3. KAPITEL
Es obliegt dem Butler, dass sein Dienstherr der Welt ein stets makelloses und stilvolles Bild präsentiert. Ein guter Butler ruht und rastet nicht, ehe der letzte Löffel an seinem Platz liegt, die Tischwäsche ordentlich gestärkt und gebügelt ist, die Böden glänzen und der Brandy in Karaffen gefüllt ist. Unermüdlichkeit wird stets den Sieg davontragen.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Prudence marschierte nach Hause, wobei ihre schweren Stiefel laut auf dem steinübersäten Weg klapperten. Zum Henker mit dem Mann! Er war unmöglich, unverschämt, arrogant, lästig und noch Schlimmeres. Und dabei hatte sie ihn doch nur gebeten, sein blödes Schaf von ihrem Land fernzuhalten. Warum konnte er ihr diese kleine Bitte nicht einfach erfüllen?
Schlimmer noch, ihn schien ihre Forderung überhaupt nicht zu beeindrucken. Vielleicht stimmte ja tatsächlich, was er behauptete, und Schafe mussten nicht eingepfercht werden. Was natürlich das Dümmste wäre, was sie je gehört hatte. Allerdings hatte sie durch das Leben auf dem Lande schon einiges gelernt, nicht zuletzt, wie einfallslos manche Gesetze sein konnten.
Sie bog von der Straße auf den Gartenpfad ab. In der frischen Luft lag der würzige Duft von Minze. Der Wind fuhr durch die vertrockneten braunen Blätter.
Prudence ging zur Eingangstür. Sie war rot gestrichen, spiegelte ihre momentane Gefühlslage also perfekt wider. Mit finsterer Miene ergriff sie den kalten Messingknauf und drehte ihn energisch. Knarrend ging die Tür auf. Als sie eintrat, riss ihr der Wind die Tür aus der Hand und warf sie hinter ihr ins Schloss. Der Lärm hallte im ganzen Haus wider.
„Prudence?“ Ihre Mutter kam aus dem Salon geeilt, mit gerunzelter Stirn und besorgtem Blick. Mit ihren zweiundfünfzig Jahren war sie immer noch eine attraktive Frau. Sie hatte sanfte grüne Augen, und ihr weiches Haar war nur an den Schläfen grau meliert. „Prudence! Warum hast du die Tür zugeschlagen?“
Prudence band ihren Schutenhut auf und legte ihn auf dem Tischchen unter dem Haken ab, an dem sie ihren Schal aufhängte. „Der Wind hat mir die Tür aus der Hand gerissen. Hoffentlich habe ich dich nicht erschreckt.“
Ihre Mutter lächelte und strich sich den Rock glatt. Die Anspannung war aus ihrem Gesicht gewichen. „Aber nein! Ich dachte nur, dass du dich vielleicht über irgendetwas aufgeregt hast.“
„Ich? Über etwas aufgeregt? Ich bitte dich!“ Nicht, dass ihr nicht danach gewesen wäre, die Tür zuzuknallen - es hätte ihr durchaus Genugtuung verschafft. Doch sie wollte sich ihrem bloßen Ärger nicht hingeben: Das unverschämte Benehmen des Captains verlangte nach einem weitaus subtileren und raffinierteren Vorgehen. Sie musste einen großartigen Plan aushecken, der ihn ein für alle Mal vernichtete.
Die Vorstellung besänftigte sie ein wenig. Sie hängte den Mantel über den Haken und rang sich ein Lächeln ab. „Und wie war dein Vormittag, Mutter?“ Prudence ging an ihrer Mutter vorbei und betrat den Salon. „Hast du den Riss im Kleid fertig ... “
Der Mann, der in der Mitte des Raums stand, wandte sich um. Er war mittelgroß, hatte braunes Haar und blaue Augen und wirkte auf stille Art attraktiv.
Widerstrebend sank Prudence in einen Knicks. „Dr. Bar-row. Was für eine nette Überraschung.“ Sie warf ihrer Mutter einen scharfen Blick zu. Mrs. Crumpton errötete, behielt ihre unschuldige Miene aber hartnäckig bei.
„Mrs. Thistlewaite“, erklärte der Arzt und schluckte geräuschvoll. „W...wie nett, Sie zu sehen. Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um Sie, ähm ... ich wollte fragen, ob ... also, ich habe mich gefragt ..." Er warf Mrs. Crumpton einen aufgewühlten Blick zu.
„Prudence“, begann ihre Mutter ein wenig zu munter. „Dr. Barrow möchte sich erkundigen, ob du Zeit hättest, mit ihm in seiner neuen Kutsche auszufahren.“
Das Letzte, was Prudence wollte, war, mit einem Mann auszufahren, der keine zwei Sätze artikulieren konnte, ohne zu erröten. Dr. Barrow war zwar ein sehr freundlicher, sanfter Mann, doch empfand sie bei ihm längst nicht die tiefe Verbundenheit, die sie mit Phillip geteilt hatte.
Phillip. Sie sah auf ihre verschränkten Hände. Auch jetzt noch vermisste sie ihren Ehemann, drei volle Jahre nach seinem Tod. Nicht mehr so stark wie früher - es hatte Wochen, sogar Monate gegeben, in denen sie sich gefragt hatte, ob sie je wieder lächeln würde. Natürlich hatte sie wieder damit angefangen. Es hatte einfach eine gewisse Zeit gebraucht. Sehr viel Zeit. Doch jetzt konnte sie sogar an Phillip denken und sich über die Zeit freuen, die sie mit ihm hatte verbringen dürfen.
Binnen sechs atemlosen Monaten hatten sie sich kennengelernt und einander geheiratet. Sie war damals erst achtzehn gewesen und Phillip nicht viel älter, sie waren also gewissermaßen miteinander erwachsen geworden. Vielleicht war das die Grundlage ihrer Freundschaft, ihrer Liebe. Was es auch gewesen war, sie vermisste diese Nähe. Es war so herrlich, beim Frühstück über den Tisch auf die Person gegenüber zu blicken und zu wissen, dass sie sich genau am richtigen Platz befand.
Ihre Mutter wies zu dem Teetablett am Feuer. „Prudence, du kommst gerade richtig. Mrs. Fieldings hat uns vor einer Minute den Tee gebracht.“
Mrs. Fieldings war ihre Haushälterin, und eine strengere, mürrischere Frau konnte man sich nicht vorstellen. Doch beim Backen konnte ihr niemand das Wasser reichen, was der Teller neben der Teekanne eindrucksvoll unter Beweis stellte. Jedes Gebäckstück war goldbraun und locker und mit glänzendem Zuckerguss überzogen. Im Zimmer duftete es verlockend nach warmer Butter und frischer Hefe.
Prudence rang sich schließlich ein Lächeln ab. „Tee ist jetzt genau das Richtige. Ich bin wirklich ausgesprochen hungrig.“ Fragend sah sie den Arzt an. „Möchten Sie zum Tee bleiben?“
Er wurde noch röter und sah wild von einer Frau zur anderen. „Ich ... ähm ... ich muss mich jetzt wirklich auf den Weg machen.“
Prudence fragte sich, ob der Captain sich je so viel aus anderen Menschen machen würde, um zu erröten. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er stotterte, doch es gelang ihr nicht. Aber schließlich konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass er je höflich war.
Der Mann war ein grober Klotz. Zum einen lag es an seiner Größe: Er überragte alle, und seine Schultern waren so breit, dass sie aussahen, als könnte er ein Schiff ebenso leicht tragen, wie er es kommandieren konnte. Sein Beruf zeigte sich in jedem geknurrten Befehl, in jeder unhöflichen Äußerung.
Am meisten störte sie aber der Umstand, dass er so gleichgültig wirkte. Er war vollkommen zufrieden mit sich und seinen ungehobelten Manieren. Ihr fiel ein, wie er sie angesehen hatte, als sie zu ihm in den Garten getreten war -er hatte sie von Kopf bis Fuß gemustert und seinen Blick auf beunruhigende Weise auf ihr ruhen lassen. Unbehaglich rutschte sie auf dem Stuhl herum. Ihre Haut prickelte, als hätte er sie wirklich berührt.
„Ähm, Mrs. Thistlewaite, darf ich sagen, dass Sie heute gut aussehen?“
Normalerweise fand Prudence die unzusammenhängenden und faden Äußerungen des Arztes ziemlich enervierend, doch nach zwanzig Minuten in Gesellschaft eines Rüpels wie dem Captain entschied sie, dass sie die harmlose Gegenwart des Arztes durchaus zu schätzen wusste. „Sie sind zu freundlich. Hoffentlich können Sie zum Tee bleiben. Es ist so kalt draußen.“
Bedauernd blickte er zur Uhr auf dem Kaminsims und schüttelte den Kopf. „Gerade habe ich zu Ihrer Mutter gesagt, dass ich keinen Augenblick länger bleiben kann. Ich wünschte, ich könnte, aber ... die Patienten, Sie wissen schon.“
Ihre Mutter startete einen Überredungsversuch. „Das würden sie doch sicher verstehen! Ich dachte, Sie würden wenigstens bis zum Tee bleiben. Ein einziges Tässchen, ja?“ „Vielleicht nächstes Mal.“ Er verbeugte sich vor Prudence und sah sie verständnisheischend an.
Sofort lächelte sie. „Natürlich müssen Sie sich auf den Weg machen. Vielleicht besuchen Sie uns wieder einmal und können dann länger bleiben. “
Sein Lächeln blendete sie beinah. „Das wäre wunderbar. Mrs. Crumpton, Mrs. Thistlewaite.“ Er verbeugte sich vor den beiden Damen. „Es war mir ein Vergnügen.“
„Mir auch.“ Prudence machte einen Knicks und warf einen sehnsüchtigen Blick zum Teetablett. Ihr Magen knurrte so laut, dass es der Doktor sicher gehört hatte.
Es schien ihm jedoch nicht weiter aufgefallen zu sein, denn er verneigte sich erneut vor ihr und nahm dann kurz die Hand ihrer Mutter, bevor er den Raum verließ.
„Na!“, meinte ihre Mutter, als sich die Tür hinter ihm schloss.
„Allerdings.“ Prudence stand schon vor dem Tablett. „Mrs. Fieldings hat sich wieder einmal selbst übertroffen.“ Sie trug das Tablett zum Sofa und goss zwei Tassen Tee ein. „Was den Doktor wohl hergeführt haben mag?“
„Kann ich mir wirklich nicht vorstellen“, erwiderte ihre Mutter, lud Gebäck auf zwei Teller und reichte einen davon Prudence. Ihr aufmerksamer Blick ruhte auf ihrer Tochter. „Du hättest den Doktor zumindest zum Dinner bitten können.“
Prudence biss von ihrem Gebäckstück ab. „Ich wollte aber nicht, dass er zum Essen kommt. Er ist immer so unsicher, das gestaltet die Konversation ziemlich schwierig.“
„Er ist Arzt. Das zählt doch sicher auch etwas.“
„Gewiss. Wenn ich zu viel von diesen köstlichen kleinen
Kuchen esse, werde ich ihn sofort aufsuchen.“
Ihre Mutter seufzte. „Ich weiß wirklich nicht, was ich mit dir noch anfangen soll.“
„Nichts.“ Prudence aß ihr Gebäckstück auf und wischte sich die Hände an der Serviette ab. „Ich komme durchaus selbst zurecht, vielen Dank.“
„Das sehe ich.“ Ihre Mutter nahm einen Schluck Tee. „Wie lief dein Besuch beim Captain?“
„Es war schrecklich. Es hätte nur noch gefehlt, dass er mich hinauswirft.“ Und wenn es nach dem Captain gegangen wäre, wäre sie sicher auf einem ganz besonderen Körperteil gelandet.
Ihre Mutter machte ein langes Gesicht. „Das ist ja schade. Ich hatte gehofft ..." Stirnrunzelnd sah sie ihre Tochter an. „Warst du auch höflich?“
„Natürlich! Wie kannst du das nur fragen?“
„Mir ist aufgefallen, dass manchmal - nur manchmal, wohlgemerkt - das Temperament mit dir durchgeht und du jede Vernunft vergisst.“
„Mutter!“
„Tut mir leid, aber so ist es nun einmal.“
„Ich war sehr höflich. Der Captain war derjenige, der jegliche Manieren vermissen ließ. Tatsächlich ist er derart gegen alle Frauen eingenommen, dass er gesagt hat, er hoffe, wir scheitern mit unserem Vorhaben, ein Seminar einzurichten. Der Mann ist ein ganz übler, selbstsüchtiger Kerl.“
„Vielleicht hast du ihn nur in einem ungünstigen Moment erwischt“, meinte ihre Mutter vorsichtig. „Er ist schließlich ein Kriegsheld. Lucy hat mit einem seiner Männer gesprochen.“
„Mutter, du solltest nicht mit den Dienstboten klatschen.“ „Aber sie weiß doch alles über den Captain. Wie hätte ich denn sonst herausbringen sollen, dass er ein Kriegsheld ist?“ „Wir wissen doch gar nicht, ob das stimmt. Wir wissen nur, dass einer seiner Männer Lucy erzählt hat, dass der Mann ein Kriegsheld ist. Das ist durchaus nicht dasselbe.“
Ihre Mutter seufzte. „Du bist viel zu jung, um derart zynisch zu sein.“
„Und du bist viel zu alt, um so naiv zu sein, obwohl ich sagen muss, dass du nicht älter als vierzig aussiehst. Ich hoffe, dass ich auch einmal so anmutig altere.“
Ihre Mutter strahlte wie die Sonne über dem Meer. „Meinst du wirklich, dass ich aussehe wie vierzig?“
„Allmählich glaube ich, dass Dr. Barrow nur kommt, um dich zu besuchen, nicht mich.“
Das trug ihr ein lautes Kichern ein. Mrs. Crumpton machte sich daran, ihren Tee zu genießen.
Prudence nahm ihren zweiten Kuchen in Angriff. Als sie beim Captain aufbrach, war sie außer sich vor Zorn gewesen, doch als sie jetzt so vor dem Feuer saß und eine schöne Tasse Tee mit viel Zucker und einer Extraportion Sahne genoss, verrauchte ihre Wut allmählich.
Mit einem Gefühl tiefster Zufriedenheit sah sie sich in ihrem Cottage um. Hier im Salon war es warm und gemütlich, Sofa und Vorhänge waren von einem entzückenden Rot. Kissen mit Blumenmuster, ein dicker Aubussonteppich und eine Garnitur Kirschholzstühle erfüllten den Raum mit Wärme und Farbe. „Phillip hätte dieser Raum gefallen.“
Ihre Mutter, die gerade einen Schluck Tee nehmen wollte, hielt inne, und ihr Blick verdüsterte sich. „Ach Prudence. Das tut mir so leid. Wie kommst du denn jetzt auf ihn?“ „Ich denke immer an ihn“, erklärte Prudence und seufzte.
„Ich weiß.“ Die Augen ihrer Mutter füllten sich mit Tränen, und sie streckte den Arm aus und tätschelte Prudences Hand. „Ach, ich wollte manchmal, dass ... ach, nicht so wichtig.“
„Was? Du wolltest, dass ich nicht an Phillip denke?“ „Aber nein, mein Liebes, das nicht, niemals. Ich würde mir nur für dich wünschen, dass du einen anderen findest. Du hättest es verdient, glücklich zu werden.“
Prudence trank von ihrem Tee. „Ich bin doch glücklich. Sehr sogar. Bis auf die Sache mit dem Schaf.“
„Das ist wirklich ärgerlich“, erwiderte Mrs. Crumpton und warf ihrer Tochter einen verstohlenen Blick zu. „Ich frage mich nur, wie es immer wieder in den Garten kommt.“
„Wie es das Schaf auch anstellt, der Captain weigert sich rundweg, seine Tiere einzupferchen. Der Mann ist die reinste Nervensäge.“
„Findest du wirklich?“
Prudence stellte die Tasse so heftig ab, dass sie in der Untertasse klirrte. „Mutter, der Mann weigert sich nicht nur, seine Schafe einzupferchen, er droht auch, seine Hunde so abzurichten, dass sie die elenden Biester auf unseren Grund und Boden hetzen, wenn wir nicht aufhören, ihn mit dieser Angelegenheit zu belästigen. “
„Meine Güte“, sagte ihre Mutter. Sie wirkte recht elend. „Dein Gespräch ist anscheinend gar nicht gut gelaufen.“ „Nein, nicht im Mindesten. Aber ich bin noch nicht fertig mit dem Captain.“
Die Miene ihrer Mutter hellte sich auf. „Nicht?“
„Nein. Irgendwie bringe ich ihn schon dazu, auf uns zu hören. Du wirst schon sehen. “
Mrs. Crumpton wedelte mit einem Gebäckstück herum. Ihre Augen funkelten entrüstet. „Dieses alberne Schaf, bricht einfach durch die neue Hecke und frisst die ganze Minze auf! So eine Unverschämtheit!“
Prudence fingerte am Henkel ihrer Tasse herum. „Wie kommt dieses Schaf nur über das Gartentor?“
„Das ist die Frage, nicht wahr? Ob es wohl einen Weg gefunden hat, das Tor zu öffnen?“
„Und hinter sich zu schließen? Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Vielleicht würde sie am nächsten Morgen ins Dorf gehen und sich über die Schafhüteverordnungen kundig machen. Sie wusste genau, wie tief man jeweils vor einer Prinzessin, einer Duchesse, einer Countess oder einer Viscountess knicksen musste, aber von Viehhaltung hatte sie keine Ahnung.
„Wenn du weiter so finster schaust, bekommst du noch Falten auf der Stirn.“ Die sanfte Stimme ihrer Mutter hatte einen leicht entnervten Unterton. „Was kann der Mann nur gesagt haben, dass du dich so aufregst?“
Prudence nahm ihre Teetasse und starrte hinein. Eigentlich hatte der Captain nichts gesagt, womit sie nicht gerechnet hätte. Ihre Empörung rührte eher von der Art und Weise her, in der er sie angesehen hatte: Sie war sich ihrer selbst schmerzlich bewusst geworden. Genauso hatte auch Phillip sie angesehen, nur ... der Blick des Captains hatte sie verbrannt, hatte in ihr weitergeglommen. So etwas hatte sie bei Phillip nie gefühlt.
„Prudence?“
Sie sah auf und begegnete dem Blick ihrer Mutter, die sie mit erhobenen Brauen musterte. Ihr stieg die Röte in die Wangen. „Tut mir leid, Mutter. Ich habe gerade an den Captain gedacht. Er war unverschämt, das hat mich zornig gemacht.“ Das entsprach ja auch voll und ganz der Wahrheit. Vielleicht musste sie sich einfach darauf konzentrieren, wie zornig sie der Mann gemacht hatte. Ja, das war gut. Prudence stellte ihre Tasse aufs Tablett zurück. „Mutter, ich habe genug von Captain Llevanths nachlässiger Art, seine Herde zu beaufsichtigen. Wenn er sich nicht besser um sie kümmert, werde ich es tun. Nur dass ich dazu einen Spieß über einem Feuer und etwas Minzsoße brauche.“
„Prudence! Du kannst doch nicht herumgehen und drohen, das Schaf eines anderen zu braten!“
„Mutter, wir sind hier im Hinterland von Devon. Hier gelten Londoner Regeln einfach nicht. Überlass mir die Schafe, du kannst dich dann schon mal um unsere Schule kümmern.“ Prudence straffte die Schultern. Ja. Sie würde auf ihre Art mit dem Captain fertig werden. „Mutter, hast du etwas von unserer Freundin Lady Margaret gehört? Sie hat uns doch versprochen, dass ihre Tochter unsere erste Schülerin wird.“
Mrs. Crumptons Miene verfinsterte sich. „Darüber wollte ich schon mit dir reden ... “
Prudence sank das Herz. „Sie hat Nein gesagt.“
„Ich bin mir sicher, dass sie nicht Versprechungen machte, die sie nie halten wollte. Irgendetwas sehr Ernstes muss vorgefallen sein, dass sie - nun ja, lies selbst.“ Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Tageskleids, zog einen kleinen Brief hervor und reichte ihn Prudence.
„Meine Güte, Lady Margaret hat ja wieder gar kein Ende gefunden“, meinte Prudence ironisch, als sie das winzige Briefchen entfaltete. „Sie wollte Julia von Anfang an nicht auf unsere Schule schicken, stimmt’s?“
„Das glaube ich nicht, sie hatte es bestimmt vor! Lady Chisworths Pensionat ist eben sehr exklusiv. Ich an ihrer Stelle hätte bestimmt dasselbe getan, wenn du dort einen Platz bekommen hättest ... “
„Niemals hättest du eine Freundin enttäuscht, die du seit deinem sechsten Lebensjahr kennst, da kann Lady Chisworths Pensionat so exklusiv sein, wie es will. “
Die Miene ihrer Mutter wurde wehmütig, und sie seufzte. „Nein, vermutlich nicht.“
„Und du würdest auch nicht einfach eine Freundin enttäuschen, die dir jedes Mal geholfen hat, wenn eines deiner Kinder krank wurde. Wenn ich daran denke, wie oft du an Lady Margarets Seite geeilt bist, um ihr bei der Pflege ihrer Gören zu helfen, die sich Gott weiß welche Krankheiten zugezogen hatten ... “
„Prudence! Du solltest nicht so reden.“
Prudence seufzte. „Du hast recht, es tut mir leid. Es macht mich nur so zornig, wenn die Leute dich ausnutzen. Wir haben das Cottage gekauft, damit du ein Seminar eröffnen kannst. Jetzt brauchen wir nur noch ein paar ausgewählte Schülerinnen, dann wärst du gemacht. Ich habe wirklich geglaubt, deinen Freundinnen wäre es ernst mit ihren Versprechungen, dich zu unterstützen.“
Ihre Mutter ließ entmutigt die Schultern hängen. „Ich auch. Mich hat ja nicht nur Lady Margaret im Stich gelassen, sondern auch Lady Caroline. Anscheinend war keine von beiden eine echte Freundin.“
Prudence streckte die Hand über das Tischchen und ergriff die Hand ihrer Mutter. „Tut mir leid, dass sich die Dinge nicht so entwickeln, wie wir uns das erhofft hatten.“
Mrs. Crumpton rang sich ein Lächeln an. „Ja, nun ja, ich lasse mich davon einfach nicht verdrießen. Wir finden schon einen Weg, unsere Schule einzurichten. “
„Da bin ich mir sicher. Wir müssen einfach scharf nachdenken. Wen kennst du sonst noch, der eine Tochter im Seminaralter hat?“
Stille senkte sich herab, während sie beide in Gedanken ihre Bekannten durchgingen. Es war nicht einfach, da sie während des Niedergangs von Phillips Geschäft und dem anschließenden Skandal so viele angebliche Freunde verloren hatten. Prudences Kehle wurde eng, als sie an diese dunklen Wochen dachte.
Ihre Mutter richtete sich auf. „Prudence! Mir ist etwas eingefallen! Ich glaube, ich werde einen Brief an meine alte Freundin Lady Boswell schreiben.“
„Lady Boswell? Die aus Schottland? Die uns jedes Jahr zu Weihnachten diese unsäglich harten Kuchen schickt? Ich hatte gedacht, sie hat keine Kinder?“
„Hat sie auch nicht, aber sie hat über zwanzig Nichten. Ich erinnere mich noch genau, wie sie letztes Jahr beim Frühstück der Daringhams gejammert hat, dass sie für die Erziehung all dieser Nichten aufzukommen beschlossen hat, da ihre Brüder allesamt kaum Geld haben. Man kann von Lady Boswells ungewöhnlichem Vorgehen halten, was man will, aber sie tritt immer sehr entschlossen für die Frauenbildung ein.“
„Zwanzig Nichten, Mutter, meinst du ...?Vielleicht wenn wir ihr einen Sonderrabatt einräumten ...“
„Genau! Sie ist ebenso geizig, wie sie groß ist. Ich glaube, damit könnten wir die ersten fünf Plätze ohne Probleme füllen.“
Prudence drückte die Hand ihrer Mutter. „Das ist ja herrlich! Ich hoffe sehr ... wir müssen dafür sorgen, dass die Reparaturen am Cottage möglichst rasch ausgeführt werden. Du kannst den Mädchen Anstand, Tanzen und dergleichen beibringen, ich kann sie in Gärtnern, Zeichnen, Philosophie und Griechisch unterrichten ... “
„Zuerst jedoch müssen wir die Sache mit dem Schaf lösen. Wir können dieses Tier nicht dauernd durch unseren Garten trampeln lassen. Was wäre denn, wenn es eine Schülerin bisse? Vielleicht solltest du noch einmal mit dem Captain reden. Diesmal solltest du allerdings einen sanfteren Ton anschlagen.“
„Er lässt mir doch gar keine andere Wahl. Ich habe ihn mehrfach gebeten, etwas gegen dieses verwünschte Schaf zu unternehmen ...“
„Prudence!“ In der Stimme ihrer Mutter lag sanfte Zurechtweisung.
„Tut mir leid. Es ist nur so, dass ich ihn immer und immer wieder gebeten habe und er nie etwas anderes unternimmt, als mich wegzuscheuchen wie ein lästiges Insekt.“
„Das heißt noch lange nicht, dass du dich auf eine Stufe mit ihm stellen sollst. Wie ich dir schon so oft gesagt habe: Eine Frau wird nicht nur nach ihren Taten beurteilt, sondern auch ... “
„... nach ihrem Benehmen. Ich weiß, ich weiß. Ich will mich ja auch gar nicht unfein benehmen, aber dieser Mann treibt mich zur Weißglut.“
„Hmm. Weißt du, Prudence ... vielleicht steckt hinter dieser Weißglut ja mehr.“
Prudence warf ihrer Mutter einen misstrauischen Blick zu. „Ach ja?“
„Der Captain muss offenbar irgendetwas an sich haben, dass du derart erzürnt auf ihn reagierst.“
„Unsinn. Ich bin oft zornig auf Männer, die ich noch nicht einmal kenne.“
„Wann denn?“
„Immer wenn ich die Morning Post lese. Sie hat mehrere Mitarbeiter - alle männlich, möchte ich hinzufügen -, von denen ich überhaupt nichts halte. Sobald sie die Feder in ihr Tintenfass eintauchen, kommt mir der Dampf aus den Ohren. Sie verleihen nur ihrer eigenen Meinung Ausdruck, tun aber, als sprächen sie für die Massen. Eine derart nichtsnutzige Einbildung sagt mir überhaupt nicht zu.“
Ihre Mutter lächelte. „Das ist kein Zorn, das ist Missbilligung.“
„Na, für mich fühlt es sich aber wie Zorn an.“
Mrs. Crumpton drückte ihrer Tochter die Hand und hob dann ihre Teetasse an die Lippen. Sie lächelte Prudence über den Tassenrand hinweg an. „Schau nicht so grimmig, mein Liebes. Das wird schon alles werden. Und wenn nicht, kannst du immer noch den Doktor heiraten.“
Das wäre einfach wunderbar, dachte Prudence düster. Eine Ehe mit dem Doktor wäre in etwa so aufregend wie ein Schläfchen während einer Oper.
Was auch geschah, sie würde den Krieg mit dem Captain in jedem Fall gewinnen. Ihn gewinnen und ihrer Mutter dabei helfen, eine erfolgreiche Schule zu gründen. Dann würde man ja sehen, wer am letzten lachte. Der Captain würde schon noch merken, dass sie noch nicht mal angefangen hatte zu kämpfen.