7. KAPITEL
Immer recht zu behalten ist eine sehr delikate Angelegenheit, vor allem wenn man es mit einem erstklassigen und, so möchte man hoffen, stolzen Gentleman zu tun hat. Ein guter Butler wird wissen, wie er den Anschein erwecken kann, alle Entscheidungen seien von seinem Dienstherrn getroffen worden - oder zumindest von ganzem Herzen gebilligt, selbst wenn das nicht der Fall ist.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Wenige Augenblicke bevor Prudence vom Stuhl fiel, hatte Tristan im Hof gestanden und voller Zorn auf die Scheune gestarrt. Dort drinnen waren die Dienstboten seines Vaters, und das fühlte sich irgendwie verkehrt an. An diese dunkle Phase seines Lebens wollte er durch nichts erinnert werden.
Etwas strich an seinem Bein vorüber, und er blickte nach unten. „Ah, Winchester.“ Der Kater schnurrte laut und rieb seinen orange-weiß getigerten Kopf an Tristans Stiefel. Tristan verlagerte das Gewicht gegen das Tor, hob den Kater hoch und kraulte ihn abwesend hinter dem recht zerfledderten Ohr. „Immer mit der Ruhe“, murmelte Tristan dem Kater zu. „Wir bewegen uns auf unbekanntem Terrain, so viel ist sicher. Aber wir haben schon schlimmere Stürme überstanden. Wir kommen klar, du wirst schon sehen.“
Winchester zuckte nervös mit dem Ohr, worauf Tristan dem Kater energisch den Kopf kraulte und ihn wieder auf den Boden setzte.
„Da sind Sie ja, Käpt’n!“, rief Stevens aus, der eilig auf ihn zukam.
„Aye, hier bin ich“, bestätigte Tristan, den Blick fest auf das breite Eichentor der Scheune gerichtet. Von der anderen Seite kamen die verschiedensten Geräusche: Hämmern und Sägen und alles mögliche andere. Was, zum Teufel, trieb dieser Reeves da?
„Käpt’n, Sie werden es nicht glauben, aber ..." Aus der Scheune ertönte ein lauter Schlag, und Stevens wandte den Kopf. „Was ist denn da drinnen los?“
„Keine Ahnung, aber ich werde es herausfinden.“ Tristan packte seinen Stock fester und richtete sich auf. „Stevens, allmählich glaube ich, dass es ein Fehler war, Reeves und seine Entourage in der Scheune unterzubringen. “
„Das hab ich mir auch schon gedacht, Käpt’n. Was meinen Sie denn, was der da drinnen treibt?“
„Ich weiß es nicht. Er hat mich nur um Erlaubnis gebeten, da drinnen ein wenig sauber machen zu dürfen, mehr hat er nicht gesagt. Jetzt allerdings ist es an der Zeit, herauszufinden, was er vorhat.“ Tristan ging zum Tor. Gerade als er die Hand auf den großen, rostigen Eisenring legte, änderte der Wind seine Richtung und wehte einen höchst erstaunlichen Geruch heran.
Stevens reckte die Nase in die Luft und atmete geräuschvoll ein. „Meine Güte, Käpt’n“, erklärte er ehrfürchtig, die Augen halb geschlossen, „was ist denn das?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Tristan verwirrt. Er öffnete die Tür und betrat die Scheune. Erstaunt blieb er stehen.
Der gesamte Raum war gesäubert, vom Boden bis zu den Dachsparren geschrubbt worden. Die Heuballen - die wenigen, die übrig waren - waren an der gegenüberliegenden Wand säuberlich aufeinandergestapelt worden. Auch das Zaumzeug befand sich dort; es war ordentlich an neu eingeschlagenen Haken aufgehängt worden. Der Großteil der Scheune stand nun leer - oder hätte leer gestanden, wenn nicht jemand in regelmäßigem Abstand Fässer aufgestellt und über diese Fässer glatte Planken gelegt hätte. Auf diese Weise war eine riesige Tafel entstanden, die sich an der ganzen Wand entlangzog.
Reeves hatte die Scheune in einen Speisesaal verwandelt. Noch beunruhigender allerdings war das Gewimmel der livrierten Dienstboten, die den Eindruck vermittelten, als wäre eine ganze Armee unterwegs.
„Verdammt“, sagte Tristan. Was erhoffte Reeves sich bloß von so einem lächerlichen Ding wie einem Speisetisch, an dem dreißig bis vierzig Personen Platz finden konnten?
Stevens versteifte sich. „Käpt’n, schauen Sie mal nach Steuerbord! Da ist ja Toggle, der faule Fuchs! “
An einem der Fässer saß ein großer, pausbäckiger Mann, vor sich einen Teller, eine Serviette unter dem Kinn. Über seinem dicken Bauch spannte sich ein schmutziges weißes Hemd, das von einem über knielangen Gehrock nur unzureichend verdeckt wurde. Sein Ensemble war kaum abgerissener als er selbst, denn sein graues Haar war unsauber um seinen Melonenschädel geschnitten, stand im Nacken kerzengerade nach oben und hätte einmal einen Kamm gebrauchen können.
Er machte große Augen, als er Tristan sah, und kam stolpernd auf die Füße, Messer und Gabel immer noch in den Händen, das Kinn glänzend vor Fett. „Käpt’n! Ich hätte nicht gedacht... ich meine, was machen Sie denn hier draußen?“
Tristan packte seinen Stock fester, während Stevens einwarf: „Toggle, du Dummkopf. Was meinst du, wem die Scheune gehört, in der du da rumsitzt?“
Der ehemalige Bootsmann sah sich mit großen Augen um. „Na, höchstwahrscheinlich dem Käpt’n, wo sie doch auf seinem Hof steht.“
„Genau, dem Käpt’n, du Trottel!“, rief Stevens mit rotem Gesicht. „Und jetzt leg die Gabel hin, und steh auf wie ein echter Seemann, sonst lass ich dich kielholen und auspeitschen, bis du nicht mehr geradeaus sehen kannst! “
„Master Stevens. Ich ... ich ... ich hab doch nur ... “ Toggle merkte, dass er mit der Gabel herumfuchtelte, und legte sie hastig auf dem Tisch ab. „Ich hab Master Reeves’ Koch doch nur dabei geholfen, das neue Rezept für hoffnungsvoll blickte er an Tristan und Stevens vorbei, „wie heißt das noch mal, Master Reeves?“
„Bœuf à la polonaise. “ Reeves ging an Tristan und Stevens vorbei und trat zum Fass. Er hob die Servierhaube vom Teller in der Mitte, woraufhin ein köstlicher Duft aufstieg. „Mylord. Master Stevens. Vielleicht möchten Sie das Rezept ebenfalls ausprobieren? Es besteht aus einer wunderbaren Weinsoße mit ..."
„Nein, möchten wir nicht.“ Tristan warf dem Butler einen finsteren Blick zu. „Wie viele Dienstboten haben Sie mitgebracht?“
„Einundzwanzig, Mylord. So vieler bedarf es, wenn man einen neuen Haushalt einrichten will. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie bereits über eigenes Gefolge verfügen, hätte ich den einen oder anderen Lakaien zurückgelassen.“
„Ich habe Ihnen nicht gestattet, meine Scheune in einen Speisesaal zu verwandeln.“
„Nein, Mylord. Nachdem Sie aber der Earl of Rochester sind, schien es mir nur passend ... “
„Was?“ Stevens blieb die Luft weg. „Der Käpt’n ist ein Earl?“
Reeves nickte bedächtig. „In der Tat. Er wurde soeben der siebte Earl of Rochester. Außerdem erwartet ihn noch ein beträchtliches Vermögen. “
Stevens trat einen Schritt zurück und presste die Hand ans Herz. „Ein Earl!“
„Nun beruhigen Sie sich wieder“, knurrte Tristan und sah sich um, obwohl nur Toggle und Stevens in Hörweite waren.
Toggle steckte die Serviette fester unters Kinn. „Master Reeves hat mir alles über das Glück des Käpt’n erzählt, dass er jetzt zu den erstklassigen Noblen gehört und sich zu jedem Essen Soße servieren lassen kann, wenn er will, und ...“
„Das reicht! “ Tristan schaute Toggle fest in die leicht glasigen Augen. „Ich will nicht, dass sich das herumspricht. Verstanden?“
Toggle nickte gehorsam, doch seine Aufmerksamkeit driftete bereits zu seinem Teller zurück. „Ich verrat’s keinem,
Käpt’n. Keiner Menschenseele. Aber ... darf ich jetzt meine Verpflegung aufessen?“
Verdammt, konnte man denn seine ganze Mannschaft mit etwas so Simplem wie einer schmackhaften Soße auf seine Seite ziehen? Was für Männer waren das denn? „Reeves! Das dulde ich nicht!“
Reeves hob die Brauen. „Was wollen Sie nicht dulden, Mylord? Die Soße? Also schön. Ich sage dem Koch, dass Ihnen nichts an bœuf à la polonaise liegt. Allerdings glaube ich, dass es Ihnen durchaus munden könnte, wenn dazu der richtige Wein gereicht ..."
„Ich will überhaupt keine Soße, weder mit noch ohne bœuf à la polonaise. Reeves, ich will, dass Sie und Ihre Leute meine Scheune verlassen.“ Tristan warf Toggle einen weiteren finsteren Blick zu. „Sie können Ihre Ration aufessen, aber das war’s dann. Danach machen Sie sich gefälligst wieder an die Arbeit!“
„Aye, Käpt’n!“ Dankbar ließ Toggle sich auf seinen Platz zurücksinken und schaufelte sich das Essen in den Mund, so schnell er konnte.
Reeves seufzte. „Mylord, ich fürchte, Sie verstehen meine Absichten völlig falsch. Ich wollte Ihnen nur einen kleinen Vorgeschmack liefern auf das, was sein könnte.“
„Sie wollten meine Leute auf Ihre Seite ziehen und damit auch mich umstimmen. “ Tristan glaubte, er könnte den Butler auf diese Weise in Verlegenheit bringen, doch Reeves lächelte nur.
„Vielleicht. Ich nehme an, dass es wohl nicht sein soll. Nun gut, ich sage meinen Leuten, dass sie unsere Sachen packen.“
Toggle stieß einen bekümmerten Laut aus, Tristan ignorierte ihn jedoch. „Kümmern Sie sich darum.“ Stirnrunzelnd sah er sich um. „Wo sind Ihre Pferde?“
„Wir haben uns der Schuppen bedient.“ Reeves breitete die Hände aus, als wollte er sagen, dass ihm keine andere Wahl geblieben war. „Mir schien es besser, die Tiere aus dem Küchentrakt herauszuhalten.“
„Das hier ist eine Scheune, Reeves. Eine Scheune. Verstehen Sie?“
„Selbstverständlich, Mylord. Was immer Sie auch sagen. Schließlich sind Sie der Earl.“
Verdammt! „Sehen Sie her, Reeves ..."
Toggle räusperte sich. „Verzeihen Sie, Käpt’n, aber Master Reeves und seine Männer haben die Scheune prima auf Vordermann gebracht. So sauber war’s hier noch nie. Er ist verdammt gut im Organisieren. Tät einen prima Ersten Offizier abgeben.“
Stevens blieb der Mund offen stehen. „Was sagst du da?“ Toggle blinzelte. „Natürlich nicht besser als du. So hab ich das doch gar nicht gemeint, wirklich nicht! “
Reeves verbeugte sich vor Stevens. „Aus Master Toggles Bemerkungen schließe ich, dass Sie mir weitaus überlegen sind.“ Er warf Tristan einen ruhigen Blick zu. „Bevor ich aufbreche, werde ich Ihnen aufschreiben, was ich über Master Christians Aufenthaltsort in Erfahrung bringen konnte.“ Christian. Wie hatte er das nur aus den Augen verlieren können? Tristan nickte kurz. Sein Ärger machte einem Anflug von schlechtem Gewissen Platz. „Das ist sehr großzügig von Ihnen. Ich bedaure, dass ich Sie nicht länger in meiner Scheune wohnen lassen kann. Ich kann derartige Turbulenzen nicht ...“
„Ich bitte Sie, Mylord! Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen!“
„Also, nun ja ... von mir aus können Sie sich zum Packen noch einen Tag Zeit nehmen, wenn Sie brauchen.“
„Na also, Käpt’n“, erklärte Stevens und nickte, als hätte er all die Probleme gelöst. „Jetzt sind wir wieder auf Kurs.“ Reeves lächelte den Ersten Offizier an. „Master Stevens, ich wage kaum zu fragen, aber möchten Sie ebenfalls einen Bissen zu essen, ehe wir zu packen anfangen?“
Stevens sah zu Tristan. „Hätten Sie was dagegen, Käpt’n? Ich meine - Mylord?“
„Hören Sie sofort auf damit! In meinem Haus will ich von diesem Mylord-Unsinn nichts hören!“
Stevens runzelte die Stirn. „Ich glaub nicht, dass ich Sie jetzt noch Käpt’n nennen kann. Den Adel nicht zu respektieren ist eine Beleidigung für den König.“
Reeves nickte nachdenklich. „Regeln gehören mit gutem Grund zum Leben dazu, nicht wahr, Master Stevens?“ „Allerdings. “ Stevens wollte fortfahren, doch dann erstarrte er und schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Kreuzwetter, Käpt’n! Beinah hätt ich es vergessen! Mrs. Thistlewaite wartet in Ihrem Arbeitszimmer. “
Tristan richtete sich auf. „Noch mehr Schafsprobleme?“ „Sie hat eines Ihrer Schafe mitgebracht. Hat behauptet, es wär genau dasselbe, das in ihren Garten eingebrochen ist.“ Diese Neuigkeit ließ Tristan einen Augenblick innehalten. „Sie hat ein Schaf mitgebracht?“
„Aye, Käpt’n. Hat ihm ihren Schal umgebunden und es den ganzen Weg von ihrem Cottage hergezerrt. “
Das entlockte Tristan ein widerwilliges Lachen.
„Meine Güte“, erklärte Reeves mit interessiert blitzenden Augen, „wer ist Mrs. Thistlewaite? Sie klingt nach einer sehr patenten Dame.“
„Kreuzwetter, Master Reeves! Das ist die hübscheste kleine Fregatte, die mir je untergekommen ist, unheimlich schlau und blitzsauber! Sie und ihre Mum wollen hier eine Akademie für junge Mädchen aufziehen, wir sind alle schon ganz gespannt. Es sind beides Witwen, und über keine habe ich bis jetzt was Schlechtes gehört.“
„Eine Witwe, hmm?“
Tristan warf Reeves einen misstrauischen Blick zu. Ihm gefiel der Ton nicht, in dem der Butler „Witwe“ gesagt hatte, als eröffne ihm das ganz neue Perspektiven.
Doch Reeves begegnete seinem Blick vollkommen ausdruckslos, daher fragte Tristan Stevens: „Und wo ist das verflixte Schaf jetzt? Ich hoffe, es wartet nicht auch in meiner Bibliothek.“
„Liebe Güte, nein. Allerdings glaube ich, dass Mrs. Thistlewaite genau das vorhatte. Aber sobald sie durch die Eingangstür war, ist das Schaf davongerannt. Ein paar unserer Männer verfolgen es.“
„Gut. Hoffentlich erwischen sie es, damit wir es zum Dinner verspeisen können. Reeves, wir reden später weiter über Ihre Aktivitäten in meiner Scheune.“
„Sehr wohl, Mylord.“
Tristan drehte sich um und hinkte zurück zum Haus. Er betrat die Terrasse, öffnete eine der Türen zum Arbeitszimmer und hielt dann inne. Dort, auf einem Stuhl, balancierte seine Nachbarin und sein Hauptquälgeist. Sie stand auf dem Rand der Sitzfläche und stellte sich auf die Zehenspitzen. Eine Hand ruhte auf dem Regalbrett über ihr, in der anderen hielt sie etwas Glänzendes. Was ihn jedoch am meisten interessierte, war, dass er sie endlich einmal ohne Mantel sah.
Leise schloss Tristan die Tür. Stevens hatte recht - die kleine Witwe bot tatsächlich einen umwerfenden Anblick. Sie streckte sich nach dem Regal, und das Kleid spannte sich über ihren Brüsten. Beim Anblick dieser üppigen Reize überlief es ihn heiß und kalt.
Noch aufreizender fand er die Art, wie das weiche Licht der Flammen von hinten durch ihre Röcke schien, sodass er schemenhaft die Umrisse ihrer Beine und ihres verführerischen Hinterteils erkennen konnte. Sein Körper spannte sich vor Verlangen an, und im nächsten Moment überkam ihn ein Gefühl starken Verdrusses. „Was machen Sie da?“
Sein Gast tat vor Schreck einen unbedachten Schritt zurück, worauf sein Fuß gefährlich nahe an den Rand der Sitzfläche geriet. Im nächsten Augenblick war Tristan bei Prudence, ließ den Stock fallen und stürzte mit ausgestreckten Armen herbei, ohne auf die Schmerzen zu achten. Er konnte sie gerade noch auffangen. Wild um sich schlagend, fiel sie ihm in die Arme.
Sie erwischte ihn mit dem Ellbogen am Kinn. Er blinzelte, vor seinen Augen tanzten weiße Sternchen, während er sie, ohne nachzudenken, an sich zog und festhielt. Einen erschreckenden Augenblick schwankte er, versuchte sich auf seinem steifen Bein aufrecht zu halten, während sie sich in seinem Griff wand. „Nun halten Sie doch still, Sie Dummkopf!“
Anscheinend drang sein harscher Ton trotz ihrer Panik zu ihr durch, denn sie beruhigte sich und sah mit großen Augen zu ihm auf. Sie hat wunderschöne braune Augen, dachte Tristan, wieder einmal fasziniert von ihren schräg ansteigenden Brauen und den beinah exotischen Zügen. Ihm gefielen auch die leichten Lachfältchen in ihren Augenwinkeln. Am liebsten hätte er versucht, ihr ein Lachen abzugewinnen. Ihr Blick wurde misstrauisch. „Warum lächeln Sie?“ „Habe ich gelächelt?“, fragte er, drehte sich auf seinem gesunden Bein um und setzte sich auf den Stuhl, von dem sie eben heruntergefallen war. Er zog sie auf seinen Schoß. Ihr Duft kitzelte ihn in der Nase. Sie roch nach frischen Zitronen und noch etwas ... nach Kuchen?
„Captain Llevanth, Sie dürfen mich jetzt loslassen.“
„Das könnte ich natürlich“, stimmte er zu, während er ihr Haar betrachtete, das im Licht glänzte. Sie war ein kompaktes Persönchen, schlank und gleichzeitig wohlgerundet. Ihm gefiel, wie sie sich in seinen Armen anfühlte.
„Captain Llevanth!“
Er hob die Brauen.
„Lassen Sie mich sofort los, sonst ..."
Er wartete.
„Sonst ...“
Der Zorn in ihrer Miene wich einem Ausdruck der Gereiztheit. „Lassen Sie mich sofort runter!“
Er war sich natürlich bewusst, dass er tun sollte, was sie verlangte. Doch es fühlte sich so verdammt gut an, wie sie ihm den Schoß wärmte, während ihn ihr zitronenfrischer Duft in der Nase kitzelte, dass er es schlichtweg nicht fertigbrachte. Er konnte sie einfach nicht absetzen. Konnte sie nicht loslassen, weder für tausend Pfund noch für die Earlswürde. „Ich lasse Sie dann runter, wenn ich will, keinen Augenblick früher.“
Ihr blieb der Mund offen stehen, ganz prüde Überraschung. „Wie bitte?“
Tristan konnte einfach nicht anders: Mrs. Thistlewaite hatte etwas unwiderstehlich Verführerisches an sich. „Sie dürfen bitten, so viel Sie wollen, meine Süße. Ich werde Sie nicht daran hindern.“
Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Captain Llevanth, ich lasse mich von Ihnen doch nicht ... “
Er küsste sie. Er hatte das nicht geplant, aber irgendwie schien es das nächstliegende Mittel, sie vom Zetern abzuhalten. Er war auf ihren Zorn vorbereitet. Womit er nicht gerechnet hatte, war seine eigene Reaktion auf diese doch eigentlich recht simple Berührung.
In dem Moment, da sich seine Lippen auf die ihren pressten, änderte sich etwas. Bis zu diesem Augenblick hatte er sie auf amüsante Art anziehend gefunden, doch auf einmal loderten in ihm abertausend Flammen. Er hielt inne, öffnete die Augen. Er begegnete ihrem Blick, sah in ihm dieselbe schockierte Leidenschaft, die auch er empfand.
Tristan ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken, sondern küsste sie erneut, intensiver diesmal, fuhr ihr mit den Händen am Rücken entlang, drückte sie eng an sich.
Nach kurzem Zögern gab sie sich dem Kuss hin. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und bot ihm ihren Mund. Die Zeit stand still, während sich Tristans Atem mit dem ihren vermischte, sein Herz wie das ihre Trommelwirbel schlug und sie ihn mit ihrem heiseren Stöhnen noch weiter aufstachelte.
Tristan hörte das Geräusch als Erster, das unmissverständliche Knarren der Haustür, das durch den Flur hereindrang. Irgendwo in seinem lustentflammten Hirn sagte ihm eine Stimme, dass wohl bald jemand hereinkommen würde. Leider war der Teil seines Verstands, der hätte erfassen können, was diese Unterbrechung zu bedeuten hatte, nicht in der Lage, die tiefen, fest verschlossenen, im Augenblick mit weitaus Sinnlicherem beschäftigten Winkel seines Gehirns zu durchdringen. So konnte es geschehen, dass Tristan nicht weiter überrascht war, als Stevens nach kurzem Anklopfen in die Bibliothek trat, sondern eher verwundert, dass er nicht aufgehört hatte, seine schöne Nachbarin zu küssen.
Prudence hingegen schien die Tür gar nicht gehört zu haben, denn sie keuchte auf, als sie Stevens’ ziemlich entsetztes „Kreuzwetter!“ durch den Raum hallen hörte.
„O Gott!“ Sofort versuchte sie sich aus Tristans Griff zu befreien, aus dem sie sich zu winden begann, doch er hielt nichts von diesem albernen Vorhaben. Ihm gefiel es, wenn sie auf seinem Schoß saß. Er wollte, dass sie dort saß. Wollte es mehr als alles, was er sich seit Langem gewünscht hatte.
„Captain Llevanth!“, zischte sie leise.
Er bemerkte, dass sich eine Locke aus ihrem Nackenknoten gelöst hatte. „Ich finde, Sie sollten mich Tristan nennen.“ „Fällt mir ja nicht ein! “
„Und ich nenne Sie Er runzelte die Stirn. „Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.“
Stevens räusperte sich. „Sie heißt Prudence, Mylord.“ Prudence warf dem Ersten Offizier einen erbosten Blick zu, worauf dieser errötete und von einem Fuß auf den anderen trat. Dem breiten Grinsen auf seinem Gesicht tat es allerdings keinen Abbruch. „Tut mir leid, Madam“, erklärte Stevens. „Ihre Kammerzofe ist eine rechte Plaudertasche.“ „Und Ihr Dienstherr ist unverschämt. Captain, geben Sie mich frei.“
Tristan blieb wohl wirklich nichts anderes übrig, als klein beizugeben. Er konnte sie schließlich nicht für alle Zeiten auf seinem Schoß festhalten. „Wie Sie wünschen, Madam.“ Seufzend stellte er sie auf die Füße.
Sobald er seinen Griff gelockert hatte, entwischte sie ihm und eilte auf die andere Seite des Raums. Sie hatte so große Eile, dass sich ein Tischchen in ihrem Rock verfing und sie es hinter sich herzog.
Stevens sah mit erhobenen Brauen auf den Tisch. Sein Gesicht war knallrot, und sein Grinsen wurde noch breiter. „Na, ich wollte nicht stören, Käpt’n. Ich meine, Mylord.“ Prudences Gesicht wies in etwa denselben Rotton auf, als sie sich bückte und den Tisch aus ihren Röcken befreite. „Verflixtes Ding!“, brummte sie.
Das Herz donnerte ihr noch in den Ohren und machte jeden vernünftigen Gedanken unmöglich. Sie befürchtete, dass sie irgendwie ein schreckliches Durcheinander anrichtete, nur dass sie nicht wusste, warum. „Ich ... ich gehe jetzt.“
„Unsinn“, erwiderte der Captain charmant. Ihn schien es nicht im Geringsten zu stören, dass er in einer so verfänglichen Situation angetroffen worden war. Prudence wusste gar nicht, wie sie die Umarmung beschreiben sollte - wenn nicht als höchst ungehörig. „Mrs. Thistlewaite, ich hätte da ein paar Fragen an Sie. Sie sind gerade erst gekommen, und doch treffe ich Sie hier an, wie Sie in meinen Sachen herumwühlen. Sagen Sie, benimmt man sich in London so? War-tet man, bis ein Mann aus dem Zimmer ist, und macht sich dann über seine persönlichen Dinge her?“
Prudence wurde unangenehm warm. „Nein! Natürlich nicht. Ich wollte nicht herumschnüffeln, es ist nur so, dass Stevens Trafalgar erwähnte, und ich war so neugierig, und dann ...“ Sie biss sich auf die Lippen. „Tut mir leid. Für meine Neugier gibt es keine Entschuldigung.“
„Hmm. “ Der Captain verschränkte die Arme vor der Brust und warf Stevens einen beiläufigen Blick zu. „Was gibt es denn?“
„Es ist wegen Reeves, Käpt’n.“
Prudence hörte auf, ihr Kleid glatt zu streichen. „Reeves?“ Sie hatte die Frage nicht laut stellen wollen, doch etwas an der Art, wie der Erste Offizier den Namen aussprach, weckte ihr Interesse.
Stevens nickte. „Er ist ein Butler. Aus London! Er ist gekommen, um dem Käpt’n zu dienen.“
Erstaunt sah Prudence zum Captain. „Sie haben einen echten Butler?“
Stevens nickte noch energischer. „Jetzt ja! Reeves war der Butler des alten Earls, und nun ...“ Er unterbrach sich, als Tristan ihm einen Blick zuwarf, der den Ersten Offizier in den Schuhen hätte erstarren lassen müssen.
„Der alte Earl?“ Prudence blinzelte. Himmel, was war denn hier los? „Jetzt bin ich verwirrt. Welcher Earl?“
„Der Earl of Rochester“, erläuterte Stevens und drehte sich ein Stückchen, sodass er den Captain nicht mehr sehen konnte. „Der alte Earl war der Vater des Käpt’n.“
Prudence wandte sich mit offenem Mund an Tristan. „Ihr Vater war ein Earl?“
Die Miene des Captains verfinsterte sich, bevor er mit schwerer Stimme sagte: „Mein Vater war ein fauler, wertloser Geck. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“ Erbost sah er zu Stevens. „Was haben Sie denn von Reeves zu berichten? Ich hoffe, er räumt all die Unordnung weg, die er in der Scheune gemacht hat.“
„Eigentlich dachte er, Mylord, dass er jetzt, wo Sie ihm noch einen Tag gegeben haben und die Soße ohnehin fertig ist, die Tafel genauso gut noch nutzen könnte. Er hat uns also alle zum Abendessen eingeladen. Sie natürlich auch.“ „Was?“
„Aye, Käpt’n! Grade hat er allen aufgetragen, weiße Tücher über die Tische zu legen, die seine Männer gebaut haben, und dann mit dem Porzellan zu decken, das in den Fässern auf dem letzten Karren verstaut war. Jetzt sind alle da drin, machen einen Höllenlärm und ängstigen den armen Winchester zu Tode. “
„Winchester?“, fragte Prudence. Ihr Atem ging immer noch stoßweise, und sie versuchte nach Kräften, sich von den jüngsten Ereignissen abzulenken.
„Winchester ist ein Kater“, erläuterte der Captain und warf ihr einen raschen Seitenblick zu.
Seine hellgrünen Augen sind so ungewöhnlich, so ... schön, dachte sie. Er hob die Augenbrauen, und seine Lippen verzogen sich zu einem selbstgefälligen kleinen Lächeln.
Prudence errötete noch ein bisschen tiefer, als ihr klar wurde, dass sie beim bewundernden Starren ertappt worden war. Eilig sagt sie: „Ich muss jetzt wirklich gehen.“
„Sie sind doch gerade erst gekommen“, wandte der Captain ein.
„Aye, Madam. Unser Winchester würde Ihnen gefallen. Er ist orange getigert und der beste Mauser, den wir je hatten.“ Stevens lachte leise. „Wir hatten Winchester an Bord der Victory, bis zum Ende. In all der Zeit haben wir auf See keine einzige Ratte zu Gesicht bekommen.“
Prudence rang sich ein Lächeln an. „Ist ja fabelhaft. Winchester hört sich nach einem großartigen Kater an.“ Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Captain ... nein, der Earl sich um etwas so Profanes wie einen Kater kümmerte.
Sie versuchte sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass ihr Nachbar nicht ganz der war, für den sie ihn gehalten hatte. Trotzdem, diese Earlgeschichte kaufte sie ihnen nicht ganz ab. Allerdings wirkte der Captain selbst nicht allzu begeistert.
„Captain, wegen der Sache mit dem Earlstitel ...“
„Da gibt es keine Sache“, erwiderte Tristan genervt. Stevens wippte auf seinen Fersen zurück. „Ich kann mich noch an eine Ratte erinnern, die war so fett, dass sie das Hauptsegel ganz allein hätte hissen können!“
Prudence ließ sich ablenken. „Ach ja?“
„Ja, Madam“, bekräftigte Stevens, der sich für seine Geschichten zu erwärmen begann. „Ein Riesenvieh, ungefähr so groß wie ein Hund!“
Zu Tristans Entzücken stemmte Prudence die Hände in die Hüften. „Und wie sollte eine Ratte ein Segel hissen? Haben Sie ihre Pfötchen an ein Tau gebunden?“
„Natürlich nicht! Das klappt doch nie! Wir haben dem Tier aber ein kleines Geschirr aus Seilen gemacht, und damit hat es das Segel nach oben gezogen, sogar gegen den Wind. War verdammt ... oh,Verzeihung, Madam. Es war ein sehr putziger Anblick.“
Prudence maß Stevens von oben bis unten mit Blicken. „Haben Sie getrunken?“
Er blinzelte. „Aber nein, Madam. Es ist doch kaum zehn Uhr. Also, wenn jetzt Mittag wär, dann hätten Sie mich vielleicht erwischt.“
„Wenn Sie keinen Rausch haben, was veranlasst Sie dann, mir einen derart haarsträubenden Unsinn aufzutischen? Wie kommen Sie nur auf die Idee, ich könnte Ihnen auf den Leim gehen?“ Empört stieß sie die Luft aus. „Segelhissende Ratten! Als Nächstes wollen Sie mir noch weismachen, dass die Ratte auch am Ruder stand!“
„Eigentlich, Madam“, erklärte Stevens ernsthaft, „hatten wir eine Ratte, die Johnny Barns’ silberne Taschenuhr verschluckt hat und ... “
„Oh! Ich will von Ihnen kein Wort mehr hören!“ Sie fuhr zu Tristan herum, ehe der noch sein breites Grinsen verbergen konnte. „Und Sie!“
Das Lächeln verging ihm wie von selbst. „Was ist mit mir?“ „Mir scheint, das Lügen ist allen Seeleuten angeboren!“
„Na hören Sie mal!“, protestierte er. „Ich habe Sie doch nicht angelogen und Stevens auch nicht. Wir haben Ihnen nur ein bisschen Seemannsgam erzählt.“
„Wann denn, Mylord?“ Das letzte Wort kam ziemlich spöttisch heraus.
Tristan zuckte mit den Schultern. „Mir gefällt der Titel ja selbst nicht besonders. “
„Immer langsam, Madam“, erklärte Stevens. „Der Käpt’n ist wirklich ein echter Earl!“
Ungläubig hob Prudence eine Braue. „Natürlich. Er ist ein Earl. Und ich bin die Duchesse of Devonshire.“
Stevens schnappte nach Luft. „Nein! Und das an unserem Ende der Welt! Das ist doch der Gipfel! Dann ist es ja gut, dass Sie mit dem Käpt’n schon ein bisschen warm geworden sind. Ein oder zwei Duchesses könnte er auf seiner Fregatte schon noch brauchen, könnt ich mir vorstellen. Vor allem jetzt, wo er selber von Adel ist.“
Prudence richtete sich zu voller Größe auf, auch wenn es damit nicht weit her war, und warf Tristan einen misslaunigen Blick zu. „Sie haben Ihre Leute gut abgerichtet. Sie lügen alle miteinander sehr geschickt.“
Tristan verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Diese spezielle Information ist zufällig wahr. Ich bin tatsächlich ein Earl.“
„Natürlich sind Sie das.“
„Ich sage nicht, dass ich mir den Titel verdient hätte. Mein Vater war ein Earl, obwohl er sich weigerte, mich anzuerkennen.“ Er rang sich ein schwaches Lächeln ab. „Ich bin ein Kind der Liebe, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Ihre Wangen röteten sich. „Das wusste ich nicht, aber das ist auch völlig einerlei.“
„Meinem Vater war es irgendwann nicht mehr einerlei. Als er entdeckte, dass er ohne legitime Erben sterben würde, tat er das, was er am besten konnte - er log und betrog -, und sorgte so dafür, dass sich die Dinge zu seinen Gunsten entwickelten. Und so stehe ich nun vor Ihnen als Träger eines stolzen Titels.“
Sie runzelte die Stirn, als dächte sie darüber nach.
Tristan erzählte ihr das nicht gern. Er war sich nicht sicher, warum er sich die Mühe überhaupt gemacht hatte, außer dass er von ihr nicht für einen Angeber gehalten werden wollte, der sich mit falschen Titeln schmückte. „Es ist alles ziemlich verwirrend. Vermögen, Haus- und Grundbesitz erbe ich nur dann, wenn ich mich an Lord Rochesters Vorstellungen von gutem Benehmen halte. “
„Und wie sehen die aus?“
„Nichts als Kratzfüße und Speichelleckerei vor dem halben britischen Hochadel.“
„Meine Güte, Sie klingen ja ziemlich ernüchtert.“
Tristan zog eine finstere Miene. „Ich fange nicht an, nur wegen ein bisschen Moos Samtanzüge zu tragen, ganz egal, wie hoch die Summe ist.“
Prudence reckte die Nase in die Luft. „Das ist wirklich sehr edel von Ihnen, ein Vermögen in den Wind zu schlagen, nur damit Sie weiter persönlichen Werten anhängen können, die sich hauptsächlich in schlampiger Kleidung und rüdem Benehmen äußern.“
Tristan brach in Gelächter aus. „Ein Mann braucht schließlich Prinzipien.“
„In der Tat. Ich habe oft sagen hören, dass ein Mann ohne Prinzipien so ähnlich sei wie ein Schiff ohne Ruder. Was wären Sie schon ohne Ihre mürrische Gemütsart und Ihre unverschämten Ausbrüche? Doch gewiss nicht der raue Kapitän, den wir alle kennen und ... erkennen.“
„Bitte halten Sie sich meinetwegen nicht zurück.“
Sie lächelte süß. „Ah, aber Sie sind verletzt. Ich möchte Sie wirklich nicht beleidigen, wenn Sie nicht ganz auf der Höhe Ihrer Fähigkeiten sind.“
Stevens warf die Hände in die Luft. „Genug! Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Vielleicht bringe ich ja ein bisschen Tee vorbei, wenn’s irgendwo einen gibt.“ Er eilte aus dem Zimmer, wobei er Prudence noch einen warnenden Blick zuwarf.
Die Frau hatte die Kühnheit zu lächeln. „Ihr Erster Offizier scheint zu glauben, dass ich in Gefahr bin.“
Tristan kniff die Augen zusammen. „Sind Sie ja auch, meine Süße.“ Er beugte sich vor. „Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass ich im Vollbesitz all meiner Kräfte bin, trotz meines verletzten Beins. Die Musketenkugel hat das wichtigste Körperteil nicht berührt.“
Ihre Wangen glühten. „Das reicht jetzt, vielen Dank.“
„Sie waren es doch, die damit angefangen hat, dass ich nicht mit voller Kraft voraussegeln könnte.“
„Ja, aber ich habe damit schließlich nicht gemeint ... ach, vergessen Sie es. Ich sehe schon, dass Sie mich nur ärgern wollen.“
„Vielleicht“, stimmte er zu. Voller Bewunderung beobachtete er ihre zitternden Lippen, als sie das Lächeln zu unterdrücken suchte. Er begegnete ihrem Blick, und plötzlich fühlte sich alles ganz richtig an, so richtig, wie es sich schon lange nicht mehr angefühlt hatte. Vielleicht nie.
Er fragte sich, ob er, wenn er den Titel annahm, nicht mehr von solchen Momenten erfahren dürfte - mit einer Frau wie Mrs. Thistlewaite.
„Ich frage mich ...“ Sie betrachtete ihn, den Kopf nachdenklich zur Seite gelegt. „Was genau müssen Sie ...“ Sie errötete plötzlich. „Tut mir leid, das geht mich nichts an.“
Allerdings nicht. Trotzdem ... Tristan warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Mrs. Thistlewaite hatte zwar keinen Titel, doch jede ihrer Bewegungen verriet ihre gute Herkunft und Anmut. Irgendwie wirkte sie in seiner einfachen Bibliothek fehl am Platz. Sie bewegte sich wie eine Countess, fand er. Und nachdem er jetzt ein Earl war ...
Lieber Gott, wie war er denn jetzt auf so etwas verfallen? Er musste sich auf seine finanziellen Mittel konzentrieren, statt albernen Tagträumen nachzuhängen.
Ja, sagte er sich. Denk an das Kapital. Kein Seemann würde in Zukunft hungern müssen oder keinen Lohn erhalten. Er könnte anbauen. Vielleicht einen Extraflügel mit Mannschaftsquartieren, damit er keine Neuankömmlinge mehr abweisen müsste. Im Augenblick war sein Haus vollkommen ausgelastet.
Doch um das Kapital zu gewinnen, musste er die Treuhänder für sich einnehmen, und etwas an Reeves’ Miene hatte Tristan den Eindruck vermittelt, dass dies keine leichte Aufgabe war. Wenn er es nun nicht schaffte?
Plötzlich wurde er Prudences wieder gewahr. Sie stand vor ihm, knickste abrupt und sagte: „Ich muss gehen. Ich habe heute Nachmittag einiges zu erledigen, auch wenn ich noch nicht fertig bin mit meiner Mission hier. “
„Ah ja. Mein Schaf.“
„Das nächste, das ich in meinem Garten finde, wandert in den Suppentopf.“
Er hob die Brauen. „Sie können kochen? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Ihnen ein saftigeres Lämmchen schicken sollen.“
Sie runzelte die Stirn und schob anklagend die Unterlippe vor.
Tristan hob die Hand und lachte. „Immer mit der Ruhe, meine Liebe! Ich ziehe Sie doch nur auf! Ich schwöre beim Grab meiner Mutter, ich wusste nicht, dass schon wieder ein Schaf über Ihr Tor geklettert ist. Ich kann immer noch nicht begreifen, wie das passieren konnte.“
Sie straffte die Schultern, blickte aber nicht mehr ganz so misstrauisch. „Wie dem auch sei, es sind trotzdem immer noch Ihre Schafe. Es wird allmählich Zeit, dass Sie Verantwortung dafür übernehmen.“
„Ich bin Seemann, kein Schäfer. Und was Sie angeht ...“ Tristan musterte seine Nachbarin vom glänzenden braunen Lockenscheitel bis zu den verführerischen Zehenspitzen, bevor er in einem Ton sinnlicher Anerkennung raunte: „Für Sie könnte ich es tun. “
Sie lief zartrosa an und verneigte sich eilig. „D...danke. Ich ... ich ... Sie ... Sie ... “ Sie verzog das Gesicht. „Ach, zum Kuckuck! Halten Sie einfach Ihr verflixtes Schaf im Zaum! “ Mit dieser treffsicheren Erklärung drehte sie sich um und verließ eilig den Raum.