15. KAPITEL

Man sei immer bereit, sein Wissen sowohl mit Bürgersmann als auch mit Adligem zu teilen. Die Saat der Weisheit kann auch auf der steinigsten Flur aufgehen.

Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves

Die Dinnergesellschaft stand vom ersten Moment an unter einem schlechten Stern. Nicht nur, dass der joviale Squire weitaus jünger war, als Tristan ihn in Erinnerung hatte, der Lümmel war auch noch unverheiratet. Tristan fühlte sich von Reeves hinters Licht geführt und versuchte nun die Situation zu akzeptieren, so gut es ging. Leider stellte sich bald heraus, dass das Schicksal gegen ihn war, vor allem als der attraktive junge Squire die Kühnheit besaß, praktisch in Prudences Dekollete zu tauchen, als Tristan ihr aus dem Mantel half.

Das war kein guter Anfang. Selbst wenn Tristan dem Mann aus maskuliner Sichtweise keinen Vorwurf machen konnte, hatte ihn diese Dreistigkeit trotzdem erbost. Zum Glück hatte der Squire Tristans warnenden Blick aufgefangen und sich hastig zurückgezogen, allerdings nicht, ohne Prudence noch ein paar bewundernde Seitenblicke zuzuwerfen. Tristan spielte mit dem Gedanken, den Kerl auf der Stelle nach draußen zu zerren und ihm zwei schöne Veilchen zu verpassen, doch es kam noch schlimmer.

Kaum hatte er Prudence durch eine, wie er meinte, Gas-se lüsterner Männer geführt, als ihnen Dr. Barrow den Weg verstellte. Der junge Arzt war offensichtlich überrascht von Prudences Aufzug und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, ihre kostbare Zeit ganz für sich allein zu beanspruchen. Der Doktor war eine ernstere Bedrohung als der Squire, da Tristan den Mann nicht abwimmeln konnte, sosehr er sich auch bemühte.

Nun, dann blieb er eben einfach neben ihr stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Irgendwann musste der verdammte Narr ja einen von Tristans bösen Blicken auffangen. Verdammt, mit seinen bösen Blicken hatte er die Korsaren fast zu Tode geängstigt! Wie konnten sie einen simplen Landarzt vollkommen kaltlassen?

Allmählich fragte Tristan sich, ob der Arzt vielleicht kurzsichtig war. Möglicherweise sah der schwächliche Narr einfach nicht gut genug, um zu erkennen, dass er in ernsthafter Gefahr schwebte. Wenn das der Fall war, würde er wohl ein, zwei Worte verlieren müssen, um dem Schwachkopf den richtigen Weg zu zeigen. Doch wie sollte er das anfangen, ohne dass Prudence etwas mitbekam?

Die nächste Viertelstunde verbrachte er damit, sich einen Plan zurechtzulegen, und als schließlich verkündet wurde, dass das Dinner bereit sei, wusste er, was er zu tun hatte. Leider war ihm dabei für einen kurzen Moment entfallen, dass sich die Sitzordnung an der gesellschaftlichen Rangordnung orientierte. Und nach der stand ein Earl um einiges höher als eine einfache Witwe. Dies wiederum hatte zur Folge, dass er von einer pferdegesichtigen Frau eingefangen wurde, welche die Kühnheit besaß, Prudence dem Arzt praktisch in die Arme zu drängen, ehe sie Tristan aus dem Zimmer zerrte, die Finger in seinen Ellbogen gekrallt.

Diese Manöver gefielen Tristan überhaupt nicht. Kein Wunder, dass sich der Adel dauernd zu Duellen und was nicht allem herausforderte. Die Regeln der Gesellschaft waren barbarisch, gelinde ausgedrückt, vor allem wenn sie einen Mann dazu zwangen, am entferntesten Ende der Tafel zu sitzen und zuzusehen, wie sein Mädchen von einem Pack hungriger Wölfe umzingelt wurde.

Es war unerträglich. Jedes Mal, wenn Prudence lachte, war er zwischen Sehnsucht und Argwohn hin und her gerissen. Als die Männer sich in die Bibliothek verabschiedeten, um dem Portwein zuzusprechen, war Tristan so weit, dass er am liebsten Kehlen durchtrennt hätte. Zumindest hinderte ihn jetzt Prudences Nähe nicht mehr daran, das zu tun, was er von Anfang an hatte tun wollen.

Tristan trat zum Doktor. Dieser nichtswürdige Mensch stand am Kamin und nippte auf, wie Tristan fand, entsetzlich weibische Art an einem Brandyglas.

Der Doktor war tief in Gedanken und bemerkte nicht, dass Tristan sich näherte. Er beugte sich vor und rief dem Mann mit tönender Stimme ein „Doktor!“ ins Ohr.

Dr. Barrow zuckte zusammen, das Glas entglitt seinen Händen und zerschellte vor dem Kamin.

Tristan sah auf die Scherben und trat einen Schritt zur Seite, als ein Dienstbote herbeigeeilt kam, um den Schaden zu beseitigen.

Das Gesicht des Doktors war tiefrot. Verlegen sah er sich im Raum um, ehe er sich Tristan zuwandte. „Lord Rochester. Sie haben mich überrascht.“

„Das erstaunt mich“, murmelte Tristan. „Sie mussten doch wissen, dass ich auf Sie zukommen würde. Sie haben Mrs. Thistlewaite heute besondere Aufmerksamkeit erwiesen. Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie damit aufhören würden.“

Der Arzt blinzelte. „Aufhören? A...aber ich habe doch nie ...“

„,Nie‘ ist ein wunderbares Wort. Wollen wir es dabei belassen, ja?“ Tristan trank sein Glas aus und stellte es auf dem Kaminsims ab.

„Mylord! Dagegen muss ich protestieren! Meine Beziehung zu Mrs. Thistlewaite ist ...“

„Vorbei.“ Tristan beugte sich vor. Seine Stimme war bedrohlich leise geworden. „Ich habe einmal einem rivalisierenden Piratenkapitän die Kehle durchschlitzt, weil er meine Ladung gestohlen hatte. Von hier“, er legte den Finger an den Hals des Doktors, direkt unterhalb des linken Ohrs, „bis hier.“ Tristan glitt mit dem Finger über die Kehle des Tölpels, bis er an der rechten Seite die gleiche Stelle erreicht hatte.

Der Arzt machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu.

Die Geschichte stimmte natürlich nicht. Aber der Narr schien sie ihm doch abzunehmen.

Dr. Barrow war so bleich geworden, dass er aussah, als könnte er jeden Moment umkippen. „Sie ... Sie ... Sie ... ich ... ich ... ich muss gehen.“

Tristan zuckte mit den Schultern. „Sie brauchen noch nicht zu gehen. Sie können warten, bis ..."

Doch der Doktor war schon auf der anderen Seite des Raums, wo er lebhaft auf den Squire einsprach, woraufhin dieser Tristan ziemlich erstaunt musterte.

Tristan lächelte, als die Herren wieder zu den Damen stießen, doch sein Triumph war nur von kurzer Dauer.

„Was hast du gemacht?“, zischte Prudence ihn keine fünf Minuten später an.

„Ich?“

Sie runzelte die Stirn noch ein bisschen energischer.

„Ich habe bloß die Wahrheit gesagt.“

„Du hast Dr. Barrow angedroht, dass du ihm die Kehle von da nach da ..." Zornig funkelte sie ihn an. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“

Tristan zog ein finsteres Gesicht. Gedacht hatte er sich eigentlich gar nichts dabei. Er hatte lediglich reagiert. Natürlich, wenn er es sich jetzt so durch den Kopf gehen ließ, hatte er vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber nur ein bisschen, und der Teufel sollte ihn holen, wenn er das Prudence gegenüber einräumte. Nicht solange sie ihn ansah, als wollte sie ihn am liebsten vierteilen.

„Er war unverschämt dir gegenüber.“

Sie blinzelte. „Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen! “

Sie verschränkte die Arme, was ein bisschen unglücklich war, weil sie damit ihre Brüste so nach oben drückte, dass sie in dem tief ausgeschnittenen Kleid besonders gut zur Geltung kamen. „Du hast es selbst gesehen? Wann denn?“ „Na, vor und während des Dinners. Er hat deine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag genommen. Ich konnte ja kaum ein Wort in die Unterhaltung einflechten. Der Lümmel!“

Sie schloss die Augen, griff sich an die Nasenwurzel und atmete tief durch.

Tristan wurde besorgt. „Prudence? Alles in Ordnung mit dir?“

„Nein. Ich habe Kopfschmerzen und möchte nach Hause.“ „Gut! “ Als er ihren empörten Gesichtsausdruck sah, fügte er hastig hinzu: „Ich hole deinen Mantel.“

Sie entschuldigten sich und verließen das Haus, sehr zu Tristans Befriedigung und anscheinend zur Erleichterung ihres Gastgebers. Prudence wirkte angespannt und unglücklich, und Tristan konnte nur annehmen, dass ihr der Kopf ernsthaft wehtat.

Schweigend saßen sie in der Kutsche. Prudence sah starr aus dem Fenster, die Lippen rebellisch zusammengepresst. Tristan beobachtete sie aus seiner Ecke. Vermutlich hätte er nicht so eigenwillig handeln dürfen, aber er hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. Der Doktor hätte Prudence ja beinah angegrapscht! Und was die anderen betraf, ja, du liebe Zeit, es war einfach unerträglich gewesen! Tristan war auch nur ein Mann, und seine Geduld hatte Grenzen.

Wenn er sich überlegte, was er alles hätte tun wollen, aber nicht getan hatte, war er mit der Situation doch ziemlich gut fertig geworden.

Prudence sah ihn an. „Ich kann nicht fassen, dass du den armen Dr. Barrow bedroht hast! “

„Der Mistkerl will dir an die Wäsche, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.“

Sie errötete. „Wir haben uns nur unterhalten. Ich sehe ihn ziemlich oft bei uns zu Hause, weil er Mrs. Fieldings’ Küche sehr zu schätzen weiß. “

Tristan verschränkte die Arme. „Das ist ja wohl nicht alles, was er zu schätzen weiß. Dauernd ist er um dich herumscharwenzelt, hat dich angestarrt und angegiert. So ein Benehmen ist mir ja noch nie untergekommen ...“

„Nein? In all den Tavernen, in denen du schon warst, all den Etablissements von zweifelhaftem Ruf ist dir so etwas wirklich noch nie begegnet?“

„Ich würde nicht wollen, dass man mich mit jemandem vergleicht, der in Etablissements von zweifelhaftem Ruf ver-kehrt“, erwiderte er und hielt dann inne. Lieber Himmel, war das wirklich er, der da so steif und verknöchert klang? Was, zum Teufel, war nur los mit ihm?

Prudence rümpfte die Nase. „Und ich würde nicht mit einer derartigen Doppelmoral leben wollen. Meine Güte, ich bin kein grünes Ding mehr, das man retten muss. Ich bin über dreißig und durchaus in der Lage, mich selbst um mich zu kümmern.“

„Der Mann hat dich belästigt.“

„Nein, er hat mir Aufmerksamkeit gezollt. Da besteht ein gewisser Unterschied, weißt du.“ Störrisch reckte sie das Kinn. „Außerdem hast du in keinem Fall das Recht, dich einzumischen, so oder so. Ich werde mit meinen Verehrern schon selbst fertig, vielen Dank.“

Tristan biss die Zähne zusammen, damit ihm nicht etwas von dem entschlüpfte, was ihm auf der Zunge lag. Nichts davon wäre irgendwie hilfreich gewesen. Verdammt, er war jetzt ein Earl. Ein Earl konnte doch sicher Dinge tun, die einem Captain verwehrt blieben!

Aber nein, er wollte nicht genauso denken wie sein Vater. Es gab Benimm, und es gab Gesetze. Da er kein Gentleman war, brauchte er sich um die Benimmregeln nicht zu kümmern. Doch die Gesetze - nein, über denen sollte nicht einmal ein Earl stehen.

Er lehnte den Kopf an das Polster und betrachtete Prudence. Die saß zornig im gegenüberliegenden Eck der Kutsche.

Sie sah so ... schön aus. Ohne noch einmal nachzudenken, beugte Tristan sich vor, hob sie hoch und setzte sie auf dem Platz direkt gegenüber wieder ab. „Jetzt können wir reden.“

Sie keuchte empört auf. „Was fällt dir ein?“

„Ich wollte nur unsere Sitzordnung ein wenig angenehmer gestalten.“

„Für wen?“

Er brachte ein Grinsen zustande. „Für uns beide. Ich kann dich nicht hören, wenn du in der gegenüberliegenden Ecke sitzt.“

Sie legte die Handflächen auf die Sitzbank und rückte noch weiter weg von ihm als zuvor. „Ich kann dich von hier aus einwandfrei hören. Wenn einer der Männer von heute Abend mich so behandelt hätte wie du jetzt, wäre es durchaus im Rahmen gewesen, sie wegen ihres ekelhaften und rücksichtslosen Benehmens zur Rechenschaft zu ziehen. Aber allein deswegen wilde Drohungen auszustoßen, weil jemand ein freundliches Wort zu mir sagt - nein, das dulde ich nicht. Niemals.“

Tristan fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wünschte sich, er könnte seine Gefühle besser erklären. Das Problem war nur, dass er sich selbst nicht genau im Klaren darüber war, was genau er eigentlich empfand. „Prudence ...“

„Und noch etwas. In der Öffentlichkeit schickt es sich nicht, mich Prudence zu nennen und mich zu duzen. Also bitte Mrs.Thistlewaite.“

Er starrte auf seine Stiefel. Sein Ärger schwand von Minute zu Minute. Vielleicht hatte er wirklich überreagiert. Er seufzte. „Habe ich dich in Verlegenheit gebracht?“ „Allerdings!“

Er zuckte zusammen. „Tut mir leid. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich sehe es eben nicht gern, wenn andere Männer dich respektlos behandeln.“

„Und ich sehe es nicht gern, wenn du dich einmischst, wo du nichts verloren hast. Ich bin nicht einer deiner kriegsversehrten Matrosen, um die du dich kümmern musst! “

Das erboste ihn. Etwas mehr als Ärger durchzuckte ihn. „Prudence, ich habe mich entschuldigt. Mehr kann ich nicht tun.“

„Ich nehme deine Entschuldigung nicht an.“

„Nein?“

„Nein.“ Sie wandte sich von ihm ab, hob den Ledervorhang vor dem Fenster an und sah mit steinerner Miene hinaus in die Nacht.

Verdammt! Er hatte nicht gewollt, dass der Abend so endete. Sein Blick wanderte über sie hinweg, sah die Schwellung ihrer Brüste durch den offen stehenden Mantel, die zarten Grübchen an ihren Schultern, die elegante Linie ihres Halses. Es juckte ihm in den Fingern, und ihm war ein wenig schwindelig von dem Wein und dem Brandy.

Bevor er selbst wusste, was er tat, hatte er schon nach ihr gegriffen und sie erneut hochgehoben, nur dass er sie sich diesmal entschlossen auf den Schoß setzte.

Einen Augenblick war sie wie benommen, dann erklärte sie empört: „Das ... das kannst du doch nicht machen!“

„Ich habe es grade gemacht“, meinte er selbstzufrieden und küsste sie auf den Hals unterhalb ihres Ohrs.

Sie keuchte und riss die Augen auf.

„Tut mir leid, wenn ich dich heute Abend in Verlegenheit gebracht habe, meine Liebste“, murmelte er an ihrem Hals.

Sie strampelte, wie um sich aus seinem Griff zu befreien, doch er fasste sie noch fester und küsste sie unter dem Kinn und dem Ohr.

„Mylord ...“

„Tristan“, verbesserte er und knabberte vorsichtig an ihrem Ohrläppchen.

Prudence knirschte mit den Zähnen und hielt verzweifelt an ihrem Ärger fest. Sie war außer sich vor Zorn, und das mit gutem Grund, sagte sie sich, obwohl ihr im selben Moment eine Gänsehaut über den Rücken lief. Seine Lippen wanderten an ihrem Hals hinab zum Schlüsselbein, und trotz aller guten Vorsätze hob sie das Kinn, damit er auch dort mit seinen Liebkosungen fortfahren konnte.

Wellen des Entzückens überliefen sie, und ihre Brustspitzen wurden hart. Er hat sich einfach grässlich benommen, sagte sie sich, verzweifelt bemüht, bei Vernunft zu bleiben. Aber ... er hatte sich auch entschuldigt. Sie durfte nicht vergessen - sie und Reeves mochten ihm Benimm beigebracht haben, ihn zu zivilisieren war ihnen hingegen nicht gelungen, trotz der Umstände.

Seine Lippen streiften ihre Ohrmuschel, ihre Schläfe, sein Atem war warm und verführerisch. Ihr Ärger schmolz noch ein Stückchen dahin. Seine Hände fühlten sich durch die dünne Seide ihres Kleides äußerst angenehm an, und sein Mund tat unaussprechlich Köstliches mit ihr. Sie sollte sich gegen ihn wehren, sollte verlangen, dass er sie sofort losließ. Doch sie konnte nicht. Sie konnte deswegen nicht, weil ihr verräterischer Körper sich einfach weigerte, auf ihren Verstand zu hören. Die Fähigkeit, zu denken und vernünftige

Argumente zu formulieren, verließ sie. Ihre Vernunft musste dem Ansturm ihrer Gefühle weichen, die so mächtig waren, so stark, dass sie ihnen hilflos ausgeliefert war. Sie war gefangen im Netz der Lust, versank im Honig der Begierde. Eigentlich hatte sie gedacht, sie könnte ihr Verlangen stillen, wenn sie ihm ein einziges Mal nachgab. Stattdessen sehnte sie sich nun umso mehr nach ihm.

Doch was spielte das für eine Rolle? Er hatte sie an diesem Abend in Verlegenheit gebracht, obwohl sie die ihr gezollte Aufmerksamkeit ganz insgeheim auch ein wenig erregte. Um die Wahrheit zu sagen: Als sie die finsteren Blicke gesehen hatte, mit denen Tristan ihre Tischherren beim Dinner bedachte, hatte sie viel heftiger geflirtet, als sie es sonst tat.

Merkwürdig, wie sie dieses Verhalten sowohl genoss als auch verabscheute. Sie genoss es, weil sie sich in diesem Augenblick - als er sie voller Begehren angesehen hatte - mächtig und sogar schön gefühlt hatte. Beides kam nicht oft vor, und sie würde diese Momente im Herzen bewahren. Doch gleichzeitig war es ihr unangenehm, dass ihr derartige Dinge so viel bedeuteten.

Tristan strich ihr mit seinen großen, warmen Händen über den Rücken bis zur Taille. Dort verstärkte er seinen Griff und zog sie dichter an sich. Vor Sehnsucht war ihre Kehle wie zugeschnürt, und ihr wurde schwindelig. Sicher würde er das jetzt nicht tun, würde nicht noch weitergehen ...

Er schob die Hand in ihr Haar, worauf sich die Haarnadeln lösten und auf den Boden fielen. Frei und ungebändigt wallte ihr das Haar über die Schultern. Mit der anderen Hand strich er an ihrem Bein entlang und schloss sie fest um ihren Knöchel. Der Anblick seiner Hand an ihrem Knöchel war merkwürdig erregend, und noch erregender war es, als er die Hand unter ihrem Rock hinaufwandern ließ zu ihrer Wade, ihrem Knie.

Prudence zitterte, sie atmete stoßweise, und sie wünschte sich mit Leib und Seele, dass seine Berührungen von Dauer wären. Und noch kühner würden.

Sie wollte ihn, aber ... sie dachte an seine Miene auf der Dinnergesellschaft und wie besitzergreifend er gewesen war.

Würde das hier die Sache nicht noch schlimmer machen? Oder würde es noch weiter den Druck verstärken, der sich immer mächtiger zwischen ihnen aufbaute, die Spannung, die gewachsen war, seit sie zum ersten Mal voller Kampfeslust bei ihm an der Haustür erschienen war?

Diese Gedanken kühlten sie ein wenig ab, und sie fing seine Hand ein, die gerade zu ihrem Oberschenkel gleiten wollte. „Über eines müssen wir uns klar sein, ehe wir hier weitermachen.“

Seine Augen wurden schmal, und Prudences Herz schlug noch schneller. Der Mann hatte etwas Bedrohliches an sich, eine dunkle Kraft, die sie beinah ebenso anzog, wie sie ihre Sinne zu überwältigen drohte. Doch sie wollte sich nicht einschüchtern lassen.

Sie ignorierte ihr klopfendes Herz, straffte die Schultern und wand sich aus seiner Umarmung. Dann schob sie sich ein Stück fort von ihm - sie brauchte sicheren Abstand, um sich zu sammeln. In seiner Nähe hatte sie schon Mühe, sich zu erinnern, wer sie war, wer er war.

Nicht, dass sie das davon abgehalten hätte, ihn zu begehren, das nicht. Aber es war wichtig, dass sie sich beide bewusst darüber waren, welche Art von Beziehung sie führten. Sie räusperte sich. „Ich glaube, uns beiden muss klar sein, dass diese ... diese Tändelei nicht mehr ist als eben das.“ Obwohl ihr Gesicht vor Verlegenheit brannte, gelang es ihr, ihm ruhig in die Augen zu sehen. „Verstehst du?“

Um seine Lippen spielte ein amüsiertes Lächeln. „Du bist mir ein Rätsel, meine liebreizende Prudence. Ich dachte, Ladies ...“

„Ich bin keine Lady.“ Seit sie London verlassen hatte, war Prudence zum ersten Mal von Herzen froh über diesen Umstand. Und gemäß dem Diktat der vornehmen Gesellschaft stimmte das ja auch.

Er runzelte die Stirn. „Natürlich bist du eine Lady Eine der feinsten, die mir je begegnet sind.“ Er streckte die Hand aus, griff nach einer Locke von ihr und hob sie an die Lippen. „Aber du bist auch eine Frau, und darin liegt der Unterschied zu all den quäkenden Katzen, vor denen die Gesellschaft ihre Kratzfüße macht. Die sind doch nicht echt, wollen es auch gar nicht sein. “

Ihr Magen brannte, als er sich mit ihrer Locke über die Wange strich und ihr dabei tief in die Augen sah. „Prudence, ich will dich.“

Die Worte schwappten über sie. Seine Stimme war dunkel und zog sie zu ihm. Sie zitterte. Heiße Leidenschaft überrollte sie, von oben, von unten, von außen, von innen. Ihr wurden die Knie schwach. Sie wollte ihn auch. Und warum auch nicht? Sie war schließlich keine unberührte Unschuld mehr. Sie war berührt worden. Von Phillip.

Früher hätte der Gedanke an Phillip sie vielleicht an dieser Stelle innehalten lassen, und sie hätte sich schuldig und allein gefühlt. Doch nun feuerte sie der Gedanke nur noch an. Phillip hätte nicht gewollt, dass sie zu leben aufhörte, nur weil er gestorben war.

Trotzdem fand sie sich nun vor eine ziemlich komplexe Wahl gestellt. Anders als in ihrer Beziehung zu Phillip hatten sie und Tristan keine gemeinsame Zukunft. So groß die körperliche Anziehung auch sein mochte, es konnte nicht sein. Er war ein Earl, dem die Treuhänder zur Auflage gemacht hatten, dass er sich nahtlos in die vornehme Gesellschaft einfügte. Von ihr konnte man Letzteres nun wahrlich nicht behaupten. Die Treuhänder würden sie niemals billigen, zumal sie ja auch bestens informiert waren über ihre öffentliche Schande.

Was blieb ihr dann? Im Lauf der letzten Wochen hatte sie die Matrosen in Tristans Haushalt recht gut kennengelernt, und sie waren ihr inzwischen ebenfalls ans Herz gewachsen. Da war zum Beispiel Toggle, der ein bisschen durcheinander war, aber immer eine Seele von Mensch. Dann der einarmige Gibbons; sie machte sich Sorgen um ihn, weil er so mutlos war. Adkins mit den vielen Narben, der so gern lachte. Und Stevens, bei dem sie sich immer willkommen fühlte. Sie alle waren ihr wichtig geworden. Wenn sie Tristan weiter ermutigte, könnte das seine Chancen auf das Vermögen schmälern. Sie konnte es nicht verantworten, dass die gebeutelten Männer noch mehr Leid erdulden mussten.

Ihr blieb jetzt nichts anderes übrig, als sich einzugestehen, dass die Anziehung, welche dieser wunderbare, intelli-gente Mann in ihr weckte, rein körperlicher Natur war. Ein kurzfristiger Genuss, mehr nicht. Und sobald die Treuhänder kamen, wäre es vorbei, ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte.

Ihr tat das Herz weh, als sie ihn im flackernden Licht der Kutschlampe betrachtete, seine Augen bewunderte, seine schöne Nase, das energische Kinn.

Er hob die Hand an die Wange. „Was ist los? Du siehst aus, als hättest du eine furchtbare Entdeckung gemacht.“

Sie lächelte freudlos. Die Kutsche schwankte ein wenig, weil sie um eine Kurve der engen Straße bogen. „Vielleicht sind es eher die Konsequenzen, die mich schrecken.“ Tristan nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen. „Prudence, ich habe mich heute Abend wie ein Narr aufgeführt. Kannst du mir verzeihen? Ich kann dir nicht versprechen, dass ich nie mehr eifersüchtig sein werde, aber wenn ich etwas unternehme, dann zu einer angemesseneren Zeit und an einem angemesseneren Ort.“ Sein Atem blies warm auf ihren Handrücken. „Ich weiß, dass ich dich verärgert habe. Lass es mich wiedergutmachen.“

„Vielleicht“, erwiderte sie und lächelte selbst ein wenig, als sie merkte, wie heiser ihre Stimme klang. „Aber nur zu meinen Bedingungen. “

Seine Miene verfinsterte sich ein wenig, doch er lächelte noch. „Du bist im Herzen eine Kriegerin, nicht, meine Liebe? Dir ist es fast wichtiger zu kämpfen, als zu atmen.“

„Ich verliere nicht gern“, erklärte sie, während die Kutsche über eine Unebenheit holperte. „Wer tut das schon?“ „Und mit mir die Liebe zu genießen wäre für dich wie verlieren?“ Ein tiefes Lachen entschlüpfte ihm. „Ich glaube, du musst die Bedeutung des Wortes ,verlieren' noch einmal überdenken. Oder vielleicht“, sein Blick fiel auf ihre Lippen, und sein Blick verdunkelte sich, „vielleicht sollte ich das Wort für dich neu definieren.“

Ihr Herz schlug schneller, ihre Brüste prickelten verheißungsvoll. Kühn sah sie ihm in die Augen, obwohl es ihr schwerfiel, ihre Atemlosigkeit zu überspielen. „Was hast du vor?“

Zur Antwort funkelten seine grünen Augen, und dann senkte er die dichten schwarzen Wimpern. Ganz langsam streckte er den Arm aus und zog ihr den Mantel aus. Behutsam strichen seine Finger über ihre Kehle, ihre Schultern, er liebkoste beim Ausziehen jede Stelle, die er erreichte. Seine Bewegungen waren genießerisch, träge und sinnlich.

Sie würden sich lieben. Das wusste sie so sicher, dass es ihr den Atem raubte. Eine Welle der Erwartung überrollte sie, deren Intensität sie überraschte. Schon die Vorstellung, mit diesem Mann das Lager zu teilen, war eine Qual und eine Freude, wie sie noch keine erlebt hatte.

Tristan legte den Mantel beiseite und zog sie an seine Seite. So ohne Mantel und ohne seine wärmenden Hände zitterte sie ein wenig und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah zu, wie Tristan den Mantel eng zusammenrollte. „Was machst du da?“

Er grinste sie so strahlend an, dass ihr das Herz bis zum Hals klopfte. „Ich lege die Schlachtlinie fest, meine Liebe.“ Die Schlachtlinie. Irgendwie gefiel ihr das.

Er rutschte auf der Bank ein Stück zur Seite und schob ein Ende seiner „Schlachtlinie“ über die Kopfpolsterung, führte es senkrecht nach unten und steckte es zwischen Wand und Sitz fest. Den Rest ließ er über den Sitz nach unten hängen.

„So“, sagte er, als er fertig war, und lehnte sich zurück, um sein Werk zu begutachten.

Sie sah auf die roten Samtpolster und ihren zusammengerollten Mantel. „Also ... diese Hälfte der Polster gehört mir.“ „Und die Seite gehört mir“, erwiderte er und klopfte auf den Sitz neben seinem Oberschenkel.

Ihr wäre es wirklich lieber gewesen, wenn er ihre Aufmerksamkeit nicht auf seinen Oberschenkel gelenkt hätte. Er hatte einfach unglaubliche Muskeln dort, die von den anliegenden Kniehosen auch noch betont wurden. Sie musste schlucken, ehe sie fortfahren konnte: „Und nun wollen wir Krieg führen? Auf den Sitzpolstern?“

„Ich würde es lieber als Ringkampf betrachten. Und wer sich besser beherrschen kann. “

Nun, das klang ziemlich vielversprechend. Trotz ihrer Bedenken lächelte Prudence ein wenig. „Ich glaube nicht, dass es ein gerechter Kampf wäre. Du bist schließlich ein ganzes Stück größer als ich.“

„Vielleicht ist Ringkampf auch das falsche Wort. Besser wäre vielleicht ... Verlockung.“ Er musterte sie mit glühendem Blick. „Das Spiel geht so: Wir sehen, wer wen dazu verlocken kann, die Linie als Erster zu überqueren.“ Verlocken. So ein kleines Wort. Und doch so voller Möglichkeiten. Prudence rauschte das Blut in den Ohren. „Was genau meinst du mit ,verlocken? Es könnte ja eine ganze Menge verschiedene ..."

Er löste sein Krawattentuch.

„Oh!“, stieß sie hervor. Sie blickte zu den Fenstern, vor denen die Ledervorhänge festgehakt waren. „Ich weiß nicht, ob wir wirklich ... “

Er warf das Krawattentuch beiseite. Im nächsten Moment hatte er die Weste abgestreift und auf das gegenüberliegende Sitzpolster geworfen. „Wer die Linie aus eigenem Antrieb als Erster überquert, hat verloren. Obwohl“, er lächelte mit blitzenden Zähnen, während er das Hemd aus dem Hosenbund zerrte und es sich über den Kopf zog, „in diesem Krieg gewinnen wir alle beide, meine Liebste.“