24
Verhinderte und echte
Kriminelle
Die Uhr zeigte Viertel vor sechs. Duggan wurde von Kopfschmerzen geplagt, denen mit Aspirin allein nicht beizukommen war. Schon vor einer Stunde hatte er nach Hause gehen wollen, wo er sich im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt hätte, während Alice ihn bemutterte und ihn mit heißen Umschlägen und Tee versorgte. Sie würde ihm nicht mit Hypothekenrückständen in den Ohren liegen. Sie würde sich nicht über ihre Arbeitszeiten beklagen. Alice konnte wunderbar mit Kranken umgehen. Sofort sprang ihr Mutterinstinkt an und man bekam seine Wünsche praktisch von den Augen abgelesen.
Doch es blieb bei den Wünschen.
Der Verhaftete, mit dem er es momentan zu tun hatte, war ein echtes Prachtexemplar.
Der Typ hieß Elmo Lincoln – seine Mama hatte ihn allen Ernstes nach einem alten Tarzan-Darsteller benannt. Er hatte einen Tante-Emma-Laden an der 3A überfallen, die Registrierkasse ausgeräumt, seine .22er auf den Besitzer gerichtet und ihm befohlen, die Autoschlüssel rauszurücken. Dann war es dem Ladenbesitzer – einem eingeschüchterten Opa von fünfundsechzig Jahren mit Brillengläsern groß wie Radkappen – irgendwie gelungen, den Alarmknopf zu drücken, was Elmo allerdings nicht mitbekommen hatte. Er war stattdessen aus dem Laden marschiert und ins Auto gestiegen.
Erst dann war ihm aufgefallen, dass er gar nicht damit fahren konnte.
Es handelte sich nämlich um einen bis ins Detail und mit viel Liebe restaurierten, auf Hochglanz polierten kirschroten 63er Chevy.
Mit Handschaltung.
Damit konnte Elmo nicht umgehen.
Stocksauer war er in den Laden zurückgerannt und hatte angefangen, den Alten anzuschreien, was zum Henker er mit einem Auto anfangen sollte, das älter war als er selbst. Doch Elmo hatte geahnt, dass der Ladenbesitzer noch ein anderes Auto hatte, ein richtiges Auto, das – verdammte Kacke – irgendwo versteckt war. Also, wo stand die Karre, hatte er gefragt und den Alten aus dem Laden gezerrt, wo er zehn Minuten lang mit seiner Pistole vor der Nase des armen Teufels herumgefuchtelt hatte.
Als Duggan dazukam, warf Elmo dem Streifenwagen nur einen langen Blick zu, ließ die Waffe fallen und zuckte mit den Achseln.
»Ich hätte abhauen können«, meinte er.
Ohne Scheiß, dachte Duggan.
Duggan erledigte den Papierkram, den dieser Schwachkopf ihm aufgehalst hatte, und dachte unter dumpf pochenden Kopfschmerzen über die verblüffende geistige Schlichtheit mancher Krimineller nach – Ich hätte abhauen können –, als das Telefon klingelte.
»Ich habe hier noch eine«, sagte Whoorly.
»Scheiße. Wo?«
»Canaan. Diesmal hat er sie am Straßenrand abgeladen, aber der Gerichtsmediziner meint, dass der Leichenbeschauer vor Ort voll ins Schwarze getroffen hat. Anal und vaginal vergewaltigt. Die Hände von Nägeln durchbohrt. Sie wurde geschlagen, verbrannt …«
»… und mit einem Pflock ins Herz gepfählt.«
»Du sagst es.«
»Dieses Arschloch verwechselt Frauen mit Dracula.«
»Was?«
»Nichts. Steht die Todeszeit schon fest?«
»Letzte Nacht irgendwann zwischen drei und vier Uhr morgens. Willst du die Akte?«
»Und ob ich die Akte will.«
Er legte auf und fragte sich, wo Arthur Danse letzte Nacht wohl gesteckt hatte.
Er fragte sich, wie sein Sorgerechtsprozess lief.
Er fragte sich, ob er womöglich auf irgendjemanden wütend war.
Er heftete den Ordner mit dem großen Elmo-Lincoln-Raubüberfall bis morgen ab und stand auf, um Antworten auf seine Fragen zu finden.
Zuerst sprach er mit dem Justizwachtmeister, dann fuhr er zu Arthur nach Hause.
Arthur war nicht gerade erfreut, ihn zu sehen. Er öffnete die Tür und verdrehte die Augen: »Was gibt’s, Ralph? Ich hatte einen anstrengenden Tag.«
»Für deinen Tag interessiere ich mich nicht, Art. Aber für die Nacht.«
»Was?«
»Erzähl mal, was du letzte Nacht so gemacht hast, Art.«
»Ich bin ins Restaurant gefahren, bin dort bis zehn geblieben und dann wieder heimgefahren, habe ferngesehen und bin dann ins Bett. Wieso?«
»Allein, nehme ich an.«
»Ich fürchte ja.«
Duggan spähte in den Flur. Soweit er sehen konnte, war die Wohnung makellos aufgeräumt und beinahe spartanisch eingerichtet.
»Wie wär’s, wenn du mich kurz auf eine Tasse Kaffee reinbittest? Ich könnt ’nen Kaffee gebrauchen.«
»Ein andermal, Ralph. Wie ich schon sagte, hatte ich einen höllisch anstrengenden Tag.«
»Klar. Wie läuft der Prozess?«
»Gut.«
»Das muss dich doch richtig sauer machen, oder?«
»Sauer auf was?«
»Na ja, auf deine Frau. Wie hieß sie noch? Lydia. Teufel nochmal, auf Frauen im Allgemeinen. Ich wär bestimmt stinksauer.«
»Es kommt vor allem drauf an, dass ich gewinne.«
»Glaubst du denn, dass du gewinnst?«
»Mein Anwalt meint, ja.«
Duggan lächelte. »Dir ist bestimmt klar, dass ihr Anwalt dasselbe sagt. Das machen Anwälte immer.«
»Natürlich. Ich muss jetzt, Ralph. Wirklich. Ich muss nochmal ins Restaurant rüber.«
»Verstehe. Nacht, Art. Ich komm dann morgen nochmal vorbei.«
Arthur schloss die Tür, und Duggan hörte, wie er den Riegel vorschob.
Kein Alibi. Aber auch keine Chance, ihn zu überführen. Und kein ausreichender Grund für eine Hausdurchsuchung. Er würde morgen mit ein paar Leuten im Caves reden. Ein bisschen Staub aufwirbeln. Wahrscheinlich würde nichts dabei rauskommen, aber vielleicht wurde Danse auf diese Weise wenigstens ein bisschen nervös, ein bisschen sauer, so dass ihm irgendein Ausrutscher passierte. Im Moment schien er ein bisschen zu selbstsicher zu sein. Früher oder später würde er auf die Schnauze fallen.
Fürs Erste lenkte er den Wagen Richtung Stadt, Zuhause, Wohnzimmercouch, Alice. Ihm fiel auf, dass die Kopfschmerzen wie weggeblasen waren.
Vielleicht hatte der Gedanke an Danse hinter Gittern eine heilende Wirkung auf ihn.
Ein kleiner Ausrutscher, und ich klebe an dir wie Fliegen an Hundescheiße, dachte er.
Er zündete sich eine Newport Lite an. Ich wette, dann könnte ich sogar mit dem Rauchen aufhören.
Schreie weckten Lydia.
Robert, dachte sie und war aus dem Bett und halb durchs Schlafzimmer, als ihr klarwurde, dass das Geschrei von draußen kam und nicht aus dem Haus. Sie lief zum Fenster.
Sie konnte sie im Mondlicht gut erkennen, grau und farblos hoben sich eine Katze und zwei Hunde vom stacheligen Gras ab. Die Hunde gehörten keiner bestimmten Rasse an. Groß und schwer überragten sie die Katze, die nicht weit von einer großen blauen Fichte zwischen ihnen festsaß, fauchte und mit ihren Krallen nach ihnen schlug, wieder zurückwich, erneut schrie und sich einen Weg zwischen den Hunden hindurch zu dem rettenden Baum zu bahnen versuchte, während die Hunde immer wieder auf sie losgingen, geräuschlos nach ihr schnappten und es mit einer furchteinflößenden Entschlossenheit darauf anlegten, sie zu töten. Ihre weit aufgerissenen Augen glänzten wie polierte Steine.
Sie stieß das Fenster auf, fand einen einzelnen Schuh auf dem Boden und warf ihn nach den Hunden. »Macht, dass ihr wegkommt!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Eigentlich war es ein billiges Klischee, einen Schuh zu werfen, doch sie wollte, dass die Katze überlebte. Sie hatte gut gezielt, der Schuh traf den größeren der beiden Hunde an der Schulter, und einen Moment lang fror das Bild ein. Dann begann die Katze in Zeitlupe, genau wie die Hunde, zurückzuweichen. Es war, als würden die Hunde abwarten, ob noch etwas Größeres nachfolgte. Mit einem weiteren Schuh oder Stiefel war der Fall nicht erledigt. Es mussten also noch mehr und gewichtigere Wurfgeschosse her.
Neben ihr hing eine gerahmte englische Stickerei an der Wand: Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend. Hannah East, Im Alter von 14 Jahren, Im Jahre des Herrn 1863, die sie in Boston gekauft hatte, als sie noch mit Jim verheiratet gewesen war. Sie nahm den Rahmen von der Wand, lehnte sich aus dem Fenster und schrie: »Haut ab, ihr Scheißköter!« Dann warf sie ihn nach den Hunden und zuckte zusammen, als er die Katze nur knapp verfehlte, um im nächsten Augenblick vor den Angreifern zu zerschellen. Glassplitter sausten durch die Luft, die Hunde erschraken, die Katze nutzte ihren Vorteil, flitzte zum Baum und den Stamm hinauf.
Nun hockte sie auf einem Ast und sah in aller Ruhe nach unten.
»Mom? Was …?«
Robert stand in der Schlafzimmertür, seine Augen waren fast so groß wie die der Katze.
Ihr Herz klopfte.
Sie fühlte sich großartig. Fantastisch.
Sie lachte. Wie wunderbar, erkannte sie, endlich etwas unternehmen zu können. Etwas Gutes.
Etwas bewirken zu können.
»Alles in Ordnung«, sagte sie lächelnd. »Ich habe bloß gerade mit einem alten Familienerbstück einem Kätzchen das Leben gerettet.«
»Was ist ein Familienerbstück?«
»Komm, lass uns erst mal rausgehen und die Scherben aufsammeln, dann erkläre ich es dir bei einem heißen Kakao, okay?«
Und sie ging hinter ihm die Treppe hinunter.