20. KAPITEL

Man hört oft, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebe. Diese Aussage findet meine volle Zustimmung. Was wäre das Brot ohne ein wenig Wein?

Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves

Prudence schlug die Decken zurück und strampelte ungeduldig das Laken von sich. Sie hatte nun schon eine ganze Woche nicht mehr mit Tristan gesprochen. Obwohl er tagtäglich vorbeikam, um mit ihr zu reden, weigerte sie sich, ihn zu empfangen. Was sehr gut war, sagte sie sich immer wieder, da es ihr Zeit gab, wie besessen auf und ab zu laufen und sich Tristans letzte Worte immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen.

Wenn sie nicht auf und ab lief, mied sie entweder die traurigen Blicke und Seufzer ihrer Mutter, oder sie lag im Bett und gab vor zu schlafen. So wie jetzt.

„Wenn ich nicht damit aufhöre, schicken sie mich noch in die Irrenanstalt“, erklärte sie der kalten Luft im Schlafzimmer.

Seufzend stand sie auf und legte sich ein Tuch um die Schultern. Dann schlüpfte sie in ihre Schuhe und ging wahllos zum Fenster. Es war viel zu früh, um sich schlafen zu legen. Aber nachdem sie sich vier Stunden lang angehört hatte, wie ihre Mutter lautstark Vermutungen anstellte, weshalb der Earl schon wieder vorgesprochen hatte und ih-re Tochter ihn schon wieder nicht hatte empfangen wollen, hatte sie es nicht mehr ertragen und sich auf ihr Zimmer zurückgezogen.

An Schlaf war natürlich nicht zu denken. Und nicht nur deswegen, weil es noch so früh war. Seit sie Tristan das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie nicht mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen.

Sie lehnte sich an den Fensterrahmen, zog die Vorhänge auf und sah nach draußen, die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt. Die Sonne war bereits untergegangen, die Äste hoben sich in dunkler Silhouette von dem monderleuchteten Himmel ab.

Fröstelnd schlang sie die Arme um sich, lehnte den Kopf an die Scheibe und starrte blicklos hinaus.

Wie es Tristan wohl ging? Heute hätten die Treuhänder kommen sollen. Prudence hoffte, dass er sich auf seine Manieren besonnen und nicht vergessen hatte, wie er die einzelnen Vertreter ansprechen sollte, wie er sie in der Bibliothek zu begrüßen hatte - all die Dinge, die ihn in den Augen der ziemlich oberflächlichen Herren zum Gentleman machten.

Den richtigen Tristan würden sie natürlich nicht zu Gesicht bekommen, den Mann, der sich um seine Männer sorgte, obwohl er sie dauernd anbellte. Den Mann, dessen Augen dunkel wurden vor Schmerz, wenn er von seiner Mutter sprach. Den Mann, der sie mit so viel Zärtlichkeit betrachtet hatte ...

Unruhig bewegte sie sich. Was fiel ihr ein, schon wieder an Tristan zu denken? Das hat doch keine Zukunft, sagte sie sich elend. Er hatte sie nur aus Pflichtgefühl gebeten, ihn zu heiraten. Und schlimmer noch, wenn die Treuhänder ihre Verbindung entdeckt hätten, hätten sie ihm das Vermögen sicher verweigert.

Sie seufzte und kuschelte sich tiefer in das Schultertuch. Weil sie keine Lampen entzündet hatte, war um sie alles dunkel und still, mit Ausnahme der vergoldeten Uhr, die auf dem Kaminsims tickte.

Das silbrige Mondlicht erleuchtete den Garten unter ihr. Abwesend sah sie ein paar Pflanzen in der nächtlichen Brise schwanken. Unterdessen öffnete sich langsam das Gartentor ...

Sie blinzelte. Die Erscheinung war noch da, eine einsame Figur im Umhang, die rückwärts durch das Gartentor kam und etwas an einem Strick hereinzerrte. Sie beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und ... sie keuchte auf. Am Ende des Stricks hing ein Schaf!

Prudence machte kehrt und nahm ihr Tageskleid vom Haken. Sie zog sich an und rannte aus dem Zimmer. Auf der Treppe begegnete sie Mrs. Fieldings.

„Wohin wollen Sie denn?“, fragte die Haushälterin. Auf ihrem faltigen Gesicht breitete sich ein misstrauischer Ausdruck aus.

„Im Garten ist jemand! “

Die Haushälterin folgte ihr. „Ich habe gerade Ihren Mantel ausgebürstet. Er hängt auf dem Haken an der Tür.“ Prudence hatte den Fuß der Treppe erreicht. „Ich brauche keinen Mantel. Ich werde jetzt ein für alle Mal herausfinden, wer uns immer das Schaf in den Garten schafft! “

„Der Weise hört auf das Zischen der Schlange!“

„Ja, schon gut, aber diese Schlange trägt einen Umhang! “ Mrs. Fieldings schnaubte. „Ein Dieb würde doch nicht im Umhang kommen!“

Prudence blieb an der Haustür stehen und nahm ihren Mantel vom Haken. „Die Schlange trägt nicht nur einen Umhang, der Umhang ist auch mit Pelz besetzt.“

Das brachte Mrs. Fieldings zum Nachdenken. Sie warf Prudence einen vorsichtigen Blick zu. „Mit Pelz besetzt? Wirklich?“

„Ich habe es nur kurz vom Schlafzimmerfenster aus gesehen, aber es sah aus, als wäre die Kapuze ...“ Prudence blickte auf die Haken an der Tür. Der Umhang ihrer Mutter fehlte. Der rote. Der mit dem Hermelinbesatz.

Prudence wandte sich zu Mrs. Fieldings um, die ziemlich rot geworden war. „Wissen Sie etwas über diese Sache?“

Die Haushälterin verschränkte die Arme vor der dürren Brust. „Ein kluger Mann behält seine Weisheit für sich, damit er sie nicht unterwegs verlöre.“

Immer diese Sprüche. Prudence konnte jetzt keine Sprüche gebrauchen. „Dann werde ich es wohl selbst herausfinden müssen.“ Sie griff nach dem Türknauf, doch Mrs. Fieldings war schneller.

Die Haushälterin baute sich vor der Tür auf und reckte das Kinn. „Also, Madam. Lieber sich zügeln, als dem Ungestüm die Zügel schießen zu lassen.“

„Aus dem Weg.“

„Des Zornigen Herz ...“

„Mrs. Fieldings, sehen Sie meine Faust? Die in diesem Handschuh steckt?“

Die Frau riss die Augen auf. „Drohen Sie mir etwa?“ Prudence beugte sich vor. „Ja.“

Das schien die Haushälterin völlig zu verwirren. Während sie noch nach einer passenden Erwiderung suchte, hatte Prudence schon an ihr vorbeigegriffen und die Tür geöffnet. Klatschend prallte sie gegen Mrs. Fieldings Hinterteil. Die Haushälterin keuchte auf und ging rasch aus dem Weg. „Das ist doch der Gipfel!“, empörte sie sich.

„Wollen wir es hoffen.“ Prudence ignorierte die schockierten Proteste der Haushälterin und trat hinaus in den Garten.

Verstohlen schlich sie zum Tor und verschränkte die Arme. „Guten Abend, Mutter.“

Entsetzt fuhr Mrs. Crumpton herum. Als sie Prudence sah, ließ sie sich gegen das Gartentor sinken, eine Hand an der Brust, die andere um das Seil geschlungen. „Meine Güte! Du hast mich zu Tode erschreckt! “

„Ich dich erschreckt? Ich bin es nicht, die nachts herumschleicht und Schafe in den Garten bringt!“

Mrs. Crumpton blickte sich um. Das Seil in ihrer Hand führte zu einem sehr dicken, sehr langsamen und sehr desinteressierten Schaf.

„Das Schaf kenne ich“, erklärte Prudence.

Das Tier schien zu merken, dass man sich über es unterhielt, denn es öffnete das Maul, wobei es große gelbe Zähe entblößte, und mähte laut.

Prudence schüttelte den Kopf. „Du warst das, Mutter, die die Schafe des Captains die ganze Zeit hier in den Garten gebracht hat? Warum, um alles in der Welt, hast du das getan?“

Ihre Mutter machte eine hilflose Geste. „Ich weiß, es sieht schlimm aus, aber ich wollte doch nicht ... also, ich hätte wirklich nie gedacht ... es war nie meine Absicht ... “ Prudence hob die Hand. „Wir gehen lieber rein, bevor wir hier noch erfrieren. Vielleicht bringst du dann einen vollständigen Satz zustande. “

„Ja, aber erst ... erst muss ich Daffodil noch füttern.“ Prudence hob die Brauen. „Daffodil?“

„Unser Schaf. Also, das Schaf des Earls.“ Ihre Mutter besaß den Anstand, ein wenig zu erröten. „Normalerweise füttere ich das Schaf, wenn ich es herinnen habe. Anders bringe ich es nicht dazu, mir zu folgen. Sonst brauche ich nur das Tor zu öffnen, und es trottet herein. Aus irgendeinem Grund war das Schaf heute sehr, sehr störrisch.“ Stirnrunzelnd sah ihre Mutter auf das Schaf, das im Moment an den Sträuchern am Tor knabberte. „Ich frage mich, ob es ihm gut geht. Ich habe es jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr zu uns geholt, und es ist sehr sensibel.“

„Schafe haben keine Gefühle.“

Ihre Mutter sah sie empört an. „Doch, natürlich!“

„Ach, um Himmels willen - ich kann es einfach nicht fassen!“ Prudence schüttelte den Kopf. „Ich kann es gar nicht erwarten, deine Erklärung für all das zu hören. Jetzt füttere dein albernes Schaf, und dann komm herein. Ich sagte Mrs. Fieldings, dass sie uns Tee machen soll.“ Damit kehrte Prudence ins Haus zurück. Die Haushälterin stand mit düsterem Gesicht in der Eingangshalle.

„Ich habe die Herrin gewarnt! Geheimniskrämerei tut selten gut! Genau das habe ich ihr immer gesagt! “

„Sie wussten, dass meine Mutter die Schafe in den Garten brachte.“

„Erst nicht. Sie war zu raffiniert. Aber beim dritten Mal ist mir aufgefallen, dass ihr Umhang feucht war, sie also draußen gewesen sein musste.“ Mrs. Fieldings’ Lächeln zeigte eine gewisse düstere Befriedigung. „Es hat nicht lang gedauert, bis ich heraushatte, woher der Wind weht.“

„Mrs. Fieldings, würden Sie bitte Tee machen. Ich muss mit meiner Mutter sprechen.“

„Der Kessel steht schon auf dem Herd. Ich dachte mir schon, dass Sie etwas Tee brauchen könnten, um Ihre Nerven zu beruhigen. Ich habe im Salon Feuer gemacht. Dort können Sie miteinander reden. Solange Sie nicht schreien. Wenn Ihr Tee fertig ist, gehe ich wieder ins Bett.“

Nach dieser nicht sehr einfühlsamen Rede trottete Mrs. Fieldings in die Küche zurück. Prudence ging in den Salon. Ihre eigene Mutter ... wie konnte sie nur!

Als Prudence an all die Male dachte, die sie zum Cottage des Captains gestürmt war, um ihn wegen seines Schafs zur Rede zu stellen, konnte sie es kaum noch ertragen. Meine Güte, was er nur von ihr gedacht haben musste! Was er jetzt von ihr denken musste ... Sie schloss die Augen, und dann begannen die Tränen zu fließen.

Ihre Mutter kam in den Salon, wobei sie den Umhang von den Schultern nahm. Der Saum ihres Kleides war feucht, und an einem Ärmel hingen Strohhalme. „Prudence, ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Erklär mir nur, warum du dir diese Mühe überhaupt gemacht hast.“

Ihre Mutter rang die Hände. „Ach herrje! Sieh mich doch nicht so an! Ich habe es doch nicht böse gemeint. Im Gegenteil, ich wollte nur dein Bestes, wirklich!“

„Du hast mich an der Nase herumgeführt.“

„Nun ja ... ein bisschen. Beim ersten Mal habe ich Daffodil nicht hereingelassen, das Schaf kam von selbst.“ Prudence hob die Brauen.

„Schau mich nicht so an, als ob ich lügen würde! Ich sage die Wahrheit!“ Mrs. Crumpton nahm ihre Tochter bei der Hand und zog sie zum Sofa. „Prudence, du musst das verstehen.“

„Ich glaube, ich verstehe dich schon.“

„Nein“, widersprach ihre Mutter. Sie setzte sich und zog Prudence neben sich. „Als wir hergezogen sind, wurde mir klar, dass es für mich vielleicht ein neuer Anfang sein mochte, für dich aber war es ... nun ja, eher eine Art Exil.“

„Ich war hier aber vollkommen zufrieden.“ Zumindest ehe sie entdeckt hatte, welche Magie in Tristans Armen zu finden war. Und nun würde sie nie wieder in Tristans Armen liegen. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt.

„Prudence“, sagte ihre Mutter sanft und tätschelte ihr die Hand. „Ich wusste, dass wir an einen weit abgelegenen Ort ziehen wollten, aber als wir hier ankamen, war es so trostlos hier. So einsam. Das habe ich mir für dich nicht gewünscht. Dann hingegen habe ich den Earl gesehen - nun ja, damals war er noch kein Earl, aber ich fand, er wäre für dich genau der Richtige. “

„Der Richtige? Er war unhöflich und arrogant und wollte mit uns nicht das Geringste zu tun haben!“

„Abgesehen davon war er aber genau richtig“, erklärte ihre Mutter hastig. „Er ist kein einfacher Mann, nicht? Allerdings war ich mir vollkommen sicher, dass er einfach ein guter Mensch sein musste, weil er all diese verwundeten Seeleute bei sich aufgenommen hat. Er hat so etwas Ehrenhaftes und Tapferes an sich. Ich weiß nicht, was es ist, aber ... “ Hilflos zuckte ihre Mutter mit den Schultern.

Prudence wusste, wieso man Tristan und niemanden sonst in einer Notlage an seiner Seite wissen wollte: Es lag an seinem großen Herz. Er war beständig und liebevoll und konnte unendlich fürsorglich sein. Und sie liebte ihn von Herzen.

Ihre Mutter seufzte. „Tut mir leid, wenn ich dich wegen des Schafs an der Nase herumgeführt habe. Aber ich musste doch etwas unternehmen! Der Earl ist störrisch und wollte uns nicht besuchen kommen. Nur war er der einzig passende Mann für dich, außer dem Doktor, der jedoch für dich nicht der Richtige gewesen wäre ... “

„Ich dachte, du magst den Doktor.“

„Ich mag ihn ja auch. Aber er ist viel zu schwach für dich. Du hättest sofort die Führung in der Beziehung übernommen, und damit hätte es sich dann gehabt.“

„Mutter!“

Ihre Mutter lief rosa an. „Nun, es stimmt aber. Du bist mir ziemlich ähnlich, und das war auch immer meine Schwierigkeit. Allerdings war ich nie so geradeheraus wie du, wenn ich ehrlich bin. Vermutlich liegt das daran, dass ich dich anders erzogen habe.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich das jetzt als Kompliment oder als Kritik auffassen soll.“

„Oh, als Kompliment. Nur dass daraus nun mal keine glückliche Ehe erwachsen kann, es sei denn, der Partner ist einem ebenbürtig.“

Darüber musste Prudence lächeln. „Wie Vater.“

„Genau. Gott sei Dank war er so, wie er war, sonst wäre die Ehe eine Katastrophe gewesen.“ Die Augen ihrer Mutter verschwammen. „Weißt du, ich vermisse ihn immer noch.“

Prudence nickte. „Manchmal denke ich noch an Phillip, aber ... Mutter, es spielt keine Rolle. Das alles hat überhaupt nichts zu sagen. Tristan ... ich meine, der Earl und ich reden nicht mehr miteinander.“

„Dieser Punkt hat mich auch noch darin bestärkt, das Richtige zu tun: als der Captain den Titel geerbt hat. Was hätte perfekter sein können?“

„Mutter, mir ist egal, ob er ein Earl ist.“

„Mir aber nicht. Du hast einen Earl verdient. Sogar einen Duke.“ Ihre Mutter dachte kurz nach. „Ich könnte mir dich sogar mit einem Prinzen vorstellen, obwohl ich in meiner Jugend einen Prinzen von Nahem sah und ihn vollkommen abstoßend fand - die sind zum Teil entsetzlich dick, das würde ich niemandem wünschen.“

Prudence seufzte. „Wenigstens etwas, wofür man dankbar sein kann. Ich kann nicht fassen, dass du so heimlichtuerisch warst. So kenne ich dich gar nicht!“

„Zuvor hatte ich ja noch nie einen Grund dazu. Schon erstaunlich, wozu man für seine Kinder bereit wäre. Zuerst habe ich mich deswegen ganz schlecht gefühlt, obwohl die arme Daffodil normalerweise sehr brav ist. Ich musste nur ein Stück Apfel einstecken und sie daran riechen lassen. Für einen Bissen Apfel würde sie meilenweit laufen, das verfressene Ding.“

Prudence drückte die Hand ihrer Mutter. „Bestimmt ist Daffodil ein braves Schaf. Und was den Earl angeht - unsere Beziehung wird nie mehr sein als das, was sie jetzt ist. Bitte versprich mir: keine Tricks mehr. “

Ihre Mutter rümpfte die Nase. „Du hast vielleicht aufgegeben, aber ich noch längst nicht.“

„Mutter, einer der Treuhänder ist der Earl of Ware.“

Mrs. Crumpton wurde bleich. „Der, der allen erzählt hat, du würdest ... “ Sie presste die Lippen aufeinander. Sichtlich angestrengt sagte sie dann abgehackt: „Dem Mann hätte ich einiges zu sagen.“

„Bestimmt hat er das, was er über mich gesagt hat, nicht wirklich so gemeint. Er hat durch Phillip schließlich dreißigtausend Pfund verloren und war zornig. Trotzdem würde er eine Verbindung zwischen Tristan und mir natürlich nicht gut auf nehmen.“

„Was hat denn der Earl dazu zu sagen?“

„Nichts. Ich lasse ihn nicht.“

„O Prudence! Das solltest du aber nicht...“

Die Tür ging auf, und Mrs. Fieldings erschien mit dem Tee. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab. „Na, hab gar kein Geschrei gehört. Vermutlich haben Sie die Angelegenheit geregelt, eh?“

Mrs. Crumpton lächelte dankbar. „Beinah. Vielen Dank für den Tee. Wir brauchen etwas zum Aufwärmen ..."

Draußen klopfte es. Prudence und ihre Mutter sahen sich erstaunt an.

„Wer kommt denn um diese späte Nachtstunde?“, brummte Mrs. Fieldings und ging nach draußen. „Nach Einbruch der Dunkelheit ist kein guter Christenmensch mehr unterwegs.“

Wieder klopfte es. Mrs. Crumpton stand auf und ging zum Fenster. Neugierig blinzelte sie in die Nacht hinaus. „Oh, ich kann überhaupt nichts sehen!“

„Mutter, komm, und setz dich her. Mrs. Fieldings hat unseren Besuch schon eingelassen. Ich kann ihn in der Eingangshalle hören.“ Es handelte sich dabei nicht um Tristans tiefen Bass, sondern um eine andere wohlbekannte Stimme. Prudence biss sich auf die Lippen, als die Tür aufging.

Mrs. Fieldings betrat den Raum. Ihre sonst so saure Miene war verschwunden. Reeves folgte ihr und lächelte ein wenig, als die Haushälterin höchst beeindruckt verkündete: „Mr. Reeves für Mrs.Thistlewaite.“

Reeves verbeugte sich. „Seine Lordschaft hat mich geschickt. Er möchte, dass Sie zu ihm ins Cottage kommen.“ „Wunderbar!“, sagte ihre Mutter und schlug die Hände zusammen. Sie wandte sich an ihre Tochter. „Prudence, hol deinen Mantel ... “

„Ich gehe nirgendwohin.“

Reeves nickte ernst. „Madam, Seine Lordschaft hat mir von Ihrer Meinungsverschiedenheit berichtet. Gestatten Sie mir die Bemerkung, dass ich ebenso schwer von ihm enttäuscht bin, wie er es von sich selbst ist.“

„Ich will ihn nie Wiedersehen.“

„Madam, ich kann Ihnen das nicht zum Vorwurf machen, aber ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich wurde ausgesandt, Sie zu holen, egal mit welchen Mitteln. “

Mrs. Crumpton tat einen aufgeregten Hüpfer. Reeves drehte sich zu ihr um und hob fragend die Brauen.

Sie errötete und strich sich über das Haar. „Ach herrje, das Feuer wird ein bisschen warm. Ich stell mich lieber da drüben hin.“ Sie ging zur anderen Seite des Kamins und stellte sich ein Stück hinter dem Butler auf.

Reeves verneigte sich und wandte sich dann wieder Prudence zu. „Madam? Es würde Seiner Lordschaft sehr viel bedeuten, wenn Sie ihm den Gefallen täten.“

Prudence wünschte, ihr Herz würde nicht so rasen. „Hat er das gesagt?“

„Ja, Madam. Er äußerte sich mit großer Inbrunst.“

Mit großer Inbrunst. Das klang schön. Ihre Mutter begann hinter Reeves’ Rücken wild zu gestikulieren, von Prudence zur Tür, um ihr zu bedeuten, dass sie gehen solle. Prudence bedachte sie nur mit einem Stirnrunzeln, dann sagte sie zu Reeves: „Hat Seine Lordschaft gesagt, warum er mich zu sprechen wünscht?“

Ihre Mutter beugte sich neugierig vor.

Reeves nickte. „Es geht um die Treuhänder, Madam. Sie waren heute da. Ich glaube, Seine Lordschaft möchte Ihnen vom Ausgang der Prüfung berichten und Sie für Ihre Dienste entlohnen.“

Prudence ließ die Schultern hängen. Er wollte sie bezahlen. Diese Unpersönlichkeit machte sie ganz krank. „ Verstehe. Bitte richten Sie ihm meinen Dank aus, aber ich glaube, es wäre besser, wenn Seine Lordschaft das Honorar einfach herschickte. Ich möchte ihn nicht sehen.“

„Oh!“

Bei Mrs. Crumptons lautem Empörungsschrei wandten sich Reeves und Prudence beide zu ihr hin.

„Prudence, mir reicht es jetzt.“

Prudence blinzelte, als sie den strengen Ton ihrer Mutter hörte. „Was ...?“

„Nimm deinen Mantel, und begleite Mr. Reeves.“

„Aber ich will doch nicht ... “

„Nicht deinetwegen, Prudence, sondern meinetwegen. Ich weiß, dass ihr euch gestritten habt, dennoch ist es wirklich ziemlich selbstsüchtig von dir, dich wegen so einer Lappalie von einer so reizenden Einladung abhalten zu lassen.“ Prudence errötete. „Es ist weder eine Lappalie, noch bin ich selbstsüchtig.“

„Ich will unbedingt wissen, was sich aus dem Besuch der Treuhänder ergeben hat. Wenn du nicht mitgehst, wird es eine ganze Woche dauern, ehe wir es herausfinden. So lang kann ich einfach nicht warten. Hol deinen Mantel, und geh mit Mr. Reeves.“

Ehe sie es überhaupt bemerkte, war Prudence schon aufgesprungen. „Mutter! Ich war heute Abend schon im Bett! Ich bin nur deswegen wieder aufgestanden, weil du dieses Schaf in den Garten geschafft hast! “

„Aber du hast nicht geschlafen. Du hast einfach nur im Bett gelegen und dich herumgewälzt. Erzähl mir nichts.“ Sie ging zu ihrer Tochter, legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zur Tür. „Wenigstens kommst du so mal aus dem Haus und hockst nicht immer so trübselig herum.“

Prudences Wangen liefen rosa an. „Mutter, ich will aber nicht ...“

„Unsinn. Natürlich willst du.“

„Aber ...“

„Prudence.“ Ihre Mutter sah ihr direkt in die Augen. „Wenn du jetzt nicht gehst, wirst du dich den Rest deines Lebens fragen, was hätte passieren können. “

„Mrs. Crumpton“, unterbrach Reeves leise. „Seine Lordschaft bittet auch Sie zu sich ins Cottage.“

Prudences Mutter strahlte über das ganze Gesicht. „Na so was! Na also! Prudence, es sieht so aus, als wären wir beide ins Cottage des Earls eingeladen.“ Bevor Prudence weitere Einwände erheben konnte, war ihre Mutter schon in die Halle gelaufen, um die Mäntel zu holen.