PROLOG
Ein Dienstbote sollte niemals die Grenzen seines Berufs überschreiten, es sei denn in höchster Not. Selbst dann sollte er sich größter Vorsicht befleißigen. Wenn ein Dienstbote willkürlich gegen die althergebrachten Sitten verstößt, so habe ich die Erfahrung gemacht, dass ihn die Gesellschaft - oder die ihr innewohnenden Kräfte - rasch an seinen ursprünglichen Platz zurückverweist.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
White Thistle Inn Yorkshire, England, 1781
„Er kommt bestimmt.“ Müde lehnte der zehnjährige Tristan Llevanth die Stirn an die kühle Fensterscheibe. Jenseits des Innenhofs verlief die Straße nach London, ein langes, schmales Band, das sich durch die raue und leider auch völlig menschenleere Landschaft wand. „Bestimmt“, flüsterte er. Die Scheibe beschlug unter dem Hauch. „Unser Vater hat noch nie gelogen.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte Christian und verzog angeekelt die Lippen. „Der Earl redet doch nie mit uns. Er betrachtet uns nicht einmal als seine Kinder. “
Tristan wandte sich zu seinem Bruder um. „Der Earl of Rochester ist ein viel beschäftigter Mann. Und außerdem betrachtet er uns sehr wohl als seine Kinder, schließlich gibt er Mutter Geld, um für unseren Unterhalt zu sorgen und den Hauslehrer zu bezahlen.“
Christian schien das nicht zu beeindrucken. „Wenn wir seine ehelichen Kinder und Erben wären, wäre er bestimmt nicht zu beschäftigt, um uns zu sehen. Und er würde uns nie an einem so langweiligen und kalten Ort sitzen lassen.“ Ehelich. Das Wort brannte sich in Tristans Seele, und er biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. „Er kommt bestimmt, um uns zu helfen. Er muss kommen.“
Christian sah Tristan lange an. Seine Miene war skeptisch. Man sah den Brüdern nicht an, dass sie Zwillinge waren: Tristan war eher blond und kräftig, Christian schwarzhaarig und schmal, wenn auch ebenso groß wie sein Bruder.
Das Einzige, was die Zwillinge gemeinsam hatten, war die Farbe ihrer Augen, ein ungewöhnlich helles, faszinierendes Grün, das an frische Blätter erinnerte. „Feengrün“ hatte es eines der Zimmermädchen genannt.
Das gefiel Tristan irgendwie. Vielleicht konnte er ja wirklich zaubern, und wenn er sich nur genug anstrengte, würde ihr Vater durch den Nebel angeritten kommen und sie alle retten. Vor allem Mutter, die mehr als alle anderen der Rettung bedurfte.
Beim Gedanken an seine Mutter, die ganz allein in einem feuchten Gefängnis eingesperrt war, wurde Tristans Brust vor Schmerz ganz eng. Er kannte das Gefühl - es war Angst. Und wenn er den Schmerz übermächtig werden ließ, wäre er bald nicht mehr in der Lage, Entscheidungen zu treffen und einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage zu finden. Und trotz seines bemüht ungerührten Gehabes hatte Christian bestimmt genauso viel Angst wie er selbst.
Im Schankzimmer unter ihnen erklangen laute Stimmen und hallten im Treppenhaus wider. Tristans Angst verstärkte sich.
Christian blickte unruhig zur Tür. „Wir sollten verschwinden. Hier sind wir nicht sicher.“
„Das geht nicht“, erklärte Tristan streng. „Wir haben Vater geschrieben, dass wir hier auf ihn warten würden. “
„Tris, Brooks hat gesagt, dass er gar nicht vorgelassen wurde. Die Dienstboten des Earls haben den Brief entgegengenommen und Brooks weggeschickt.“
„Vater ist ein Earl, ein sehr wichtiger Mann. Sobald er Zeit hatte, unseren Brief zu lesen ...“
„Er wollte doch noch nicht mal Brooks empfangen. Wie kommst du da auf die Idee, dass er unseren Brief gelesen haben könnte?“
Verzweifelt schüttelte Tristan den Kopf. „Nein. Du irrst dich. Vater kommt bestimmt. Er muss, Chris! Er muss einfach!“
Christian runzelte die Stirn. „Du wirst doch nicht anfangen zu weinen, oder?“
Tristan riss sich zusammen und schluckte die Tränen herunter, die ihn zu ersticken drohten. Abgehackt stieß er hervor: „Ich weine nicht.“
Christian sah ihm direkt in die Augen. „Ich auch nicht.“ Doch nach einer Weile ließ er die Schultern hängen und wandte sich zum Fenster. Blicklos starrte er hinaus in die Abenddämmerung.
Tristan ballte die Hände zu Fäusten und sagte leise: „Wenn Vater uns nicht hilft, werden sie Mutter ... “ Er schluckte.
Christian rieb sich die Stirn. „Das weiß Brooks. Deswegen benimmt er sich in letzter Zeit so seltsam. Er ... er hat Angst.“
Tristan wusste, dass ihr Hauslehrer nur deswegen bei ihm und Christian ausharrte, weil er glaubte, dass ihre Mutter ihn nach ihrer Freilassung für diesen treuen Dienst belohnen würde. Anfangs hatte sich der Hauslehrer ihnen gegenüber durchaus wohlwollend verhalten. Doch als die Zeit ins Land ging und es immer unwahrscheinlicher schien, dass Mutter je zu ihnen zurückkehrte, hatte Brooks’ Stimmung sich gewandelt.
Als ihn letzte Woche auch noch der Earl abgewiesen hatte, war Brooks deutlich mürrischer und ärgerlicher geworden. Er trank viel und bemühte sich nicht mehr, sich seinen Zöglingen gegenüber höflich zu verhalten. Manchmal konnte man schon vom Gegenteil sprechen. Tristan ließ die Schultern kreisen und zuckte zusammen, als er den blauen Fleck spürte, den Brooks’ Stock dort hinterlassen hatte - nur weil er zu fragen gewagt hatte, ob sie Vater nicht noch einen weiteren Brief schreiben sollten.
„Tut es noch weh?“, fragte Christian ruhig.
„Es ist bloß ein bisschen steif. Ich habe es schon fast vergessen.“
Einen Moment loderte in Christians Blick Wut auf. Unbändige, reine Wut, bei deren Anblick Tristan vor Staunen den Mund aufriss. Doch gleich darauf hatte sich diese Gefühlsregung schon wieder verflüchtigt, und Christian sah erneut zum Fenster hinaus.
So war Christian eben: Er wusste seine Gefühle zu verbergen. Mutter sagte immer, er sei wie ein See - eine spiegelglatte Oberfläche, unter der sich eine gefährliche Strömung verbarg. Tristan hingegen sei wie das Meer - seine Gefühle sprühten und schäumten auf der Oberfläche, rollten und brachen sich wie Wellen, in jeder Situation. Auch in dieser. Vor allem in dieser.
Von unten drang eine Salve betrunkenen Gelächters herauf. Christian und Tristan drehten sich gleichzeitig zur Tür. Das brüllende Gelächter verklang ein wenig, doch der allgemeine Lärmpegel hatte sich erhöht. Irgendwo in diesem Gebrüll befand sich auch Mr. Brooks und vertrank und verspielte das letzte bisschen Geld, das ihnen noch geblieben war.
Tristan lehnte die Stirn an die Scheibe. „Ich hasse es.“
Christian sah seinen älteren Bruder an. Er liebte Tristan, sah zu ihm auf, doch manchmal schien sich sein Zwilling an Hoffnungen zu klammem, die es gar nicht gab. „Wir können nicht hierbleiben.“
„Müssen wir doch. Wir müssen auf Vater warten.“ Tristan seufzte, und das Glas beschlug. „Vielleicht kann Mr. Brooks ja an Vaters Verwalter schreiben und so herausfinden, warum Vater uns nicht geantwortet hat ...“
„Mr. Brooks hat schon genug getan“, erklärte Christian harscher als beabsichtigt. Verletzt presste sein Bruder die Lippen aufeinander. Schuldbewusst verschränkte Christian die Hände im Rücken. Er krallte die Finger so fest ineinander, dass sie schmerzten. Niemand sollte sehen, wie sehr seine Hände zitterten. Als er letzte Nacht oben auf der Stiege gesessen hatte, hatte er mehr belauscht, als er Tristan gesagt hatte. Mr. Brooks hatte mit einem Mann in langem Mantel gesprochen. Der Hauslehrer schuldete dem Mann Geld - eine Menge Geld. Brooks hatte schon alles Wertvolle verkauft. Alles, was ihm jetzt noch blieb, waren ...
Jetzt presste auch Christian die Lippen aufeinander. Er wollte nicht mehr daran denken. Später, wenn Tristan schlief, würde ihm schon einfallen, wie sie beide entkommen könnten, bevor der Hauslehrer beschloss, das Letzte zu verkaufen, was ihm noch blieb. Er und Tris würden davonlaufen, vielleicht nach London gehen und einen von Mutters Freunden aufsuchen. Vielleicht könnten sie sogar jemand finden, der ihr half. Jemand, dem sie mehr am Herzen lag als ihrem Vater.
Der Gedanke an den Earl grub sich glühend in seinen Magen. Er hasste seinen Vater. Hasste ihn so sehr, dass es ihm nicht einmal gereicht hätte, den alten Mann tot zu sehen. Eines Tages würde er seinen Vater umbringen für all das, was er ihm und Tristan angetan hatte. Und für das, was er für Mutter nicht getan hatte. Da saß der alte Mann inmitten seiner Privilegien, seiner Güter, seines Vermögens und wollte sich nicht die Mühe machen, sich um jemanden zu kümmern, der nicht unmittelbar in seiner Gunst stand. Nicht einmal um Mutter, die doch einmal so furchtbar verliebt in den Mann gewesen war.
Der Gedanke an seine Mutter weckte neue Schatten. Es lag nun fast ein halbes Jahr zurück, dass sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und ohne Erklärung ins Gefängnis geworfen worden war. Wochenlang wollte ihnen niemand sagen, warum man sie verhaftet hatte. Als Christian schließlich mithörte, wie der Butler der Haushälterin erklärte, dass Mutter des Verrats angeklagt war, hatte er gedacht, er hätte sich verhört. Doch dem war nicht so.
Selbst jetzt kam ihm dieser Tag wie ein furchtbarer Albtraum vor. Mrs. Felts, die Haushälterin, hatte geweint, und Butler Melton hatte bleich und grimmig ausgesehen. Die Knaben hatten es natürlich nicht verstanden. Sie wussten nur das, was Mr. Brooks ihnen erzählte: dass ihre Mutter weg sei, eines Tages aber zurückkommen werde. Dass man die Anklage anfechten, Einwände erheben könne. Doch die Zeit ging ins Land, und die Knaben hörten immer seltener diese tröstenden Worte. Mittlerweile wurde darüber überhaupt nicht mehr gesprochen.
Direkt nach der Verhaftung ihrer Mutter stellte der Earl die Zahlungen ein. Sie erhielten keinen einzigen Penny mehr. Die Dienstboten waren einer nach dem anderen gegangen, bis am Ende nur noch Mr. Brooks übrig geblieben war.
Eines Tages war ein ernster, stämmiger Mann zu ihnen gekommen und hatte ein Schild über die Tür genagelt, auf dem zu lesen stand, dass das Anwesen wegen Zahlungsrückständen an die Bank rückübereignet werde.
Christian wusste nicht genau, was „rückübereignen“ bedeutete, doch kurz darauf packte Brooks alles Silber im Haus auf einen Karren, und dann machten sie sich auf den Weg. Das Familiensilber hielt nicht lange vor. Im Lauf der Wochen sank ihre Lebensqualität immer weiter ab. Sie stiegen nicht mehr in den Gasthöfen in der Mitte des Ortes ab, sondern am Rand. Dort, wo es feucht und schmutzig war und man mit einem Strohsack vorliebnehmen musste. Oder mit dem blanken Boden.
Inzwischen waren sie bei den letzten beiden Silberleuchtern angelangt. Christian fragte sich, was werden sollte, wenn auch die verkauft waren. Was sollten sie dann tun? Noch wichtiger, was würde Brooks tun?
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Schau nicht so“, sagte Tristan. „Mir fällt schon etwas ein.“
Christian wandte sich zu seinem Bruder um. „Hoffentlich.“
Tristan drückte ihm die Schulter, fest entschlossen, alles in Ordnung zu bringen. „Wir kommen schon zurecht. Wart nur mal ab.“
Christian schob sich das Haar aus den Augen. Das Licht fiel auf sein Gesicht, die schmutzige Spitze an seinem Hals und den abgetragenen Samtrock. „Tristan, es gibt da etwas, was du wissen solltest. Gestern auf der Stiege hab ich belauscht, wie Brooks mit einem Mann sprach. Über uns.“
Tristans Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. „Was hat er gesagt?“
„Brooks schuldet dem Mann eine Menge Geld. Der Mann wollte wissen, ob wir kräftig sind. Tristan, er hat gesagt... “, Christian schluckte und riss sich dann sichtlich zusammen, „...er hat gesagt, die letzten beiden Matrosen, die er in den Dienst gepresst hat, sind noch vor dem ersten Landgang gestorben!“
Tristans Brust brannte. Er bekam kaum noch Luft. Das Leben auf See war hart und gefährlich, deswegen schickten die Schiffe oft Presspatrouillen an Land, die kräftige Männer überwältigten und an Bord schaffen sollten, damit sie dort als Matrosen dienen konnten.
Tristan wurde die Kehle eng. Hoffentlich blieben ihnen ein paar Tage, um einen Ausweg zu finden. Vielleicht könnten sie die Kerzenhalter an sich nehmen und Brooks entwischen. Ja, genau das sollten sie wohl tun ...
Tristan versteifte sich. Neben dem Lärm aus der Schankstube glaubte er noch ein anderes Geräusch vernommen zu haben. Da ... da war es wieder. Brooks kam die Stiege heraufgeschlichen, und er war nicht allein. Ihnen blieb keine Zeit mehr. „Christian! Schnell! Aus dem Fenster!“
„Was ...?“ Sein Bruder riss die Augen auf, als er Brooks’ Stimme vernahm. Christian fuhr zum Fenster herum und begann aufgeregt am Riegel zu zerren.
Tristan griff zum einzigen und noch dazu wackligen Stuhl im Raum und schob ihn unter den Türknauf. Mehr konnte er nicht tun.
Laut knarrend gab der Fensterriegel nach. Christian schob das Fenster nach oben und beugte sich hinaus. „Tris, da geht es aber ganz schön weit runter ... “
Die Tür klapperte. Brooks’ Stimme erhob sich vor Zorn. „Verdammt! Aufmachen!“
Tristan lief zum Bett und zog ein kleines rotes Bündel hervor. Die Kerzenleuchter klapperten. Noch lauter klapperte die Tür. Am lautesten war Brooks’ Stimme. „Macht die verdammte Tür auf, sonst prügele ich euch windelweich!“
Eine andere Stimme sagte leise etwas, und Brooks stimmte zu: „Das könnte gehen.“
Tristan packte das Bündel und rannte zu Christian. „Hier. “ Er drückte es seinem Bruder in die Hand. „Nimm.“
„Tris, wir sind im ersten Stock.“
„Uns bleibt nichts anderes übrig. Ich komm gleich nach ... “
Die Tür flog auf. Mr. Brooks stürmte herein, mit zerknitterter Krawatte und wildem Blick. Hinter ihm stand ein großer, ausgemergelter Kerl mit alkoholgeröteten Augen.
Panik überkam Tristan. Ohne nachzudenken, wirbelte er herum und schubste seinen Bruder aus dem Fenster. Der umklammerte im Fallen krampfhaft die Kerzenständer. Ein Schrei hallte durch die Nacht.
„Mein Gott!“, rief Brooks und machte einen Satz nach vom. Sein Gesicht war bleich.
Tristan wollte ebenfalls zum Fenster hinaus, doch Brooks’ Begleiter war schneller. „Du verflixtes Balg!“, schrie der Mann. Er ergriff Tristan und zog ihn grob ins Zimmer zurück.
Tristan schlug um sich, erwischte den Mann am Schienbein.
„Du ... du ... das lässt Jack Danter sich von keinem gefallen!“
Der Mann packte Tristan noch fester, bis der beinah keine Luft mehr bekam.
„Vorsichtig, Danter!“, rief Brooks. Er sah ganz krank aus. „Du ... du hast versprochen, dass ihnen nichts passiert.“
„Hör auf zu jammern, und hol mir den anderen!“, fuhr Danter ihn an und fletschte die gelben Zähne. „Um den da kümmer ich mich schon. “
Der Hauslehrer schluckte. „Ich glaube nicht, dass ich ...“
„Dann gib mir das Moos, das du mir schuldest!“ Danter machte schmale Augen und verstärkte nochmals den Griff um Tristans Mitte.
Der Junge rang nach Atem. Seine Brust brannte, sein Blick war verschwommen. Lauf, Christian! Bring dich in Sicherheit, dachte er immer wieder beschwörend.
Brooks sah Tristan an. In seinen Augen lag ein unsagbar trauriger Ausdruck. Einen Moment glaubte Tristan schon, sein Hauslehrer käme ihm doch noch zu Hilfe. Aber stattdessen sank der Mann in sich zusammen, wandte sich ab und stahl sich zur Tür hinaus.
Heller Zorn loderte in Tristan auf. Er atmete tief durch und riss sich von Danter los. „Christian! LAUF!“
Danter packte Tristan an der Kehle und holte mit der Faust aus. Sein Gesicht war wutverzerrt.
Wie im Traum sah Tristan die Faust auf sich zukommen. Er konnte nichts tun. Er war verloren. Er konnte nur noch hoffen, dass Christian es geschafft hatte, dass sein einziger Bruder nicht in den Tod gestürzt war, als er ihn aus dem Fenster gestoßen hatte.
Dies war sein letzter Gedanke, ehe die Faust an seine Schläfe krachte und alles um ihn in Dunkelheit versank.