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Besuchsrecht, sechster Teil

Robert lag zusammengekauert auf dem Lattenrost und beobachtete, wie sein Vater nervös von einer Bettseite zur anderen tigerte. Er hatte vier Kissen wie Sandsäcke vor sich aufgeschichtet – keine besonders wirksame Munition, aber das Einzige, was ihm blieb, falls sich sein Vater ihm erneut nähern sollte.

Sein Vater hatte eine Schusswaffe, eine Pistole, die so sehr glänzte, dass sie beinah weiß aussah. Sie funkelte im Licht der Lampen. Er fuchtelte damit herum, während er im Zimmer auf und ab marschierte.

Robert musste dringend auf die Toilette, aber er würde nicht fragen und auch sonst kein Wort mit seinem Vater reden. Er verkniff es sich.

Sehnsüchtig wartete er darauf, dass sie ihn ins Bett schicken würden, damit der Abend endlich ein Ende hatte.

Er hörte jemanden hinter der verschlossenen Zimmertür die Treppe heraufkommen. Sein Vater hörte es ebenfalls. Er blieb stehen, wandte sich zur Tür und erwartete das Klopfen.

Stattdessen jedoch vernahm Robert die Stimme seines Großvaters.

»Arthur?«

Er hörte, wie sich der Türknauf drehte.

»Lass mich rein, mein Sohn. Deine Mutter und ich haben nachgedacht. Sohn, wir meinen, du solltest es gut sein lassen und von hier verschwinden – nur für heute Nacht, verstehst du? Schlaf heute Nacht zu Hause. Morgen ist auch noch ein Tag. Ja? Du hast es ja selbst gesagt, so wie es aussieht, weiß keiner außer ihr, dass du heute Abend hier warst. Und wir werden sagen, dass sie lügt.«

Sein Vater starrte bloß die Tür an.

»Arthur?«

Sein Vater wirkte schon den ganzen Tag, als sei er wahnsinnig. Richtig wahnsinnig – viel schlimmer als gestern. Redete mit sich selbst, obwohl keiner da war, der ihm zuhörte. Trank Bier und Whiskey. Aß nicht. Versteckte sich vor Officer Duggan. Robert merkte, dass selbst seine Großeltern allmählich Angst vor ihm kriegten.

Sein eigener Vater hatte ihn einen Schwanzlutscher genannt. Sein eigener Vater hatte eine Waffe auf ihn gerichtet.

Und, werde ich abdrücken?, hatte er gefragt. Peng. Peng.

»So kommen wir doch nicht weiter, Sohn. Duggan kommt bestimmt wieder, und wenn er dich hier findet, hast du danach bloß noch mehr Schwierigkeiten vor Gericht. Das musst du doch verstehen, Arthur. Deine Mutter und ich, wir stehen hundertprozentig hinter dir, aber du weißt ja, dass Duggan der starrköpfigste Kerl im ganzen Bezirk ist. Das weißt du doch, oder?«

Wieder Schritte auf der Treppe.

»Arthur? Mach auf.«

Seine Großmutter.

Sein Vater ging jetzt einen Schritt Richtung Tür, doch dann scherte er seitlich zum Nachttisch aus, nahm die Flasche, die dort stand, und trank. Robert konnte den Alkoholdunst durchs ganze Zimmer hindurch riechen.

»Verdammt nochmal, mach die Tür auf.«

Er trank abermals.

»Fahr zu Hölle«, sagte er.

»Was? Was hast du zu mir gesagt?«

»Ich habe gesagt, du sollst zur Hölle fahren, Ma. Hey, ihr könnt meinetwegen beide zur Hölle fahren. Ich komme erst raus, wenn ich so weit bin.«

Robert starrte seinen Vater mit entsetztem Schweigen an. Seine Großmutter war schon immer herrschsüchtig gewesen, aber er hatte nie mitbekommen, dass sein Vater ihr irgendwas abgeschlagen hätte. Nicht das Geringste.

Das war ja, als würde Robert so etwas zu ihm sagen. Etwas wie das, was sein Vater gerade zu seiner Großmutter gesagt hatte. Und das würde er niemals tun. Das würde er sich im Leben nicht trauen. Trotzdem hatte sein Vater zu seiner Großmutter gesagt, sie solle zur Hölle fahren – und das jagte ihm größere Angst ein als alles andere.

Hinter der Tür herrschte Schweigen.

Er vermutete, dass die beiden da draußen ebenfalls ziemlich verblüfft waren.

Sein Vater glotzte noch eine Weile die Tür an, dann drehte er sich zu ihm um und Robert sah, dass er lächelte.

»Nur du und ich, Kleiner«, sagte er leise. Dann kam er auf ihn zu.

 

Als Duggan auf sein Haus zufuhr, stand seine Frau bereits mit einem Mantel über der Schulter in der Haustür und wollte ihn nicht einmal aussteigen lassen. Er kurbelte das Seitenfenster runter und Alice beugte sich zu ihm runter. Sie hatte ein Blatt Papier in der Hand, von dem sie ablas, wenn sie glaubte, etwas zu vergessen.

»Ralph«, begann sie, »in der letzten halben Stunde sind drei Notrufe für dich eingegangen. Der Erste von einer Lydia Danse, die sagt, ihr Mann Arthur wäre bei seinen Eltern, er würde da wohnen, und jetzt hat sie Angst um ihren kleinen Jungen. Dann kamen noch zwei Anrufe von jemandem namens Cindy Fortunato, einer Freundin von ihr, die sagte, Mrs. Danse wäre losgefahren, um ihren Sohn zu holen, und dass sie eine Waffe dabeihätte, einen Revolver. Sie will, dass du sie sofort zurückrufst. Aber ich dachte mir, du fährst vielleicht besser da raus und ich mache den Anruf. Um Zeit zu sparen.«

»Danke, Allie. Ruf die Frau an. Sag ihr, ich bin unterwegs.«

Er beugte sich vor und küsste sie, dann ließ er den Wagen an.

»Aber sei vorsichtig«, rief sie noch. »Familienstreitigkeiten?«

»Familienstreitigkeiten.« Er nickte. Sie wusste ebenso gut wie er, dass das die Hölle auf Erden bedeuten konnte. »Ich werd die Augen offenhalten«, sagte er.

Während er die Auffahrt wieder hinunterrollte, bat er über Funk um Verstärkung.

»Wir sind schon auf dem Weg«, teilte ihm der Einsatzleiter mit. »Diese Fortunato hat vor ein paar Minuten hier angerufen. Wir haben daraufhin sofort einen Streifenwagen losgeschickt. Ich muss leider gestehen, dass wir es gründlich vermasselt haben, Ralph. Morton dachte beim ersten Anruf wohl, so dringend wäre es nicht, aber da hatte auch noch keiner was von Schusswaffen gesagt.«

»Ja, schon klar. Mach dir deshalb keine Gedanken. Ich schätze, in diesem Fall haben alle irgendwas vermasselt.«

Er meldete sich ab. Morton wahrscheinlich noch am wenigsten, überlegte er. Alle haben versagt. Total versagt. Der Richter. Die Anwälte. Einfach alle.

Sogar er selbst. Auch wenn er nicht genau wusste, zu welchem Zeitpunkt. Irgendwas musste ihm entgangen sein, irgendwas hatte er nicht getan, das er unbedingt hätte tun müssen. Deswegen war er jetzt mitten in der Nacht unterwegs, um eine Frau mit einer Schusswaffe aufzuhalten.

Scheiß drauf, dachte er. Was zählt, ist die Gegenwart. Jetzt hast du die Chance, etwas zu unternehmen. Und er hielt weiter auf die Berge zu.

 

Die Holzbohlen rüttelten sie ordentlich durch, doch dann hatte sie die Brücke hinter sich. Auf der alten Schotterstraße verlangsamte sie das Tempo und fuhr noch ein Stück weiter, bevor sie die Scheinwerfer ausschaltete, anhielt und ausstieg.

Während der Fahrt hatte sie die ganze Zeit zu einem Gott gebetet, an den sie sonst äußerst selten dachte: dass Arthur dem Jungen nichts getan hatte, dass der Mann, der in der Küche gewütet und sie am Telefon verhöhnt hatte, sein Pulver verschossen hatte und vor lauter Irrsinn erschöpft war und sich schlafen gelegt hatte. Allein, dachte sie, wiederholte das Wort wie ein Mantra. Bitte, Gott.

Allein. Ohne Robert.

Sie würde dem jetzt und hier ein Ende machen. Sie konnte Arthur Danse unmöglich noch länger ertragen, und Robert konnte das genauso wenig. Dieser Terror musste aufhören. Sie würde Robert mitnehmen und fliehen. Wohin, spielte keine Rolle. Es spielte auch keine Rolle mehr, dass sie wahrscheinlich kein Geld haben würden und dass sie den Beruf, den sie erlernt hatte, vermutlich nie wieder ausüben würde. Kein Geld zu haben war nicht so schlimm, wenn man noch am Leben war und niemand sich an einem verging.

Das Haus war hell erleuchtet. Unten ebenso wie im Obergeschoss.

Also war noch niemand schlafen gegangen.

Egal.

Sie lief querfeldein und spürte das hohe, nasse Gras über die rechte Hand streifen, in der sie den Revolver hielt. Sie hob die Waffe in Hüfthöhe. Ihr Gewicht fühlte sich auf eine Weise tröstlich an, wie sich noch keine Waffe auch nur annähernd für sie angefühlt hatte. Es war, als sei der Revolver der Verbündete, den sie die ganze Zeit so dringend gebraucht hatte, ihr jedoch nicht in den Sinn gekommen war. Nicht Sansom, nicht Andrea Stone, nicht mal die Gerichte oder die Polizei, nur dieses kalte Metallgewicht war ihr Verbündeter.

Ihr letzter Rechtsbeistand.

Sie trat auf die Veranda. Die Vordertür würde nicht abgeschlossen sein. Keine der Türen im Haus würde abgeschlossen sein. Das wusste sie.

Es gab kein Zurück.

Es war Schicksal, war es immer gewesen.

 

Er sah die Scheinwerfer über den Schlafzimmervorhang streichen, als das Auto den Hügel heraufkam. Im nächsten Moment gingen sie aus.

Robert hatte nichts mitbekommen.

Sie kamen.

Entweder sie oder Duggan.

Jetzt war es soweit. Irgendetwas würde passieren.

Eindringlinge, dachte er. Du sollst nicht betreten deines Nächsten Haus.

Dazu wird es nicht kommen, ihr beschissenen Arschlöcher.

Er öffnete die Tür. Seine Mutter und sein Vater standen davor und blickten ihn an und die 9-mm-Halbautomatik in seiner Rechten. Seine Mutter funkelte ihn wütend an. Sein alter Herr wirkte nervös und besorgt.

Alles war so wie immer.

»Daddy, schnapp dir deine Flinte«, sagte er. »Wir bekommen Gesellschaft.«

Es war toll, so mit seinem Vater zu reden. Ihn herumzukommandieren.

Wenn das alles vorbei war, würde er beide rumkommandieren können. Weil sie sich beide durch das, was sich hier abspielte, genauso schuldig machten wie er selbst – genauso schuldig, wie er selbst sein ganzes Leben lang gewesen war. Diese Bürde würden sie auf sich nehmen müssen.

Er würde das alles für den Rest ihres Lebens gegen sie verwenden. Endlich war es so weit.

Ab jetzt bestimmte er, wo es langging.

Er schob sich an ihnen vorbei zur Treppe.

»Hol das Gewehr, Daddy«, sagte er. »Und zwar ein bisschen plötzlich.«

 

Sie hatte Recht gehabt: Die Tür war nicht verschlossen. Sie drehte den Knauf, die Tür öffnete sich fast lautlos und sie sah Arthur im Flur bei der Treppe. Etwas Schwarzes wies vor dem Licht aus der Küche in ihre Richtung, und sie spürte, wie etwas gegen ihre Brust prallte und sie nach hinten gegen die Haustür warf. Erst dann hörte sie die Entladung.

Sie hob den Revolver und schoss, sie wusste nicht, wie oft, und die Gestalt verschwand aus ihrem Blickfeld. Sie schaute an ihrem Körper herunter und sah überall Blut. Sie bemerkte eine Bewegung in der Küche. Dann kam Arthurs Vater auf sie zu, rief irgendwas, das sie jedoch, taub wie sie war, nicht verstehen konnte. Sie sah, wie er seine doppelläufige Flinte auf sie richtete, und schoss aufs Neue. Putz rieselte auf ihren Kopf und die Schultern herab, als das Gewehr krachend losging. Harry fiel um und blieb reglos vor der Küchentür liegen.

Dann erkannte sie Ruth hinter ihm, aber als sie den Revolver noch einmal heben wollte, hatte sie keine Kraft mehr im Arm. Sie rutschte an der Vordertür entlang auf die raue Fußmatte, die sich schief zwischen ihre Knie schob. Auch Ruth schrie jetzt, ihr Gesicht verzerrt, rot, grauenerregend und wütend, aber sie hörte sie nicht.

Lydia sah, wie sie schnell von Harry zu Arthurs leblosem Körper rannte, dort verharrte und auf die Knie fiel, die Hände auf seine Wangen legte und sich hin und her wiegte. Sie streckte eine Hand aus und legte sie auf sein Gesicht, dann starrte sie einen Augenblick ihre blutverschmierte Hand an und schrie wieder, sah zu Robert auf, der starr vor Schreck in seinem Schlafanzug auf halber Treppe stand, und stimmte ein irrsinniges Geheul an. Sie schrie weder Robert noch sie oder sonst irgendjemand an. Sie schrie aus einer wahnsinnigen, unvorstellbaren Wut heraus, die Lydia beinahe verstehen, beinahe nachfühlen und begreifen konnte.

Der Raum verschwamm vor ihren Augen.

Sie sah, wie Robert in ihre Richtung blickte, sah ihn das Blut an ihrer Brust und ihrem Bauch anstarren, sah das Entsetzen in seinem Blick: »Alles okay, Schatz.« Ihre Stimme klang undeutlich, wie von weit entfernt. »Jetzt ist alles wieder gut. Jetzt kann dir keiner mehr was tun. Es ist alles wieder gut, Schatz.«

Dann spürte sie Hände nach ihren Schultern greifen, große, schwielige Hände, blickte in Ralph Duggans aschfahles Gesicht und hörte ein Geräusch, bei dem es sich um Polizeisirenen handeln musste. Duggan löste sich in Licht und Dunkelheit auf, so dass sie ihn nicht mehr sehen konnte, sie spürte seine Hände nicht mehr, hörte nur noch das Schrillen in ihren Ohren, bis auch das verging. Sie glaubte, immer noch ihren Herzschlag zu spüren. Dann waren da nur noch Schweigen und Finsternis. Weshalb sie hierhergekommen war, worauf sie die ganze Zeit, vielleicht sogar ihr ganzes Leben gewartet hatte – jetzt war es zu Ende.