8. KAPITEL
Immer recht zu behalten kann eine heikle Angelegenheit sein. Ein kluger Butler wird wissen, wie er diese bittere Pille möglichst schonend verabreicht. Zumindest im entscheidenden Moment.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Tristan stützte sich am Fensterrahmen ab und blickte hinaus auf die Terrasse. Der Wind zauste die Büsche, und die Hecken streiften den rasch dunkler werdenden Himmel über den Klippen dahinter. Am Rand des Blickfeldes war die Scheune gerade noch zu sehen.
Die Scheune ...
Tristan musterte sie finster. Wenn er auch nur ein bisschen hätte hexen können, hätte er das verdammte Ding samt Inhalt aus seinem Gesichtskreis verbannt - und mit ihm das Dilemma, vor dem er jetzt stand. Er wollte das Kapital. Je mehr er darüber nachdachte, was er mit dem Geld alles bewirken konnte, desto unmöglicher kam es ihm vor, dieser Gelegenheit den Rücken zu kehren.
Das war mal wieder typisch für seinen wunderbaren Vater, das Leben so elend ungerecht zu machen. Darüber lachte er sich vermutlich noch im Grab ins Fäustchen.
Bei dem Gedanken kam ihm die Galle hoch, und er verwünschte die Gebeine seines Vaters. Er wandte sich vom Fenster ab. „Ich würde lieber Kohle schaufeln, als mich vor einer Meute zimperlicher Blaublütiger zu erniedrigen.“ Sie waren vom selben Schlag wie der alte Earl, der Mann, der seiner Mutter vor so vielen Jahren nicht geholfen hatte, der sie in einem feuchten, kalten Gefängnis dahinsiechen ließ. Er wusste noch, wie er vom Tod seiner Mutter erfahren hatte - zwei Jahre nachdem sie gestorben war. Die Wunde war immer noch frisch, der Schmerz noch genauso real.
Zorn überkam ihn. Er hatte schon so viel verloren. Seinen Bruder. Dann seine Mutter. Und jetzt den Vater, den er ohnehin nie gehabt hatte.
Tristan ballte die Hand am Fensterrahmen zur Faust und stützte sich mit der Stirn darauf ab. Zur Hölle mit dem Earl. Er wollte nicht mehr an ihn denken. Es gab wichtigere Themen, zum Beispiel Christian. Tristan hatte so viele Jahre nach seinem Bruder gesucht. Nun hatte er endlich die Möglichkeit, ihn zu finden. Alles, was er brauchte, waren Reeves’ Informationen und ein wenig Zeit.
Er rieb sich über das Kinn. Das Kratzen seiner Bartstoppeln kam ihm dabei selbst ziemlich laut vor. Als Prudence hinausgerauscht war, hatte er an ihrem Kinn noch eine gerötete Stelle entdeckt, die weniger mit Verlegenheit als mit seinem Bart zu tun gehabt hatte. Wenn die verführerische Dame ab jetzt häufiger zu Besuch kam, würde er sich wohl öfter rasieren müssen.
Prudence. Auch wenn ihm das Herz schwer war, lächelte er. Der Name passte zu ihr. Prudentia. Die Umsichtige. Die Erinnerung an den Kuss blieb, seine Unterlippe kribbelte, als könnte er ihre Berührung noch spüren. Die Umarmung hatte sie ziemlich aus der Bahn geworfen. Er musste einräumen, dass es ihm Spaß machte, sie so aufgescheucht zu erleben.
So von seinen Küssen gezeichnet, sah sie weitaus anziehender aus. Anziehender und ... Er spitzte die Lippen und überlegte, wie genau sie ausgesehen hatte, als er sie endlich freigab. Um ehrlich zu sein, ziemlich liederlich. Diese Frau hatte Feuer im Herzen. Feuer und ein sinnliches Wesen, das nur darauf wartete, befreit zu werden.
Bloß schade, dass sie nun einmal eine Frau zum Heiraten war. Wenn sie zu denen gehört hätte, die mit ihren Reizen freizügiger umgingen, hätte er sich vielleicht eher bemüht, sich mit ihr gut zu stellen. Beziehungsweise gut zu legen.
Prudence war schön, feurig, klug und freimütig. Kurz gesagt, genau die Art Frau, die er mied wie der Teufel das Weihwasser. Die Vorstellung, eine eigene Familie zu gründen, war ihm widerwärtig. Er war ein ruheloser Mann, ein Seemann. Immer nur an einem Ort zu bleiben behagte ihm nicht, deswegen war seine Verletzung ja auch eine so schlimme Prüfung für ihn.
Allein der Gedanke, an ein Haus - ein Heim - gefesselt zu sein, war ihm unangenehm, weswegen er sich auch nicht an der Invasion seiner Männer störte. Er hätte das verflixte Cottage ja kaufen können, doch er betrachtete es nicht als Heim. Seit er an Bord des Schiffes gepresst wurde, war keiner der Orte, an denen er sein Haupt zum Schlaf gebettet hatte, ein Heim für ihn gewesen.
Deswegen konnte eine Beziehung mit einer Frau wie Prudence nur zu Herzeleid führen. Sie war eine Frau, die ein Heim schuf, wo immer sie sich aufhielt. Es wäre ihr nicht recht, von einem Kontinent zum nächsten zu ziehen, was Tristan fest vorhatte, sobald seine Männer versorgt waren. Sie würde ein Haus mit Vorhängen und einem Garten wollen und einen Ehemann, der es genoss, Abend für Abend am Feuer zu sitzen.
Er war nicht im Geringsten interessiert daran, in den Hafen der Ehe einzulaufen. Nicht in diesem Leben. Er hatte schon zu viel um die Ohren, seine Mannschaft versorgen, seinen Bruder finden. Außerdem war er fast sein ganzes Leben lang auf sich gestellt gewesen, und so schlimm war das gar nicht. Eigentlich hatte er seit ... Christian niemanden mehr gehabt, der zu ihm gehörte.
Ein merkwürdiger Stich fuhr Tristan durchs Herz. Wie ging es seinem Bruder? Waren die Jahre freundlich zu ihm gewesen? Oder nicht? Diese Fragen hatten ihn so lange gequält, bis er irgendwann einmal aufgehört hatte, sie zu stellen, weil er es nicht mehr ertrug. Er hatte einfach die Suche eingestellt. Die Hoffnung aufgegeben.
Bis Reeves zu ihm gekommen war.
Tristan senkte den Blick. Er hielt seinen Stock so fest umklammert, dass seine Finger wehtaten. Es war schwer, an seinen Bruder zu denken.
Doch gleichzeitig lag damit auch eine neue Herausforderung vor ihm. Unbekannte Fahrwasser, die es zu navigieren galt. Er würde sich der Herausforderung stellen. Er würde Christian finden. Und er würde auch das Kapital von den Treuhändern erringen. Das Leben verlangte manchmal Kompromisse, die anstrengend und schwierig waren.
Er blickte zu seinem Schreibtisch. Dort lag das Testament, fast als wollte es ihn verspotten. Er hatte es gelesen, jedes einzelne Wort, und konnte immer noch nicht glauben, was dort geschrieben stand. Auch nicht, wie viel Geld der alte Earl hinterlassen hatte, nicht nur ihm, sondern auch Christian.
„Verdammt noch mal, wo ist Reeves?“ Tristan blickte zum Fenster. Er brauchte den Butler. Er sollte ihm helfen, Christian zu finden und die Treuhänder zufriedenzustellen.
Im Gegensatz zu anderen Seehelden hatte Tristan die Öffentlichkeit gemieden. Er hasste die Unaufrichtigkeit, all den Samt und die Seide, welche die kalten Herzen und selbstsüchtigen Seelen verhüllten. Nach dem, was er von einem Vater wusste, konnte er sich lebhaft vorstellen, von welchem Schlag diese „Treuhänder“ waren. Tristan hätte die Victory verwettet, dass es sich dabei um lauter eingebildete, hochtrabende Idioten handelte.
Tristan blickte zur Scheune, sah den anheimelnden Lichtschein, der durch die Ritzen in der Tür nach draußen in den dunkler werdenden Hof quoll. Er war stark in Versuchung, die kurze Strecke zu gehen und nachzusehen, wer von seinen Männern das Essen mit Reeves’ Truppe einzunehmen beschlossen hatte. Toggle wäre sicher noch da, der Mann lebte nur für seinen Magen. Und vielleicht noch ein, zwei andere. Vermutlich konnte er es ihnen nicht einmal zum Vorwurf machen, schließlich bekamen sie nicht oft derart köstliches Essen vorgesetzt.
Im Gegenteil, die Kost wurde immer schmaler, die Quartiere wurden immer enger. Wie auf einem Schiff, das weit entfernt vom Festland auf hoher See unterwegs war, wurden bei ihnen auch allmählich die Vorräte knapp. In diesem Moment lagen auf Tristans Schreibtisch ein paar säuberlich in einer Ecke aufgestapelte Rechnungen, deren Bezahlung nicht mehr lange aufgeschoben werden konnte. Seine eigenen Mittel waren schon aufs Äußerste strapaziert, und doch schien es immer noch einen weiteren Seemann zu geben, der aufgenommen werden wollte.
Tristan schüttelte den Kopf. Darüber wollte er ein andermal nachdenken. Jetzt würde er sich erst einmal den Namen der Soße merken, welche den Bootsmann so erfreut hatte. Das war doch etwas, was sich zu merken lohnte, befand er, während sein Magen knurrte. Er blickte auf die Uhr auf dem Kaminsims.
Verdammt, es war beinah sechs Uhr. Wo blieb das Dinner, zum Kuckuck? Um diese Uhrzeit hätte der Koch die Rationen normalerweise längst auf den Tisch gebracht.
Tristan hinkte zur Tür und öffnete. „Stevens! “ Von draußen kam nur eine merkwürdige Stille. In Tristans Ohren klang es fast so, als wäre er allein im Haus.
Das war merkwürdig. Im ganzen letzten Jahr war das nur höchst selten geschehen. Tristan ging den Flur hinunter. Die seltsame Stille schien noch anzuschwellen. Waren denn all seine Männer in der Scheune? Und was war mit seinem Abendessen?
Leise vor sich hin knurrend, nahm er den Mantel vom Haken und zog ihn an. Dann ging er nach draußen. Aus der Scheune drang ohrenbetäubender Lärm.
Tristan öffnete das Tor und blieb stocksteif stehen, als er sah, welcher Anblick sich ihm bot. Der Raum hatte schon zuvor verändert gewirkt, doch nun war er wie verwandelt. Die ganze Scheune war makellos sauber, der lange, schmale Tisch in der Mitte von einer schneeweißen Tischdecke bedeckt und mit blinkendem Tafelsilber und blitzendem Porzellan eingedeckt. Große silberne Kerzenhalter und in regelmäßigen Abständen platzierte Suppenterrinen zierten die Mitte.
Was ihn aber mehr erstaunte als alle Herrlichkeiten war der Umstand, dass wirklich all seine Männer hier saßen. Sogar Stevens, der fast wie ein König am Kopfende der Tafel thronte und mit seliger Miene die ausgebreiteten Köstlichkeiten begutachtete.
Teufel noch mal. Seine gesamte Mannschaft hatte das Schiff verlassen. Der Anblick versetzte ihm einen kleinen Stich.
„Mylord?“, wurde hinter ihm leise gefragt. Tristan drehte sich um und sah sich Reeves gegenüber, der neben sich einen kleinen Mann mit sehr großem, sehr schwarzem Schnurrbart stehen hatte.
Reeves verbeugte sich. „Mylord, gestatten Sie, dass ich Ihnen den Küchenchef vorstelle, Signore Pietra.“
„Pietra? Das ist doch Italienisch.“
„In der Tat, Mylord. Ihr Vater ...
„Ich habe Sie gebeten, ihn nicht so zu nennen.“
Reeves zögerte. „Wie Sie wünschen, Mylord. Nun, der kürzlich verstorbene Earl engagierte vor Jahren einen französischen Koch. Bald tat es ihm jeder nach. Daher importierte er letztes Jahr Pietra. Der Mann ist ein Genie.“
Der winzige Küchenmeister sah einem Frosch mit Kochmütze erstaunlich ähnlich. Er platzte schier vor Entzücken. „Ah, danke, Signor Reeves. Mylord, Reeves ist das Genie. Als ich erst hier komme, ich habe gesagt, dass ich nicht kann kochen in dieser Scheune. Das gebe es ja noch nie! Aber Reeves, er lädt die Wagen aus, und da sehe ich eine Herd, wie ich noch nie eine Herd gesehen habe! Tische, genau wie ich sie brauche! Und meine besten Töpfe. Also es war doch nicht so schwierig. “
Reeves wirkte erfreut. Er blickte zu Tristan und flüsterte ihm zu: „Es ist ein neuer Herd von Gunner & Alberston. Ein ganz neues Modell!“
„Verstehe“, meinte Tristan, obwohl er offensichtlich keine Ahnung hatte.
Der Koch nickte. „Ich werde für Sie kochen, Mylord!“ Er drehte sich auf dem Absatz um und schrie: „Nico! Stelle noch eine Teller für Seine Lordschaft hin, presto! “
Tristan hielt die Hand hoch, um den Mann aufzuhalten, doch es war zu spät. Schon eilten zwei mit Gläsern beladene livrierte Dienstboten zum Tisch.
Reeves lächelte sanft. „Man kann den Lauf der Welt nicht aufhalten. “
„Ich versuche ja auch nicht, den Lauf der Welt aufzuhalten, sondern nur den Ihren. Und wenn wir schon beim Thema sind ... “ Tristan warf dem Butler einen strengen Blick zu. „Sie wollten mir doch alle Informationen geben, die Sie zu meinem Bruder zusammengetragen haben.“
Reeves’Miene wurde augenblicklich nüchtern. „In der Tat. Mr. Dunstead hat mir jedoch geraten, noch abzuwarten. Just an diesem Nachmittag hat er Nachrichten erhalten, die ihn möglicherweise direkt zu Ihrem Bruder führen. Der Anwalt ist heute Nachmittag aufgebrochen, um der Spur nachzugehen. Er plant, in ein, zwei Tagen zurückzukehren.“
Tristans Herz tat einen Satz. „In ein, zwei Tagen? Dann ist mein Bruder ganz in der Nähe?“
„Es wäre möglich, Mylord. Ich weiß nicht genau, was Dunstead herausgefunden hat, aber er hat unbedingt darauf bestanden, diesen Informationen sofort nachzugehen. Und das hat er gemacht.“
Tristan wusste nicht, was er sagen sollte. Er sah den Butler nur ausdruckslos an, während er innerlich vollkommen in Aufruhr war.
Reeves räusperte sich und wandte diskret den Blick ab. „Ich denke, das Essen wird Ihnen Zusagen. Der Duke of Cumberland und die Duchesse of Berkley haben beide erklärt, sie wollten sich die Dienste Ihres Küchenmeisters sichern. Es gibt kein größeres Kompliment, als wenn andere das begehren, was man besitzt.“
„So sagt man.“ Tristan atmete tief durch. Bei dem köstlichen Duft lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Und seine Männer hatte er auch noch nie so ruhig und konzentriert bei der Sache gesehen. Er sah sie genauer an. Irgendetwas war anders ... es lag nicht nur an ihrem Verhalten, obwohl sie so merkwürdig still waren. „Meine Männer ...“
„Ja?“
Tristan richtete sich auf. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte er es nicht geglaubt: Jeder seiner Männer trug einen neuen Rock. Selbst Stevens, der am Kopfende der langen Tafel wichtigtuerisch den Vorsitz führte, prunkte mit einem wunderbaren schwarzen Rock mit roter und goldener Litze.
Reeves strahlte. „Da ich nicht wusste, welche Kapazitäten Ihr Haushalt aufweist, und mir klar war, dass zum Nähen kaum Zeit sein würde, habe ich eine Sammlung alter Livreen mitgebracht. Ich habe Ihren Männern mitgeteilt, dass sie sich einen der Röcke aussuchen müssten, wenn ihnen hier serviert werden sollte.“
„Teufel noch mal.“ Mehr fiel Tristan dazu nicht ein. Er bemerkte natürlich die stillvergnügte gute Laune, die von den vor ihm versammelten Männern ausging. Trotz seiner Vorbehalte musste er selbst lächeln. In letzter Zeit hatten die Männer so wenig Anlass zur Freude gehabt. Das war ein weiterer Grund, warum er versuchen wollte, die Erbschaft zu erringen.
Tristan verschränkte die Arme vor der Brust. Er wusste, was er jetzt sagen musste, doch die Worte steckten ihm in der Kehle fest. „Reeves?“
„Ja, Mylord?“
„Ich habe meine Haltung zur Erbschaft noch einmal überdacht. Es hat sich etwas ergeben, für das ich dringend finanzielle Mittel benötige. Wenn es mir gelingt - also, wenn ich die Treuhänder davon überzeugen kann, dass ich ein würdiger Nachfolger des Earls bin -, dann bekomme ich Zugang zu dem ganzen Vermögen, nicht wahr?“
„Ja.“
Tristan blickte auf seine Männer. Ein spontaner Ausbruch von Gelächter am Tisch bestärkte ihn in seiner Entschlossenheit. „Dann mache ich es.“ Er verzog den Mund. „Ich hatte keine Ahnung, dass der alte Hund so reich war. Dass er wohlhabend war, wusste ich, aber die Summen, von denen im Testament die Rede ist ... ich war wirklich überrascht. Man möchte meinen, dass er ein paar Pennys hätte erübrigen können, als man ihn um Beistand bat.“ Zum Beispiel damals, als Tristans Mutter im Gefängnis schmachtete.
In Reeves’ Miene zeigte sich Verständnis. „Ihr Vater ... Verzeihung, Mylord. Der verstorbene Earl. Er war ein widersprüchlicher Mensch, merkwürdig großzügig jenen gegenüber, die für ihn arbeiteten, seinen eigenen Verwandten gegenüber jedoch ziemlich geizig.“
„Er war ein selbstsüchtiger Hund.“
„Ja, das war er. Er hat aber auch immer sehr bedauert, dass er Ihnen nicht zu Hilfe kommen konnte, als Sie ihn darum baten.“
„Nicht konnte?“
„Er war zu der Zeit außer Landes und bekam die Nachricht von der misslichen Lage Ihrer Mutter erst, als es bereits zu spät war. Der Earl war über die Ereignisse sehr bekümmert.“
Tristan biss die Zähne zusammen. „Ich werde Ihnen nicht erzählen, was ich wegen der Geschichte mit meiner Mutter durchgemacht habe. Und wie sehr Christian gelitten hat, weiß ich noch gar nicht, aber das alles hätte überhaupt nicht zu passieren brauchen.“ Tristan hasste die Bitterkeit in seiner Stimme, nur war er machtlos dagegen. „Mein Vater hat sich kein bisschen um uns gekümmert. Hätte er es getan, dann hätte er rechtzeitig erfahren, dass etwas nicht in Ordnung war.“
Glücklicherweise versuchte Reeves ihm nicht einzureden, dass dies nicht stimmte. Der Butler nickte nur. Auf seinem Gesicht zeigte sich Verständnis.
„Doch das soll meiner Bewerbung um das Vermögen nicht im Weg stehen“, erklärte Tristan schließlich. Er umfasste seinen Stock fester und stützte sich darauf, als ihm ein dumpfer Schmerz durch das Bein schoss. Er war viel zu viel auf den Beinen, morgen würde er dafür teuer bezahlen müssen. „Wo fangen wir an? Was genau muss ich tun, um die Gunst der Stutzer zu erringen, die mein Vater zu Treuhändern ernannt hat?“
Ein widerstrebendes Lächeln spielte um den Mund des Butlers. „Woher wollen Sie denn wissen, dass es Stutzer sind?“
Tristan sah Reeves an. „Nach dem wenigen, was ich über meinen Vater weiß, war ihm die Mode wichtiger als alles andere auf dieser Welt.“
„Ah, ich verstehe, wie Sie darauf kommen, und Sie haben auch recht: Die Treuhänder zeichnen sich nicht unbedingt durch ihre überragende Intelligenz aus. Ihnen wird es mehr um Ihr Benehmen als um Ihren Charakter gehen.“
„Habe ich es mir doch gedacht.“
Der Butler schürzte die Lippen. „Vielleicht könnten Sie in Erwägung ziehen, ein paar Stunden Benimmunterricht zu nehmen, und eine neue Garderobe würde sich ebenfalls anbieten. Das Übliche eben, was ein Mann braucht, wenn er einen fashionablen Haushalt gründet.“
Was für eine Zeitverschwendung. „Schade, dass ich mich nicht in diesem verfluchten Seminar anmelden kann, das Mrs. Thistlewaite gründen möchte. Vermutlich kennt sie sich mit all diesem Unsinn bestens aus!“
Reeves hob langsam die Brauen. „Was sagen Sie da, Mylord?“
„Ich sagte, schade, dass ich mich nicht ...“ Tristan entdeckte das Funkeln in den Augen des Butlers. „Nein, daran dürfen Sie nicht einmal denken! Ich habe doch nur Spaß gemacht.“
„Mylord, vielleicht verstehen Sie nicht ganz. Uns bleibt nur noch ein Monat Zeit, ehe die Treuhänder kommen, um Sie zu begutachten. Stevens hat mir bereits von Mrs. Thistlewaite und ihren Plänen erzählt. Es könnte genau das Richtige sein ... genau das Richtige.“
Die ganze Idee war grotesk. „Mrs. Thistlewaite als Benimmlehrerin zu engagieren ist ja wohl..."
„Als Benimmlehrerin! Ja, das wäre genau das Richtige. Eine hervorragende Idee!“, meinte Reeves und nickte. Seine Miene wurde immer lebhafter. „Mrs. Thistlewaite könnte Ihnen da tatsächlich eine Hilfe sein, gegen ein kleines Honorar natürlich. Für Sie wäre es genau richtig, und ich hätte dann Zeit, mich der Schulung Ihrer Männer zu widmen. Ein Mann steht und fällt mit der Qualität seiner Dienstboten.“
Tristan tat schon den Mund auf, um Einwände zu erheben, als ihm ein kleiner, interessanter Gedanke durch den Kopf schoss. Wenn er sich zu dem geplanten Unterricht bereit erklärte, wäre die köstliche Prudence in seinem Haus.
Allein mit ihm.
Stundenlang.
Er grinste über das ganze Gesicht. Vielleicht wäre es doch nicht so unangenehm, zu lernen, sich wie ein Earl zu benehmen, wenn dabei eine so reizende junge Frau in seiner Nähe weilte. Und so konnte er dann auch aus vollem Herzen erklären: „Reeves, Sie sind ein Genie.“
Reeves lächelte bereits. „Vielen Dank, Mylord. Ich bemühe mich nach Kräften. “
Prudence nahm den Nähkorb auf ihren Schoß und begann nach rotem Stopfgarn zu suchen. Eines Tages würde sie in ihrem Korb einmal gründlich Ordnung schaffen, ganz bestimmt. Würde sie all die Garne nach Farben sortieren und auf Kärtchen wickeln und die lose herumfliegenden Flicken in einem ordentlichen Beutel verstauen. Vielleicht würde sie sogar die Stecknadeln in das dafür vorgesehene Nadelkissen stecken, statt sie in dem unvollendeten Hemdenmodell von letztem Jahr zu belassen.
Sie zog ein paar Wollstrümpfe heraus und betrachtete das Loch im großen Zeh. „Verflixtes Ding“, schimpfte sie und fragte sich, ob das violette Stopfgarn einigermaßen zu der roten Sockenwolle passen könnte, nachdem ihr das rote Garn anscheinend abhandengekommen war.
Zwar war es unbefriedigend, sich einen bereits mehrfach gestopften Strumpf noch einmal vorzunehmen, doch ihr blieb keine andere Wahl. Ihre finanziellen Mittel waren bald erschöpft. Wenn sie nicht schnell ein paar Schülerinnen bekamen, würden sie etwas von ihrem kostbaren Mobiliar veräußern müssen.
Seufzend beugte sich Prudence über ihre Arbeit und reparierte den Strumpf, so gut sie konnte.
Die Tür ging auf, und ihre Mutter kam hereingeeilt, eine Hand am Spitzenhäubchen, damit es nicht verloren ging. Ihre Augen leuchteten auf, als sie ihre Tochter entdeckte. „Prudence! Draußen ist ein Mann, der dich besuchen möchte.“ Der Captain. Prudence sprang auf, wobei ihr Nähkörbchen zu Boden fiel. „Der Captain ist hier? Jetzt?“
„Nein, nein! Es ist nicht der Captain. Der hier ist älter. Sehr distinguiert.“ Ihre Mutter reckte den Hals und sah den Flur hinunter, wobei sie in lautem Bühnenflüstern hinzufügte: „Ich frage mich, ob er wohl von Adel ist. Er wirkt so vornehm, aber ich habe ihn noch nie gesehen. “
Ein Adeliger? Prudence wurde übel. Sie erinnerte sich noch gut an damals, als die Herren, die in Phillips Unternehmung investiert hatten, sie persönlich zu Hause aufsuchten, einer nach dem anderen. Manche waren zornig gewesen. Andere traurig. Am schlimmstem aber waren die Verzweifelten gewesen. Sie hatten ihr gesamtes Vermögen in Phillips Hände gelegt und wollten nun, dass ihnen jemand - irgendjemand -versicherte, dass sie ihr Geld zurückbekommen würden.
Prudence hatte damals noch unter Schock gestanden wegen Phillips Krankheit. Sie hatte nicht gewusst, wohin sie sich wenden sollte. Die Unterredungen waren quälend gewesen, aber nicht so quälend wie Phillips Tod und der darauf folgende Skandal. Sie schob die unwillkommenen Gedanken beiseite und strich sich mechanisch den Rock glatt.
Ihre Mutter stellte sich neben dem Sofa auf, das Prudences Sessel gegenüberstand.
Mrs. Fieldings betrat das Zimmer, hinter sich den Gentleman. Die Haushälterin wirkte beeindruckt. „Mr. Reeves, Madam.“
Der Herr war groß und schlank und trug einen makellosen schwarzen Rock und ein schlichtes Krawattentuch. Seine Augen funkelten lebhaft, und sein dunkles Haar wies über beiden Ohren eine graue Strähne auf. Er verbeugte sich. „Madam, mein Name ist Reeves. Ich bin der Butler des Earl of Rochester. “
Prudence verharrte mitten im Knicks. „Des Earl of Rochester?“
„In der Tat.“
Prudence wusste nicht, was sie sagen sollte. Mit etwas Verspätung deutete sie auf ihre Mutter. „Das ist meine Mutter, Mrs. Crumpton.“
Ihre Mutter knickste. „Mr. Reeves! Butler des Earl of Rochester! Wie aufregend! Ich wusste gar nicht, dass hier in der Gegend ein Earl lebt.“
„Mutter, ich glaube, Mr. Reeves bezieht sich auf den Captain.“
Mrs. Crumpton riss die Augen auf. „Den Captain? Er ist ein Earl? Ein echter Earl?“
Reeves nickte gemessen. „In der Tat, Madam. Er hat den Titel erst diese Woche geerbt. Deswegen bin ich hier.“ Er wandte sich an Prudence, den Blick auf den Boden bei ihren Füßen gerichtet. „Hoffentlich störe ich Sie nicht beim Nähen.“
„Beim Ihr Nähkorb lag vor ihren Füßen. Herrje. Den hatte sie ja vollkommen vergessen. „Ich war gerade fertig.“ Sie bückte sich und schob eilig den verstreuten Inhalt in den Korb zurück.
Gelassen kam Reeves ihr dabei zu Hilfe. Während sie nach Stopfgarnen suchten, erklärte er: „Madam, mein Besuch ist geschäftlicher Natur.“ Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. „Der Earl ist in einer Zwangslage. Um Kontrolle über sein Vermögen zu erlangen, muss er von einem Treuhänderausschuss gebilligt werden. Sie werden einen distinguierten, vornehmen Mann erwarten, und wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden, geben sie die Mittel nicht frei. Sie sind dem Captain begegnet. Er mag sich im Krieg ausgezeichnet haben, doch seine Manieren müssten ein wenig aufpoliert werden. Ich glaube, hier kommen Sie ins Spiel.“ „Sie wollen, dass ich diesen ... den Captain unterrichte?“ Er stand auf, half ihr ebenfalls auf die Füße und stellte den Korb auf ein Tischchen. „Ja, Madam.“
Ihre Mutter klatschte in die Hände.
Prudence warf ihr einen finsteren Blick zu. Wirklich, der Captain mochte sie doch noch nicht einmal. Nun ja, küssen mochte er sie schon, das zumindest war offensichtlich. Wenn Prudence ehrlich war, hatte sie es ja ebenfalls genossen. Ziemlich sogar. Ihre Wangen wurden heiß. Es wäre keine gute Idee, Zeit mit dem Captain - beziehungsweise dem Earl natürlich - zu verbringen. „Mr. Reeves, ich fürchte, ich kann Ihrer Bitte nicht entsprechen. Ich habe viel zu tun, und ... “ „Unsinn“, erklärte ihre Mutter entschieden. Sie sah zum Butler. „Prudence würde Ihnen sehr gern helfen.“
„Aber Mutter ...“
„Prudence, der Mann ist ein Earl, meine Güte! Wie kannst du ihm seine Bitte da abschlagen?“
„Ganz leicht. Mr. Reeves, ich fürchte, es ist unmöglich. Ich glaube nicht, dass ich ...“
„Natürlich erhalten Sie für Ihre Mühe eine hübsche Entschädigung. “
Mrs. Crumptons Augen glänzten. „Wie viel?“
„Mutter! “
„Du solltest deine Dienste nicht unter Wert verkaufen“, meinte ihre Mutter ruhig. Sie hob die Brauen und blickte den Butler fragend an. „Oder was meinen Sie?“
„Das sollte sie tatsächlich nicht“, stimmte er formvollendet wie immer zu. „Der Earl ist bereit, sich großzügig zu zeigen.“
„Er weiß davon?“, fragte Prudence misstrauisch.
„Es war seine Idee“, erwiderte Reeves sanft.
„Oh.“
„Er ist bereit, für den einen Monat bis zu hundert Pfund zu zahlen.“
Das war ein Vermögen. Prudence räusperte sich. „Also. Das ist wirklich sehr großzügig. Allerdings gibt es da ein kleines Problem ... Mr. Reeves, der Captain kann mich nicht leiden.“ Er begehrte sie - und jede andere Frau, die ihm in die Arme fallen würde. Aber von anderen Gefühlen - etwa Zuneigung oder Respekt - war nie die Rede gewesen. Was, so befand sie ein wenig reumütig, doch sehr schade war.
Reeves lächelte entschuldigend. „Mir sind bisher noch nicht viele Menschen über den Weg gelaufen, für die der Captain Zuneigung empfindet.“
„Seine Männer muss er doch mögen, schließlich lässt er sie bei sich wohnen.“
„Sie haben recht, für sie empfindet er tatsächlich etwas. Sehr viel sogar, glaube ich. Aber er zeigt ihnen diese Gefühle nicht. Er ist eben ein reizbarer Mann. Doch sie kennen und lieben ihn, und daher scheinen sie alle ganz glücklich mit dem gegenwärtigen Zustand.“
„Ich wäre das nicht.“
„Nein, Madam. Glücklicherweise geht es bei dem, worum ich Sie bitte, nicht um Zuneigung. Ich möchte Sie nur als Lehrerin für Seine Lordschaft engagieren.“
Prudence presste zwei Finger gegen ihre Stirn. Lehrerin. Für den Captain. Den Mann, bei dem ihr kalte Schauer den Rücken herunterliefen, wenn er ihr nur mit den Fingerspitzen über den Arm strich. „Ich ... ich bin mir nicht sicher, ob ich ...“
„Ohne Ihre Hilfe wird er das Vermögen verlieren. Und seine Männer werden darunter sehr zu leiden haben“, sagte Reeves ruhig und eindringlich.
Prudence dachte an die Männer, die sie gesehen hatte, viele von ihnen kriegsversehrt und nicht mehr in der Lage, es allein zu schaffen. „Was genau müsste ich denn tun?“
„Sie müssten dem Earl innerhalb von einem Monat die Grundbegriffe der vornehmen Welt vermitteln.“
„Einem Monat?“
„Ja. Dann werden die Treuhänder anreisen, um ihr Urteil zu fällen. Er braucht Unterricht in Tanz, Konversation, Benimm Reeves zuckte mit den Schultern. „Stellen Sie sich den Captain einfach als eine etwas zu groß geratene, linkische Debütantin vor. “
Trotz ihrer Vorbehalte musste Prudence lachen. „Ich glaube nicht, dass es ihm gefallen würde, wenn sich jemand solche Vorstellungen von ihm macht.“
„Nein, Madam. Deswegen verraten wir es ihm auch nicht.“ Sie betrachtete den Butler einen Augenblick. „Sie glauben, dass es manchmal notwendig ist, Geheimnisse zu haben?“ „Allerdings, Madam. Sie nicht?“
„Manchmal schon. Aber nicht beim Captain. Wenn ich ihn mir als eine zu groß geratene Debütantin vorstelle, sage ich ihm das auch. Ich persönlich glaube ja, dass seine Arroganz für eine ganze Reihe von Problemen in seinem Leben verantwortlich ist. “
„In der Tat, Madam. Allerdings ist sie auch mitverantwortlich, dass er immer noch am Leben ist. Sein Leben war nicht so einfach, wie er Sie glauben machen will.“
Das stachelte Prudences Neugier an. Der Captain hinkte, aber ansonsten wirkte er immer so stark, fähig und selbstsicher.
Reeves fügte hinzu: „Es ist durchaus möglich, dass ihm diese Arroganz den Übergang zum Earl erleichtert. Mitglieder des Adels sind nicht gerade berühmt für ihre Demut.“ Darüber lächelte sie. „Mr. Reeves, haben Sie die Erfahrung gemacht, dass alle Earls so arrogant sind?“
„Alle samt und sonders.“
„Ist das angeboren?“
„Angeborene Arroganz und die feste Überzeugung, dass Gott sie auserwählt hat. Wovon allerdings nur sie und der Schöpfer etwas wissen.“
Prudence blickte auf ihre Hände. „Ich weiß nicht. Ich ...“
„Er braucht Ihre Hilfe, Madam. Wenn ich mich nicht sehr täusche, sind seine Männer das Einzige, was ihm am Herzen liegt. Doch es sind so viele, und er kann die Kosten kaum noch tragen.“
Ihre Mutter seufzte. „Das ist wahr. Der Doktor hat mir kürzlich erst erzählt, dass ein paar dieser armen Männer verwundet wurden und man sie nicht richtig versorgt hat. Er ist mindestens einmal die Woche dort und sagt, er sollte öfter gehen, will aber die Geldbörse des Captains nicht zu sehr belasten. “
„Das ist wirklich zu freundlich von ihm“, meinte Prudence trocken. Sie sah zum Butler. „Sie glauben, der Captain will das Geld für seine Männer verwenden?“
„Dessen bin ich mir sicher.“
Sie presste die Finger aneinander und überlegte. Sie würde ordentlich verdienen, was für ihre Mutter eine rechte Beruhigung wäre. Sie würde den armen Matrosen helfen, die beim Captain lebten. Beziehungsweise dem Earl. Sie würde sich seinen Titel einprägen müssen.
Vielleicht das Beste an der Sache war, dass sie Gelegenheit erhielte, den Earl ein wenig zurechtzubiegen, ihm die Grundlagen guten Benehmens beizubringen und mit anzusehen, wie er unter ihrer Leitung blühte und gedieh.
Einen Augenblick sah sie den Earl vor sich, wie er ihr auf Knien dafür dankte, dass sie ihm von seinem Irrweg abgebracht hatte.
Es war natürlich reines Wunschdenken, aber trotzdem ... die Vorstellung war sehr verführerisch.
Sie nickte einmal. „Ich werde es machen.“
Reeves lächelte. „Danke, Madam!“
„Sagen Sie ihm, dass ich morgen Mittag komme. Wenn die Treuhänder uns nur einen einzigen Monat Zeit lassen, müssen wir uns ranhalten! “