ist das also! Na, wie auch immer, ich kann Sie nicht reinlassen. Ich bin doch keiner, der ein Frauenzimmer heimlich ins Haus lässt, wenn es nicht eingeladen ist!“
„Ich wurde aber eingeladen.“
„Von wem denn, wenn ich fragen darf? Doch nicht vom Käpt’n, der würde hier auch kein Frauenzimmer Das Gesicht des rundlichen kleinen Mannes hellte sich auf. „Ah, jetzt weiß ich, wer Sie eingeladen hat! Das war John Pewter, stimmt’s?“
„John ... nein. Ich weiß nicht mal, wer das ist ...“
Stevens streckte die Hand ein gutes Stück über seinen Kopf. „Ungefähr so groß, blondes Haar, das er sich hinten zusammenbindet, leichtes Hinken im rechten Bein?“
„Ich glaube nicht... “
„Wahrscheinlich hat er nicht daran gedacht, seinen Namen zu sagen, aber egal. Ich habe ihn in die Schenke geschickt, dass er dort ein Mädel aufgabelt, aber wenn er stattdessen Sie gefunden hat ... “
„Mich hat noch nie jemand in einer Schenke aufgegabelt!“
Stevens wirkte enttäuscht. „Nein?“
„Nein!“
„Ach, na dann. Schade. “ Vertraulich senkte er die Stimme. „Die Jungs und ich dachten, der Käpt’n könnte ein bisschen Aufmunterung vertragen, und daher haben wir ...“ In ihre Miene musste ein gewisser Ausdruck getreten sein, denn er wurde plötzlich rot und trat zur Seite. „Ist ja egal. Kommen Sie rein. Draußen ist es zu kalt, um sich über Einladungen zu kabbeln.“
Die Wärme war verlockend. Prudence trat eifrig vor, wurde jedoch von ihrem roten Schal zurückgezerrt. „Ach ja! Moment mal.“ Sie drehte sich um, stemmte die Fersen in den Boden und zog mit aller Kraft. Stückchen für Stückchen wurde Mrs. Fieldings, das Schaf, über die Schwelle gezerrt. Es hatte den Kopf gesenkt, um sich besser zur Wehr setzen zu können. Sobald es über die Schwelle war, wurde es erneut von Panik erfasst, denn es sah sich mit weit aufgerissenen Augen um, blökte laut und machte eine Kehrtwendung, um eiligst nach draußen zu entweichen.
Prudence umklammerte den Schal mit beiden Händen.
Stevens keuchte auf. „Mich laust der Affe!“
Ein lautes Krachen ertönte, und im nächsten Moment kamen zwei Männer um die Ecke gerannt. Der eine war groß und mit Ausnahme eines weißen Haarkranzes um die Ohren glatzköpfig. Er trug einen goldenen Ohrring, einen schmutzigen Mantel über einem langen weißen Nachthemd und an den Füßen Stiefel. Der andere war klein und dick, er hatte ein rotes Gesicht und einen goldenen Nasenring. Außerdem trug er ein unwahrscheinlich langes schwarzes Hemd und orangefarbene Hosen.
Die Männer beobachteten, wie das Schaf zu fliehen versuchte, und stürzten sich sofort darauf. Dann ertönten Schritte, und drei weitere Männer kamen aus einem anderen Gang gerannt, alle mit ungewöhnlichem Körperschmuck und höchst unorthodox gekleidet.
Das war zu viel für Mrs. Fieldings. Ungeahnte Kräfte strömten ihr zu, und sie setzte ihre Flucht mit neuem Mut fort. Sie riss Prudence den Schal aus den Händen und galoppierte wie wild davon. Der rote Stoff wehte hinter ihr her.
„Auf sie mit Gebrüll, Männer!“, rief Stevens.
Die Männer sahen Prudence an.
Die trat hastig einen Schritt zurück. „Nicht auf mich! Auf das Schaf!“
„Aye!“, fuhr Stevens die Männer an. „Das Schaf. Das mit dem roten Schal! “
Sie stürzten los, ein einziges Knäuel an merkwürdigen Kleidungsstücken und gutem Willen, wobei sie sich an der Tür ziemlich ins Gehege kamen und einander heftig verfluchten.
Prudence keuchte auf, als sie sah, dass einer eine Pistole zückte, ein übler Bursche mit Narbengesicht und zerschlissenem blauen Rock.
Anscheinend hatte Stevens es auch gesehen, denn er rief der wilden Jagd nach: „Tut dem armen Vieh bloß nichts an! Es gehört dem Käpt’n, vielleicht will er es ja zu Michaeli servieren!“ Er schloss die Tür. „Das war ein Glücksfall, dass Sie das Schaf gebracht haben. Vielen Dank!“
Prudence hielt inne. „Wofür bedanken Sie sich eigentlich bei mir?“
„Na, das wird die Männer für die nächsten Stunden auf Trab halten! Sie meckern und murren doch andauernd, weil es hier nichts zu tun gibt. Jetzt können sie hinter dem Schaf herrennen, bis ihnen die Nase aus dem Gesicht fällt.“ Wunderbar. Sie hatte das verflixte Schaf den ganzen Weg von ihrem Haus hergezerrt, und Stevens freute sich darüber! Zum Kuckuck! Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass der Captain die Sache aus einem weniger günstigen Blickwinkel betrachtete. „Was meinen Sie, werden die Männer das Schaf fangen?“
„Diese Trantüten? Herr im Himmel, Madam! Natürlich kriegen die das Schaf nicht! Die würden ja nicht mal ein Riff an helllichtem Tag finden, selbst wenn sie einen Stock hätten. Natürlich will ich damit nicht sagen, dass es keine guten Kerle wären, das sind sie schon. Man muss ihnen eben sagen, wo es langgeht. Und ohne mich oder den Käpt’n, na ja ... vermutlich werden wir sie die nächsten Stunden nicht zu Gesicht bekommen. Wenn’s reicht.“
„Hoffentlich tun sie dem armen Schaf nichts, obwohl es kräftiger ist, als es aussieht.“
„Ein Wunder, dass Sie das Vieh überhaupt hergebracht haben.“ Er drehte sich um und ging den schmalen Korridor hinunter. „Kommen Sie mit, Madam. Ich bringe Sie zum Käpt’n.“
Prudence hielt inne. Sollte sie wirklich mitgehen? Wenn ja, was sollte sie sagen? Ohne das Schaf war ihre Mission ... verloren. Wenn sie nur über ein bisschen Vernunft verfügte, würde sie sich umdrehen und gehen.
Sie blinzelte Stevens nach und betrachtete interessiert das Innere des Cottages. Es war größer als das Cottage, das ihre Mutter und sie gemietet hatten, hatte aber weitaus weniger Fenster. Tatsächlich war es im Inneren ziemlich düster. Zwei Türen führten auf den engen Flur, beide waren geschlossen. Unter einer drang ein dünner Lichtstrahl nach draußen. Sie trat einen Schritt vor, fasziniert von dem hellen Schimmer.
Stevens baute sich vor ihr auf. „Da wollen Sie aber nicht reingehen, Madam.“
„Oh. Nein. Natürlich nicht.“ Sie blickte zu dem Licht. „Was ist da drinnen denn?“
„Da drin liegt der alte Riley Neilson. Dem haben sie beim letzten Scharmützel mit den Franzosen die Hüfte kaputt gemacht. Wir versorgen ihn.“
„Im Salon im Erdgeschoss?“
„Er kann keine Treppen mehr steigen. Wir benutzen beide Salons unten als Schlafzimmer. Riley liegt mit Taggart, Lewis und Jacobson backbord, steuerbord schlafen Toggle, Toots, MacGrady und ich.“
„Sie schlafen in den Salons?“
„Aye.“
Liebe Güte, was war das für ein Haushalt, in dem man Salon und Speisezimmer in Schlafzimmer verwandelte? „Welcher Raum gehört dem Captain?“
Stevens wies auf den dunklen Flur. „Die Bibliothek. Er nennt sie sein Quartier. “
Sie hatte schon zwei Schritte in die angegebene Richtung getan, hielt dann aber inne. „Schläft er dort denn auch?“ „Manchmal. Aber normalerweise hat er sein Schlafzimmer oben. Bisher brauchen wir es nicht, aber wenn noch mehr kommen ...“ Traurig schüttelte Stevens den Kopf. „Wir sind voll bis zum Achterdeck.“
„Voller ... Seeleute?“
„Aye, Madam. Wir alle haben einmal in Diensten der königlichen Marine gestanden. Und unter dem Käpt’n in Trafalgar gedient.“ Stevens strahlte. „Er ist nämlich ein Kriegsheld. Der Käpt’n sagt, wir sind alle Kriegshelden.“ Prudence hatte der Zofe daheim keinen Glauben geschenkt, als sie behauptete, der Captain sei eine Art Kriegsheld - aber wenn sie nun Stevens’ stolze Miene betrachtete, entsprach es vielleicht doch der Wahrheit. „Das muss für Sie alle sehr aufregend gewesen sein. “
„Aye! Admiral Nelson war auf unserem Schiff, als ...“ Ein Schatten huschte über das Gesicht des alten Matrosen. Obwohl er sich rasch wieder im Griff hatte, waren seine Augen feucht geworden.
Prudence kam sich schrecklich gemein vor. Sie räusperte sich. „Zu wie vielen hausen Sie denn hier?“
Stevens hakte die Daumen in die Armausschnitte seiner Weste und blickte nachdenklich zur Decke. „Wir sind siebenundzwanzig. “
„In diesem einen Haus?“
„Nun ja, manche kommen, andere gehen.“ Stevens’Miene verdüsterte sich. „Es ist schwer für einen Seemann, irgendwo länger vor Anker zu gehen. In uns steckt eine Rastlosigkeit, die uns schwer auf der Seele liegt.“
„Dann ist dies hier ein ziemlich großes Unternehmen.“ „Sie wissen ja noch nicht mal die Hälfte. Der Käpt’n gibt uns zu essen und kleidet uns, wissen Sie. Aber er schenkt uns das alles nicht für umsonst, und das ist auch gut so, man hat schließlich seinen Stolz. Die Männer arbeiten, wann immer es irgendetwas zu tun gibt.“
Der Captain offenbarte Seiten, die sie nicht an ihm vermutet hätte. Auf den zweiten Blick war mehr an ihm dran, als sie erwartet hätte. Sehr viel mehr. „Das ist ja sehr großzügig von ihm.“
„Allerdings.“ Der Erste Offizier kratzte sich am Kinn und wies dann auf den Flur. „Hier entlang, wenn Sie mit dem Käpt’n reden möchten.“
„Ja, bitte.“ Allmählich erkannte sie, dass hinter der rauen, grimmigen Fassade des Captains doch ein Herz stecken musste. Natürlich war es möglich, dass er die Männer für irgendeinen dunklen Zweck einzusetzen gedachte ... aber sie konnte sich nicht vorstellen, für welchen.
Stevens wischte sich die Nase am Ärmel ab. „Dann kommen Sie mal, Madam. Der Captain ist gerade spazieren, aber Sie können in seinem Quartier auf ihn warten.“
„Danke“, sagte sie und folgte dem Mann den Gang hinunter.
Er ging zur letzten Tür, riss sie auf und trat dann beiseite. „Rein mit Ihnen!“
Das fahlgraue Licht blendete sie fast, als sie den Raum betrat. An einer Wand zogen sich Terrassentüren hin. Der silbergraue Himmel draußen wurde von dunkelgrünen Vorhängen eingerahmt. Das Licht, wenn auch spärlich vorhanden, strömte ins Zimmer. „Viel besser“, lobte sie. „Dieser Raum ist viel heller.“
„Aye. Als würde man an Deck eines Schiffes treten, nicht?“ Stevens deutete zu dem großen Ohrensessel, von dem aus man Ausblick auf eine kleine Terrasse und die Klippen dahinter hatte. Ein Buch und ein Pfeifenständer erzählten ihre eigene Geschichte. „Der Käpt’n sitzt gern bei Sonnenuntergang hier drin. Ich glaube ja, dass er dann so tut, als würde er noch zur See fahren.“ In Stevens’ Stimme hatte sich ein sehnsüchtiger Ton geschlichen. „Ich vermisse die alten Zeiten.“
„Er tut so?“ Prudence konnte sich nicht vorstellen, dass der Captain zu derartigen Als-ob-Spielen neigte.
Ein Schatten zog über Stevens’ Gesicht, und seine blauen Augen verdunkelten sich. „Manchmal bleibt uns sonst nichts, Madam. Wir können nur so tun als ob.“
Prudence dachte daran, wie sehr sie Phillip vermisste und wie sie sich damals, direkt nach seinem Tod, kurzfristig vorgegaukelten hatte, er sei noch am Leben, sei nur kurz verreist. Dass er zurückkehren würde. Natürlich kam er nicht zurück, und manchmal machten diese Selbsttäuschungen sie nur noch trauriger.
Sie dachte an den Captain und an sein Hinken. „Wird der Captain je wieder zur See fahren können?“
„Nein, Madam. Wegen seinem Bein. Er findet an Deck keinen Halt mehr. Manche Kapitäne würden trotzdem weitermachen, würden sich an den Mast binden. Aber der Käpt’n sagt, wenn der Befehlshaber körperlich nicht auf der Höhe ist, versagt er sehr viel öfter. Schon aus Sorge um seine Leute will er nicht zu diesen Versagern gehören. Er denkt eben immer an seine Männer.“
„Verstehe. Wo steckt er denn?“
„Wahrscheinlich in der Scheune.“ Auf Stevens’ Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Wir haben nämlich Besuch. Der Käpt’n hat ihn in der Scheune untergebracht. Ich schau mal, ob ich ihn finde. Vielleicht sollten Sie derweil hier vor Anker gehen.“
Prudence nickte. Der Mann sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, als rechne er damit, dass der Captain jeden Augenblick auftauchen könnte, und ging.
Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Prudence sich im Zimmer um. An den Wänden hingen große Gemälde, auf denen Schiffe auf rauer See zu sehen waren. Sie ging von Bild zu Bild und betrachtete die Blau-, Grün-und salzigen Grautöne der Meeresdünung.
Nachdenklich verlangsamte sie ihren Schritt und entdeckte auf einem Tisch voll interessanter Objekte ein Messinginstrument. Sie streifte ihre Handschuhe ab, legte sie zusammen mit ihrem Mantel über einen Stuhlrücken und nahm das Instrument auf. Es fühlte sich kühl an.
Sie wusste wirklich kaum etwas über den Captain, nur dass er ein Schaf besaß, das über Zäune klettern konnte. Ein Schaf, das nun wild durch die Gegend lief, ihren roten Schal trug und von einer Bootsladung Matrosen verfolgt wurde.
Ihre Lippen zuckten. Eigentlich könnte das ganz amüsant anzusehen sein. Sie stellte das Messingding - was es auch war - ab und sah sich weiter im Zimmer um. Auf einem Regal neben dem Kamin, etwas über Kopfhöhe, entdeckte sie einen kleinen Pokal, in den etwas eingraviert war. Von ihrem Platz sah es wie „Victory“ aus. Sie kniff die Augen zusammen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Schriftzug besser entziffern zu können, doch es war zu dunkel.
War es möglich ... die Victory war das Schiff gewesen, von dem aus Admiral Nelson die Schlacht von Trafalgar befehligt hatte. Captain Llevanth war doch gewiss nicht der Kapitän dieses Schiffs gewesen!
Gut möglich, dass sie auf diesem Pokal eine ganze Reihe von Antworten finden würde. Sie trat näher an das Regalbrett heran und reckte sich nach oben, doch sie erreichte das Gefäß gerade einmal mit den Fingerspitzen, es stand viel zu hoch. Sie sah sich um und entdeckte einen Stuhl. Wenn sie sich daraufstellte, könnte sie das Regalbrett nicht nur erreichen, sie könnte sich auch den Pokal näher ansehen und die Gravur lesen.
Zögernd sah sie zur Tür. Im Flur war alles still. Auf dem Holzboden hatte keinerlei Teppich gelegen, und der Captain würde sich kaum anschleichen, vor allem nicht bei seinem Hinken. Sie war sich sicher, dass sie es hören würde, wenn sich jemand näherte.
Prudence rückte den Stuhl unter das Regalbrett, verzog das Gesicht, als die Stuhlbeine über den Boden scharrten. Als der Stuhl an Ort und Stelle stand, schlich sie noch einmal zur Tür und sah hinaus. Nichts. Ihr Atem beruhigte sich ein wenig. Leichtfüßig stieg sie auf den Stuhl und holte den Pokal vom Regal herunter.
Zum Andenken an die Tapferkeit der Victory und Admiral Nelsons letzte Schlacht, für Captain Tristan Llevanth. Obschon im Gefecht verwundet, kämpfte er treu, tapfer und ehrenhaft.
In Bewunderung von Seiner Majestät, König George III.
Das war doch etwas! Mit den Fingerspitzen fuhr sie die Gravur nach, die sich ein wenig rau anfühlte. Hatte König George die Auszeichnung persönlich überreicht? Wie merkwürdig die Vorstellung war, dass der König dieses Gefäß an genau derselben Stelle berührt hatte wie sie jetzt.
Sie stellte den Pokal zurück ins Regal. Dann reckte sie sich noch ein wenig und berührte die nächste Auszeichnung. Hierbei handelte es sich um ein großes goldenes Kreuz, eingefasst in blaue Emaille und mit einem einzelnen Edelstein besetzt. Am oberen Ende befand sich eine Öse, durch die ein blaues Band gezogen war. Anscheinend musste man das Kreuz zu irgendeiner Uniform tragen.
Sie runzelte die Stirn. Sie hatte schon vom Christopheruskreuz gehört, das Seeleuten und Soldaten verliehen wurde, welche sich in der Schlacht ausgezeichnet hatten. Konnte es das sein? Was es auch war, es war ein wunderbar gearbeitetes Stück und ziemlich eindrucksvoll. Sie fuhr über das kühle Metall und bewunderte die Farben. Danach wandte sie sich den übrigen Auszeichnungen und Medaillen zu.
Was die kriegerischen Aktivitäten anging, war der Captain kein Feigling. Diese Information könnte sich noch als sehr nützlich erweisen. Sie würde darauf achten müssen, dass sie ihn nicht zu sehr angriff. Er würde das nur als Herausforderung verstehen, etwas, was er anscheinend genoss.
Sie spitzte die Lippen. Das konnte sie ihm vermutlich nicht vorwerfen, sie stritt sich schließlich selbst ab und zu ganz gem. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Kreuz zurückzulegen ...
„Was machen Sie da?“
Die Worte durchbrachen die Stille wie ein Peitschenhieb. Sie klangen so tief und nah, dass Prudence erschrocken einen Schritt rückwärts machte - immer ein gefährliches Unterfangen, wenn man auf der Sitzfläche eines wackligen Stuhls balancierte. Unwillkürlich umklammerte sie das Kreuz mit beiden Händen, keuchte tief auf und taumelte auf dem Stuhl herum.
Und dann verlor sie das Gleichgewicht, fiel und fiel und fiel ... direkt in die Arme des Mannes, den zu besiegen sie ausgezogen war.