19
Das Wichtigste
überhaupt
Zwei Tage vor der Verhandlung spülte sie bei Ellie Brest das Mittagsgeschirr ab. Sie machte sich Sorgen, weil Owen sie noch nicht zurückgerufen hatte, damit sie ihm von dem nächtlichen Anruf berichten konnte. Da rief Ellie nach ihr und bat sie, ins Wohnzimmer zu kommen.
Normalerweise hielt sie um diese Zeit ihren Mittagsschlaf.
Ellie war für gewöhnlich total berechenbar. Sie nickte während irgendeiner Seifenoper ein und zerbrach sich dann den ganzen Nachmittag den Kopf darüber, was sie verpasst hatte. Wenn Lydia, während sie ihrem Tagwerk nachging, zufällig etwas davon mitbekam, füllte sie ihre Wissenslücken später auf.
Sie drehte den Wasserhahn zu, trocknete sich die Hände ab und ging in das abgedunkelte Wohnzimmer. Ellie schaltete das Licht auch dann nicht ein, wenn Lydia dort saubermachte. Auf diese Weise spare sie einen oder zwei Dollar Strom, meinte sie. Dafür lief bei ihr den ganzen Tag und bis tief in die Nacht der Fernseher.
Aber jetzt wollte sie, dass Lydia das Gerät ausschaltete.
»Und was ist mit Ihrer Serie?«
»Egal.«
Sie schaltete den Fernseher ab. Was für ein unbedeutender Akt das doch für sie war – doch gleichzeitig war sie sich darüber im Klaren, wie viel Mühe es Ellie gemacht hätte, aufzustehen und den Fernseher selbst auszustellen.
»Setzen Sie sich, Liddy. Bitte.«
Sie setzte sich ihr gegenüber in den großen, viel zu weichen Sessel, den seit dem Tod ihres Mannes niemand mehr benutzt hatte.
»Ich weiß, dass Sie ein paar Tage nicht kommen können«, sagte Ellie. »Und da wollte ich Ihnen sagen, solange ich noch den Mumm habe, mich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, wie sehr ich Sie für das, was Sie tun, bewundere.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es hätte sie nicht weniger überrascht, wenn Ellie sie zu einem kleinen Tänzchen aufgefordert hätte.
Bisher schien ihr Lydias Situation immer nur peinlich gewesen zu sein. Hin und wieder hatte sie ihr eine Frage gestellt, die Antwort darauf aber offensichtlich gar nicht so genau wissen wollen. Sie hatte weder ihr Verständnis noch ihre Ablehnung zum Ausdruck gebracht, lediglich eine sporadisch aufflammende, zögerliche Neugier.
»Danke, Ellie«, antwortete Lydia. »Das bedeutet mir sehr viel.«
»Viele Frauen hätten ihn einfach weitermachen lassen. Immer wieder ein Auge zugedrückt. Aus Angst vor dem Gerede der Leute oder vor ihm – wovor auch immer.«
Sie unterbrach sich. Es fiel ihr offensichtlich nicht leicht, das zu sagen.
»Willie und ich hatten niemals Kinder und ich habe das später oft bedauert. Aber Bedauern hilft einem im Leben nicht weiter, nicht wahr? Worauf ich hinauswill, ist, dass Sie meiner Meinung nach dem Jungen gegenüber Ihre Pflicht erfüllen. Der Junge ist das Wichtigste. Niemand darf ihm wehtun. Eine glückliche Kindheit, ja Kinder überhaupt, sind das Wichtigste auf der Welt. Ich glaube, ich habe etwas verpasst. Aber ich bin froh, dass es einer so guten Frau wie Ihnen, Lydia Danse, nicht so ergangen ist. Ich kann nichts tun, außer für Sie zu beten. Aber Sie sollten wissen, dass ich das jeden Tag tue.«
Lydia bemerkte die Tränen in den Augen der alten Frau. Beim Versuch, sie zurückzuhalten, zitterte sie vor Anstrengung. Und dann traten auch Lydia Tränen in die Augen. Sie stand auf, ging zu ihr hinüber und nahm sie so liebevoll und so vorsichtig wie möglich in den Arm. Der Körper in ihren Armen, der Kopf an ihrer Wange fühlte sich so zerbrechlich an. Sie roch den guten, sauberen Duft alter Frauen und spürte die warmen, nassen Tränen zwischen ihren Gesichtern. Ich liebe dich, alte Frau, dachte sie, das war mir vorher nicht klar, alles ging so schnell, ich wusste gar nicht, dass es so schnell gehen kann, aber ich liebe dich von ganzem Herzen.
Sieh nur. Sieh nur, was du mir gegeben hast.