34
Besuchsrecht, fünfter
Teil
Ellsworth, New Hampshire
Es ließ ihr keine Ruhe.
Sie war täglich bei Ruth und Harry gewesen, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sogar zweimal, und an diesem Nachmittag jetzt schon das dritte Mal. Sie war immer kühl und distanziert empfangen worden, aber das war zu erwarten gewesen. Es war ihr egal. Was ihr indes nicht egal war, war Robert.
Er schien wieder etwas vor ihr verbergen zu wollen.
Sie bog in die mit Schlaglöchern übersäte Schotterstraße ein, stieg aus dem Auto und ging auf das Haus zu. Es war kurz nach drei an einem grauen, kühlen Tag. Später würde es sicher noch regnen. Sie war bei Ellie Brest gewesen, aber Ellie hatte sie heute schon sehr früh gehen lassen. Sie wollte nicht, dass sie unterwegs von einem Unwetter überrascht wurde – und das, obwohl die Frau starke Schmerzen litt, da sie sich während Lydias Abwesenheit noch einen weiteren Handgelenksknochen gebrochen hatte.
Lydia war klar, dass das Wetter nichts damit zu tun hatte. Sie hatte Ellie von ihrer Besorgnis bezüglich Roberts Benehmen berichtet. Mit dem Ergebnis, dass ihr Ellie beinahe so große Sorgen gemacht hatte, wie sie ohnehin schon hatte. Noch von Ellie aus hatte sie angerufen, und Ruth hatte widerwillig geantwortet, dass sie nichts dagegen hätte, wenn sie heute ein weiteres Mal vorbeikam.
Die Holzveranda musste dringend ausgebessert werden. Harry lässt langsam nach, dachte sie, oder er wird einfach alt. Das zweite graue Stufenbrett war fast auf der ganzen Länge bis zu dem verrosteten Nagel auf der rechten Seite gesprungen und gab unter ihrem Tritt nach.
Sie klopfte an die Tür und wartete.
Gestern war sie besonders beunruhigt gewesen. Eigentlich war gar nichts vorgefallen, jedenfalls nichts Konkretes, was Anlass zur Beunruhigung gegeben hätte. Er war nur irgendwie schweigsam gewesen und sie hatte sich des Gefühls nicht erwehren können, dass ihn mehr belastete als seine Situation, die Tatsache, dass er seine vertraute Umgebung hatte verlassen müssen und seine ungewisse Zukunft.
Denn zwei Tage vorher, am Donnerstag, schien er sich mehr oder weniger eingewöhnt zu haben. Er hatte ein eigenes Zimmer und all seine Sachen, darunter einen Fernseher, sein Spielzeug sowie die Bücher und seine Videospielkonsole. Er schien sich mit dem, was ihm widerfuhr, abgefunden zu haben. Und sie hatte sich um seinetwillen darüber gefreut.
Und gestern dann diese totale, verdrießliche Schweigsamkeit.
Als würde er ihr die Schuld geben.
Als sie allein waren, hatte sie ihn gefragt, ob zwischen ihm und Ruth oder ihm und Harry irgendetwas vorgefallen sei, doch er hatte nur den Kopf geschüttelt und weiter die Matheaufgaben gemacht, bei denen sie ihm half. Dann hatte sie wissen wollen, ob er seinen Vater gesehen habe. Ein weiteres Nein. Was hast du dann?, hatte sie gefragt. Was ist los? Bist du sauer auf mich?
Nein, hatte er gesagt. Gar nichts ist los. Aber seine Stimme war einen Tick zu laut, so dass es sich anhörte, als wäre er wütend auf sie. Nein, als sollte sie genau wissen, was mit ihm nicht stimmte. Als wäre das eine saublöde Frage.
Sie erkundigte sich, ob er überhaupt irgendwas von seinem Vater gehört hätte, und erntete ein weiteres Nein.
Er würde nichts sagen.
Er würde sich ihr nicht wieder öffnen.
Und das machte ihr Sorgen.
Sie wollte gerade zum zweiten Mal anklopfen, als Ruth an der Haustür erschien. Hinter Lydia fielen in dem Moment die ersten Regentropfen, und ihr fiel ein, dass sie auf der Fahrerseite das Fenster offen gelassen hatte.
»Warte«, sagte sie. »Augenblick.«
Sie rannte zum Auto. Der Regen schüttete mit einem Mal vom Himmel, und sie wurde doch noch klatschnass. Sie kurbelte das Seitenfenster hoch und schlug die Autotür zu, lief zum Haus zurück und warf, kurz bevor sie die Veranda erreichte, einen Blick nach oben. Sie sah, wie in einem der Schlafzimmer im Obergeschoss eine Spitzengardine zugezogen wurde. Es war in Ruths Zimmer, wie sie sich erinnerte. Ruth und Harry schliefen in getrennten Schlafzimmern. Schon seit Jahren.
Bis sie an Ruth vorbei und im Haus war, triefte ihre Bluse vor Nässe und ließ den dünnen, weißen Spitzen-BH durchschimmern.
Als sie bemerkte, dass Ruth auf ihre Brüsten schielte, wurde sie rot.
»Ich hol ein Handtuch«, brummte Ruth. »Der Junge ist in der Küche, er macht ein Puzzle.«
»Danke«, antwortete Lydia.
Diese Frau wird mich wohl bis in alle Ewigkeit nervös machen, dachte sie.
Das Puzzle war wirklich groß, aber er hatte es schon fast zur Hälfte geschafft. Sie kannte sich in der Kunstgeschichte nicht besonders gut aus, aber bei dem Motiv handelte es sich entweder um einen Bosch oder Breughel. Engel kämpften mit Lanzen und Schwertern gegen eine Horde surreal anmutender, im Rückzug befindlicher Ungeheuer – Krötenmonster, Fischmonster und Monster, die offenbar aus Eiern geschlüpft waren. Sie nahm die Schachtel vom Tisch, studierte den Deckel und betrachtete das vollständige Gemälde darauf: Pieter Breughel, Der Sturz der gefallenen Engel, Brüssel 1562, Musées des Beaux-Arts.
Ziemlich abgedrehtes Zeug.
Sie küsste Robert auf die Stirn.
»Hi, Mom«, sagte er,
»Hey, das machst du aber echt gut.«
»Schon, aber ich brauche ewig dafür.«
»Na und? Du hast doch keine Eile, oder?«
»In einer Stunde will Oma den Tisch wieder haben.«
»Dann bringen wir es woanders hin. Keine Sorge. Wo hast du das eigentlich her?«
»Dad … Oma … hm, nein, das hat Daddy gehört.«
Er wurde rot, als hätte er sich verplappert. Dann wandte er sich wieder dem Puzzle zu.
»Das hat Daddy gehört, als er noch klein war?«
Er nickte.
»Und Oma und Opa haben es für dich vom Dachboden geholt?«
Wieder nickte er.
Schweigen. Wieder bloß Schweigen.
Verdammt. Was zur Hölle ging hier vor?
Ruth kam mit dem Handtuch herein.
»Hier«, sagte sie. Sie warf einen Blick auf das Puzzle und lächelte dünn, dann ging sie hinaus.
Lydia rubbelte sich die Haare trocken. Das Handtuch roch unangenehm modrig. Sie fragte sich, wann es das letzte Mal gewaschen worden war. Ob alle Handtücher hier so rochen, oder ob Ruth dieses extra für sie ausgesucht hatte?
»Hast du was von deinem Vater gehört?«
Er schüttelte abermals den Kopf, starrte auf das Puzzle, drehte auf der Suche nach der richtigen Stelle ein Puzzleteil zwischen den Fingern.
»Alles okay?«
Er nickte.
»Bestimmt?«
Er nickte wieder.
»Hey, ich vermiss dich, weißt du? Das Haus ist ziemlich groß und schrecklich still ohne dich.«
Sie sah, wie er nach Luft schnappte. Das Puzzleteil hörte auf, sich in seiner Hand zu drehen. Wo er es festhielt, wurde die Kuppe seines Daumens schneeweiß.
Um Himmels willen, dachte sie. Was machst du hier eigentlich? Willst du ihn foltern?
»Du kannst bald wieder zurück. Versprochen.«
Sie strich ihm mit den Händen über die Schultern und küsste ihn erneut auf den Scheitel.
»Soll ich dir helfen?«
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
Dann blickten sie auf das Puzzle und die einzelnen Puzzleteile.
Eine Stunde später waren sie noch immer nicht fertig und hatten kaum mehr als zehn Worte miteinander gewechselt.
Als sie das Haus verließ, war es fast dunkel, und es hatte aufgehört zu regnen. Die löchrige Auffahrt war mit schwarz glänzenden Pfützen übersät. Sie umrundete sie, stieg in ihr Auto und ließ den Motor an.
Als sie zurücksetzte, spähte sie noch einmal zum Fenster im Obergeschoss hinauf. Die Gardine bewegte sich nicht. Das Zimmer war dunkel.
Trotzdem – hier war etwas faul. Sie brauchte nur eine Sekunde, um zu begreifen, dass sie vorhin nicht Ruth am Fenster gesehen haben konnte, weil Ruth bei ihr an der Tür gestanden hatte, und dass es auch nicht Robert gewesen war.
Und wenn Harry noch im Laden war – wo er normalerweise bis zum Abendessen blieb –, wer hatte dann da oben am Fenster gestanden?
Sie fuhr zum Laden, um der Sache auf den Grund zu gehen, und hielt auf dem Parkplatz. Sie sah Harrys jüngeren Gehilfen allein an der Kasse sitzen. Keine Spur von Harry oder seinem Pick-up, der übrigens auch nicht vor seinem Haus gestanden hatte.
Was ihr in diesem Moment in den Sinn kam, gefiel ihr überhaupt nicht.
Im Gegenteil, es hätte sie fast um den Verstand gebracht.
Doch es war nicht unmöglich. Es mochte nicht sonderlich schlau und der Ausdruck eines kranken Geistes sein, aber möglich war es allemal.
Alles hing allein davon ab, wie dreist diese Leute letztendlich waren. Und wie überzeugt sie davon waren, mit so etwas durchkommen zu können.
Sie würde sie von nun an im Auge behalten. Und zwar ganz genau.
Noch heute Abend würde sie damit anfangen.