4. KAPITEL

Die erste Begegnung mit dem zukünftigen Dienstherrn ist von höchster Bedeutung. Denn bei dieser Gelegenheit wird der Grundstein für die spätere Beziehung gelegt. Man muss mit äußerster Vorsicht vorgehen: Zu viel Vertraulichkeit ruft Verachtung hervor, zu große Distanz weckt im Dienstherrn die beunruhigende Neigung, auf seinem Angestellten herumzutrampeln. In wichtigen Angelegenheiten stehe man zu seiner Meinung, doch immer auf so taktvolle Art, dass der Dienstherr seinen Stolz wahren kann. Und man selbst den seinen.

Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves

Tristan lehnte den Kopf an die hohe Rückenlehne seines Lieblingssessels und genoss die beißende Wärme des Brandys. Er bewegte ein wenig die Knie und zuckte zusammen. Sein verdammtes Bein schmerzte ganz schön, als rieben Knochen auf Knochen.

Er zwang sich, an etwas anderes zu denken als den Schmerz, und verfiel auf die Kutschen, die sich die steile Küstenstraße emporarbeiteten.

Sein erster Gedanke war gewesen, dass es sein Vater sein könnte. Doch das war einfach nicht möglich. Der Mann hatte nie den geringsten Versuch unternommen, mit ihm in Kontakt zu treten, warum also sollte der alte Narr jetzt damit anfangen?

Nicht, dass es eine Rolle spielte. Tristan würde den Earl nicht willkommen heißen. Nie im Leben.

Das Wünschen hatte er aufgegeben. Die Zeit, in der er an Ritter in schimmernder Rüstung und glückliche Fügungen geglaubt hatte, war vorbei. Sein Glauben war gestorben, als er damals gewaltsam an Bord jenes verdammten Schiffes verbracht worden war. Dies war die wichtigste Lektion, die das Leben ihm erteilt hatte: Wenn er sich etwas wünschte, musste er es sich selbst verschaffen und nicht darauf warten, es von jemand anderem zu bekommen.

Sein Blick fiel auf die Terrassentüren, die sich an einer Wand hinzogen. Er liebte diesen Raum, hatte versucht, ihn seiner Kabine auf der Victory so ähnlich zu machen wie nur irgend möglich. Er war genauso ausgestattet, abgesehen von der Koje. Wenn er nachts schlafen konnte, lag er im großen Eckzimmer im ersten Stock, dem einzigen Raum im Haus, der nicht überquoll von seinen ehemaligen Schiffskameraden.

Er seufzte und blickte in sein Glas. Als er seinerzeit die Verletzung erlitten und erkannt hatte, dass er nicht mehr für die See taugte, hatte er sich hierher zurückgezogen. Um seine Wunden zu lecken und auf den Tod zu warten. Ein anderes Ziel hatte er damals nicht vor Augen gehabt.

Doch etwas war geschehen. Nach seiner Ankunft war Stevens zu ihm gestoßen. Der Erste Offizier war ebenfalls bei Trafalgar verwundet und in der Folge mit einer winzigen Pension an Land gesetzt worden. Er hatte nicht gewusst, wohin er sich wenden sollte.

Also war Stevens zu seinem ehemaligen Kapitän gegangen. Er hatte sich nicht angekündigt, und Tristan, der seinen Kummer seit drei Monaten im Alkohol ertränkte, war nur ein wenig überrascht, aber auch erleichtert gewesen. Zumindest würde er nicht allein sterben müssen.

Stevens war jedoch nur die Vorhut gewesen, die am Cottage am Meer erschien. Einer nach dem anderen kamen die Versehrten zu Besuch ... und blieben. Jetzt wohnten in beinah jedem Zimmer im Cottage drei, vier Mann, manchmal noch mehr. Stevens hatte alles wie auf einem Schiff organisiert, sogar zum Essenfassen mussten sie in verschiedenen Schichten antreten, damit die Kombüse nicht zu voll wurde.

Für Tristan war die Gesellschaft seiner ehemaligen Kameraden ein Segen. Sie gaben seinem Leben einen Sinn. Das einzige Problem war seine magere Pension, die nicht ausreichte, um Essen auf den Tisch zu bringen und die Arztrechnungen zu bezahlen. Als er noch zur See fuhr, hatte er zum Glück hin und wieder ein Sümmchen abzweigen und investieren können. Die Investitionen warfen regelmäßig Geld ab. Doch bei der dauernden finanziellen Belastung war Tristan klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er die Türen seines kleinen Cottages schließen musste.

Seine muntere Nachbarin wäre sicher entzückt. Vor allem wenn er seine Schafe mitnahm. Tristan hätte beinah laut gelacht, als ihm die empörte Miene einfiel, die sie aufgesetzt hatte, als er sich sein Pfeifchen ansteckte. Eine impulsive und heißblütige Frau, keine Frage. Feurig und Funken sprühend wie Zunder, an den man ein Schwefelhölzchen hielt. Er hatte die morgendliche Konfrontation ziemlich genossen: Sie hatte ihn belebt, zumindest für den Moment. Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er ihr beim nächsten Mal den Mantel auszog.

Ein energisches Klopfen ertönte, und dann steckte Stevens den Kopf durch die Tür. „Käpt’n?“

Tristan, rüde aus seinen angenehmen Tagträumen von einer ihre Reize entfaltenden Nachbarin gerissen, warf seinem Ersten Offizier einen mürrischen Blick zu. „Aye?“ Stevens betrat das Zimmer, die Mütze in der Hand. „Tut mir leid, dass ich störe, aber vielleicht erinnern Sie sich ja an die Kutsche und die anderen Wagen, die wir auf der Küstenstraße gesehen haben?“

Die Kutsche. Es war ihm tatsächlich gelungen, sie zu vergessen, nun jedoch kehrten all die Gedanken von vorhin zurück. Ihm wurde kalt ums Herz. Auch die Wirkung des Brandys verflog, sein Verstand war glasklar. „Sie sind angekommen.“

„Aye. Es ist eine ganze Mannschaft, aber zur Tür sind nur zwei gekommen. Ein großer Schlanker und ein kleiner Dicker. Bei dem Großen krieg ich Gänsehaut. “ Stevens blickte über die Schulter und senkte dann die Stimme. „Der kom-mandiert einen ziemlich herum.“

„Sagen Sie ihm, er soll sich davonscheren“, erklärte Tristan harsch.

Stevens knetete seine Mütze. „Wollte ich doch, Käpt’n. Ich hab denen sogar schon gesagt, dass Sie nicht da sind, aber der Große hat mich nur hochnäsig angeschaut und ... na ja ...“ Die Mütze war inzwischen schon so zerknüllt, dass Tristan sich fragte, ob sie je wieder getragen werden würde. „Ich sag es nicht gern“, platzte Stevens schließlich heraus, „aber vielleicht sollten Sie den Großen doch empfangen.“ „Nein.“

Stevens wirkte nicht überzeugt. „Aber ...“

„Ich kenne die Leute. Sie arbeiten für den Earl of Rochester, stimmt’s?“

„Ja, schon. Gewissermaßen. Aber ...“

„Ich will nichts mit ihnen zu tun haben. “

„Aber ..."

„Das ist ein Befehl, Stevens. Haben Sie mich verstanden?“ „Aye, Sir.“ Der Erste Offizier seufzte schwer. „Ich hab denen ja schon gesagt, dass Sie sie nicht empfangen würden.“ „Dann sagen Sie es ihnen eben noch einmal.“

„Aye, aye, Käpt’n.“ Kopfschüttelnd ging Stevens hinaus. Tristan hatte zwei Minuten Ruhe, ehe es erneut an die Tür klopfte. Die Tür ging auf, doch statt Stevens trat ein Fremder ein.

Er war groß und dünn, hatte ein edel geformtes Gesicht, blaue Augen und dunkles, mit weißen Strähnen durchzogenes Haar. Außerdem hielt er sich wie ein Herzog. Er musterte Tristan von Kopf bis Fuß.

Tristan blickte finster und blieb sitzen. „Wer, zum Teufel, sind Sie?“

Ein zweiter Mann linste um den ersten herum. Dieser war klein, dick und zerknittert und umklammerte seine Tasche, als befürchtete er, man könnte sie ihm jeden Augenblick entreißen.

Der dünne Mann verneigte sich. „Mylord, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Reeves. Der Butler von ...“ „Sparen Sie sich die Mühe. Ich will nichts mit Rochester zu tun haben. Für mich ist der Earl gestorben.“

Der Dicke räusperte sich. „Entschuldigung, aber ... Mylord, ich bin Mr. Dunstead, der Anwalt, und ...“

„Ich bin kein Lord.“

„Ah“, unterbrach der Mann namens Reeves, „doch, das sind Sie. Ich bin der Butler des kürzlich verstorbenen Earl of Rochester. Mylord, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater tot ist.“

Tristans Herz erstarrte. Der Earl. Tot. Für alle Zeiten unerreichbar.

Er starrte auf das Glas in seiner Hand, bemerkte kühl, wie das Feuer durch das schwere Bleikristall funkelte. Ihm war immer bewusst gewesen, dass dieser Tag einmal kommen musste, hatte sich immer vorgestellt, mit welcher Erleichterung er auf die Nachricht reagieren würde. Er hatte sich eingeredet, dass er sich darauf freuen würde, dass er dann endlich den Frieden finden könnte, der ihm bisher immer verwehrt geblieben war, das Leben, das ihm geraubt worden war. Vielleicht sogar den verlorenen Bruder.

Bei dem Gedanken an Christian umklammerte er das Glas so fest, dass er sich zwingen musste, den Griff zu lockern. Nicht daran denken.

Stattdessen wollte er über den Verlust des Mannes nachdenken, den er nie gekannt hatte. Der Mann, der ihn verlassen hatte, ohne dass er noch etwas tun konnte. Tief in ihm regte sich ein unbestimmtes Gefühl. Es dauerte einen Augenblick, bis er es einordnen konnte - es war Trauer. Eine tiefe, nicht zu unterdrückende Traurigkeit. Nicht wegen des Mannes selbst natürlich, schließlich hatte Tristan ihn kaum gekannt. Aber ein Gefühl des Verlusts, der Trauer um etwas, was er nie gekannt hatte und nun nie mehr kennenlernen würde. Ihm war, als stände ein Teil von ihm noch immer in jener Gastwirtschaft und wartete auf den Vater. Auf ein Zeichen, dass er ihn liebte.

„Mylord?“ Die Worte wurden leise geäußert, voller Respekt. „Es tut uns sehr leid.“

Tristan sah auf und entdeckte, dass ihn die beiden Männer fast mitleidig betrachteten. Krachend stellte er das Glas auf dem Tisch ab. „Sehen Sie mich nicht so an! Warum sind Sie hergekommen? Um mir eine derart wertlose Nachricht zu übermitteln? Den Titel kann ich nicht erben. Der Dreckskerl hat mich nicht mal als seinen Sohn anerkannt. Wie sollte ich da den Titel erben können?“

Der kleine Dicke blinzelte hinter seinen Brillengläsern. „Weil ... ach je. Das Ganze ist ziemlich komplex. Ihr Vater ... “

„Bezeichnen Sie diesen arroganten Widerling nicht als meinen Vater! Das war er nicht und wird es auch niemals sein.“

Reeves räusperte sich. „Mylord, ich kann verstehen, dass Sie sich aufregen. Aber Sie sollten wissen, dass ich bis zum Ende an der Seite Seiner Lordschaft weilte. Er wollte unbedingt, dass Sie seine Nachfolge antreten.“

„Warum? Weil er keine anderen Söhne hatte?“

Reeves’ Gesicht verzog sich schmerzlich. „Das spielt keine Rolle. Sie sind der neue Earl. Er hat sich wirklich sehr darum bemüht, dass Sie den Titel erben können.“

Tristan sank in seinem Stuhl zurück. „Sie scheinen nicht zu verstehen. Mein Bruder und ich sind beide unehelich geboren. Sosehr ich meine Mutter auch geliebt habe, sie war manchmal etwas zu vertrauensselig. Sie dachte, dass er sie heiraten würde, aber das hat er nicht getan. Also kann ich auch nicht der neue Earl sein.“

„Ah, aber allem Anschein nach hatte der Earl auf dem Totenbett eine Erleuchtung. Er erinnerte sich plötzlich daran, dass er Ihre Mutter doch geheiratet hatte. Er hat sogar einen Kirchenmann aufgetrieben, der darauf einen Eid ableisten würde.“

Tristans Lachen war freudlos. „Jedenfalls hat er sich nicht deswegen die Mühe gemacht, weil ich ihm etwas bedeutet hätte. Wenn er so erpicht auf einen Erben war, wieso hat er dann nicht einfach geheiratet und einen verdammten Sohn gezeugt?“

„Er hat es versucht“, erwiderte Reeves. „Er und seine Frau haben keine Kinder bekommen. “

Dunstead nickte eifrig. „Sie sind das älteste Kind. Da ist es nur gerecht, wenn Sie den Platz Ihres Vaters einnehmen.“ Tristan lachte bitter auf. „Den Platz meines Vaters - das ist ja wirklich unglaublich amüsant.“

Der Butler und der Anwalt tauschten einen Blick. Mr. Dunstead legte die Mappe auf den Tisch. „Wenn Sie sich das Testament vielleicht selbst ansehen möchten. Eigentlich sollte ich es wohl verlesen, aber wenn Sie möchten „Lassen Sie es da.“

„Mylord?“

„Legen Sie es auf den Tisch, und entfernen Sie sich“, erklärte Tristan, griff nach seinem Stock und kämpfte sich auf die Beine. „Ich will Sie nicht hier haben.“

„A...aber Mylord! Ich muss Ihnen doch die Bedingungen erklären!“

„Die Bedingungen?“

„Ja. Sie haben den Titel geerbt. Um das Vermögen zu erhalten, müssen die Treuhänder Sie jedoch als ... als ... “ Hilflos starrte der Anwalt auf Reeves.

Der Butler sah Tristan fest an. „Der verstorbene Earl wollte sicherstellen, dass sein Nachfolger des Hauses Rochester auch würdig ist.“

Würdig? Dieser verdammte Schurke hatte sich nie die Mühe gemacht, Tristan als seinen Sohn anzuerkennen, und auf dem Totenbett verlangte er auf einmal, dass Tristan seines Hauses würdig war? „Ich will das verdammte Geld nicht. Auf den Titel kann ich auch verzichten. Und sein verdammtes Haus kann er von mir aus mit in die Hölle nehmen. “ Reeves seufzte. „Das hätte er sicher getan, wenn ihm das möglich gewesen wäre. Verlassen Sie sich darauf. “

„Von diesem leeren, verschrumpelten alten Mann nehme ich keinen Penny an!“

Mr. Dunstead blinzelte. Seine Augen hinter den Brillengläsern waren schrecklich groß. „Nicht, Mylord! Ist Ihnen klar ... wissen Sie eigentlich ... das wäre ja unerhört ...“ „Was Mr. Dunstead Ihnen zu sagen versucht“, unterbrach Reeves ihn geschickt, „ist, dass es ziemlich närrisch wäre, zwanzigtausend Pfund im Jahr den Rücken zu kehren.“ Tristan wandte den Kopf. „Sagten Sie zwanzig?“ „Tausend.“ Reeves hob die Brauen. „Dazu Rochester House und das Londoner Stadthaus, beides herrliche Gebäude und sehr elegant eingerichtet.“

Dunstead nickte. „Und voll ausgebildete Dienstboten gehören schon dazu. Sie brauchen nur noch einzuziehen.“ Er machte eine weit ausholende Geste. „Sobald Sie die Zustimmung der Treuhänder erlangt haben natürlich.“ Zwanzigtausend Pfund. Damit konnte man eine Menge anfangen. Er würde aus dem Cottage ausziehen - oder, besser noch, ein paar Häuser für seine Männer errichten lassen. Er könnte einen Arzt engagieren, der ebenfalls bei ihnen wohnen und sie alle versorgen konnte. Und danach könnte er ... was könnte er tun? So viele Möglichkeiten eröffneten sich ihm, so viele Dinge, die er schon immer hatte tun wollen, dass er sich gar nicht entscheiden konnte.

Natürlich musste er erst einmal die Zustimmung der Treuhänder erringen. Er blickte zum Anwalt. „Wer sind diese Treuhänder denn?“