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Die Familie von Arthur
Danse
Oktober 1987 bis Dezember 1993
Es gab Probleme, aber sie hatte sich vorgenommen, es irgendwie hinzubiegen und bis zum Ende durchzuhalten. Schließlich musste sie ein Kind großziehen.
Und Robert liebte seinen Vater. Das war gar keine Frage.
Seit er drei Jahre alt war, hatte er nur seinen Daddy im Kopf. Wann kommt Daddy heim? Können wir mit Daddy mitgehen? Im Frühjahr ’89 unterschrieb Arthur einen Vertrag mit seinem Koch und einem Abfüllunternehmen in Concorde, um einige der Spezialsalatsaucen aus dem Caves in den Touristenläden im ganzen Skigebiet der White Mountains und am Lake Winnipesaukee anbieten zu können. Sogar so weit entfernte Orte wie Stowe in Vermont gehörten zu seinem Einzugsgebiet – was dazu führte, dass er ständig auf Geschäftsreise war. Manchmal bekamen sie ihn dann eine Woche lang nicht zu Gesicht.
Wenn er zurückkam, war Robert jedes Mal total aus dem Häuschen.
Zum einen brachte Arthur immer Geschenke mit. Plastiksuperhelden aus den Zeichentrickserien, Dinosaurier, Comichefte, Kinderbücher und Brettspiele. Als er älter wurde Spiele für Nintendo und Sega Genesis.
Arthur war ein sehr fürsorglicher Vater.
Sie gingen zusammen ins Kino, Pizza essen – manchmal nur die beiden allein, Vater und Sohn –, erledigten die Hausaufgaben zusammen, spielten Baseball und Football, obwohl Lydia Football nicht ausstehen konnte. Arthur versuchte, an so vielen schulischen und außerschulischen Aktivitäten wie möglich teilzunehmen. Dieses Engagement rechnete sie ihm hoch an. Er nahm Robert mit zum Angeln und brachte ihm das Fahrradfahren bei.
Die alltägliche harte Arbeit, einen kleinen Jungen großzuziehen, blieb dennoch zum großen Teil an ihr hängen. Sie legte die Regeln fest und sorgte dafür, dass sie auch eingehalten wurden. Dabei kam sie sich häufig vor wie die böse Hexe im Märchen, was ihr ein schlechtes Gewissen bereitete. Aber das lag wohl in der Natur der Sache. Aber verglichen mit vielen anderen Kids war Robert ein pflegeleichtes Kind.
Robert war nicht das Problem.
Arthur war das Problem.
Er schien sich mit der Zeit immer mehr zurückzuziehen. Sie redeten weniger miteinander, und es gab auch immer weniger, worüber sie miteinander reden konnten. Er wirkte launisch und abwesend. Außer im Schlafzimmer.
Aber auch das war ein Problem.
Er wollte immer häufiger Analsex.
Sie verabscheute diese Art von Sex. Hasste ihn regelrecht. Es war, als müsste man ganz dringend, konnte aber nicht. Stattdessen wurde alles nur noch weiter hineingedrückt. Es fiel ihr inzwischen leichter als am Anfang, seinem Willen zu entsprechen, aber das machte die Sache kein bisschen weniger abstoßend. Es kam so weit, dass sie sich vor dem Sex mit ihm fürchtete, da sie nie wusste, ob er es auch in dieser Nacht wieder von ihr wollte.
Ständige Anspannung und Sex waren eine schlechte Kombination.
Sie hatte so gut wie keine Orgasmen mehr.
Ihm schien das nichts auszumachen. Auch das verletzte sie.
Einmal verweigerte sie sich ihm einfach.
Es war einer von den Tagen, an denen alles, was schiefgehen kann, auch schiefgeht. Die Toilette war defekt und sie konnte nur mit Mühe einen Klempner organisieren. Die Warterei auf den Mann brachte den Nachmittag so durcheinander, dass sie Cindy, deren Tochter Gail in derselben Klasse wie Robert war, darum bitten musste, ihn von der Schule abzuholen und zu Hause abzusetzen. Dann hatte Robert auch noch einen seiner seltenen, aber wirklich üblen Wutanfälle, weil sein Gameboy nicht funktionierte und sie keine Reservebatterien im Haus hatten. Er tat, als wäre es ein Weltuntergang, so dass sie ihn regelrecht hinausdrängte und ihm befahl, fürs Erste draußen zu spielen. In der Hektik hatte sie dann um ein Haar die Lasagne anbrennen lassen.
Und an diesem Abend wollte Arthur sie auch noch in den Arsch ficken. Himmel.
»Nein«, sagte sie.
»Warum nicht?«
Sie war todmüde. »Nein, Arthur. Bitte nicht heute Abend.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht will.«
»Aber ich will.«
»Ein andermal, Arthur. Okay?«
Es war nicht okay. Er stürmte aus dem Zimmer, schlug die Tür zu und weckte den fünfjährigen Robert, dem sie anschließend erklären musste, warum Daddy heute Nacht im Gästezimmer schlief.
Sie erzählte ihm etwas über eine Erkältung und Bazillen.
Arthur schmollte und grollte über eine Woche lang. Er sprach so gut wie kein Wort mit ihr, und das wenige, was er von sich gab, waren zum Großteil Gemeinheiten. Er ignorierte Robert fast vollständig. Der Junge merkte, dass etwas nicht stimmte, und machte einen ungewöhnlich großen Bogen um seinen Vater. Es war fast so, als würde Robert ihm nicht über den Weg trauen. Trotzdem konnte sie erkennen, dass der Junge verletzt war und sich zurückgewiesen fühlte. Es tat ihr in der Seele weh. Außerdem beunruhigte es sie, dass Arthur ihre Probleme auf ihren Sohn abwälzte, als wollte er Robert dafür in Sippenhaft nehmen.
Als würde sie mit einem boshaften kleinen Jungen zusammenleben, der die Macht besaß, ihr und Robert nach Lust und Laune das Leben zur Hölle zu machen. Und der eindeutig darauf aus war, genau das zu tun.
Schließlich trat er eine mehrtägige Geschäftsreise an. Als er wiederkam, schien der Vorfall Schnee von gestern zu sein.
Doch sie verweigerte sich ihm nie wieder.
Das war es nicht wert.
Sie musste schließlich auch an Robert denken.
Sie widersetzte sich ihm auch an dem Abend nicht, als er aus Concorde nach Hause kam und seine kleine schwarze Tasche voller Spielsachen dabeihatte.
Grinsend leerte er die Tasche neben ihr auf dem Bett aus.
»Es geht um Fantasie«, sagte er. »Um Fantasie und um Vertrauen, verstehst du? Ist mal was anderes. Das wird lustig.«
Lustig für wen?, dachte sie.
Es war allerdings mal was anderes.
Vier schwarze Lederfesseln mit Silberringen, zwei für die Handgelenke und zwei schwerere, breitere für die Fußknöchel.
Vier lange, dünne Silberketten.
Acht doppelseitige Karabinerhaken, um die Ketten miteinander zu verbinden.
Und eine kurze, geflochtene schwarze Lederpeitsche.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie.
»Keine Sorge. Ich werd dir nicht wehtun.«
»Ach, nein? Und wozu dann die Peitsche?«
Er lachte. »Sagen wir … um in Stimmung zu kommen.«
Sie deutete auf die Fesseln, Sie konnte den schweren Duft von neuem Leder und metallisches Silber riechen.
»Du willst, dass ich die anlege.«
»Genau. Und das hier auch.«
Er griff in seine Tasche und brachte einen schwarzen Seidenschal zum Vorschein.
Eine Augenbinde.
Sie sah ihn entgeistert an.
Er zuckte lächelnd mit den Achseln. »Die gehört zum Spiel. Ist doch hübsch, oder? Ein Geschenk für dich.«
»Oh, vielen Dank auch.«
Es fiel ihr schwer, das ernst zu nehmen. Fesselspiele. Um Himmels willen, schließlich waren sie hier in New Hampshire und nicht irgendwo in New York oder so, wo solches Zeug vermutlich nichts Besonderes war. Ihr kam das Ganze ziemlich albern vor.
Aber da war auch noch etwas anderes.
Ein leichter Anflug von Furcht.
Er bemerkte ihre Reaktion. Konnte sie wie immer von ihren Augen ablesen.
»Jetzt komm«, sagte er. »Versuch’s doch mal.« Dann lachte er. »Hey, ich hab einen Haufen Geld für das ganze Zeug ausgegeben!«
Na schön, dachte sie. Wie sagt man so schön? Einmal ist keinmal. Dann lasse ich ihm eben seinen Willen. Aber nur einmal. Wer weiß? Vielleicht hat er ja Recht. Vielleicht ist es ja wirklich … irgendwie … aufregend.
Sonst passierte in letzter Zeit ja nicht viel Aufregendes.
»Und was willst du … was soll ich anziehen?«, fragte sie.
»Nichts.« Er lächelte. »Nur das.«
Er hielt die Augenbinde hoch.
Sie atmete tief durch.
»Okay«, sagte sie. »Aber nicht diese … andere Sache.«
Er wusste, was sie meinte. Sie meinte Analverkehr. »Nein. Versprochen.«
Robert war schon lange im Bett, trotzdem schloss Arthur die Tür und sperrte sie ab.
Sie ließ das Nachthemd von ihren Schultern gleiten.
Plötzlich fühlte sie sich sehr verwundbar.
»Ich weiß nicht so recht, Arthur.«
»Keine Sorge.«
Bringen wir es also hinter uns, dachte sie.
»Also gut. Wie willst du … wo willst du mich haben?«
»Knie dich erst mal da hin, einfach mitten aufs Bett.«
Sie tat wie befohlen. Er faltete den Schal zusammen, legte ihn über ihre Augen und verknotete ihn hinter ihrem Kopf. Die Welt versank in Dunkelheit und dem Geruch und Gefühl weicher, teurer Seide.
Er griff nach ihrer linken Hand, legte eine der Fesseln darum und ließ das Schloss einrasten.
»Ist das zu eng?«
»Nein.« Das Leder fühlte sich eigentlich ganz weich an.
»Kannst du deine Hand rausziehen?«
Sie versuchte es.
»Nein«, antwortete sie.
Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal wirkliche Angst verspürte – dennoch war es aufregend, denn wenn er ihr erst alle Fesseln angelegt hatte, würde sie sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien können und ihm völlig ausgeliefert sein.
Es war ihr schrecklich peinlich.
Auf den Knien lauschte sie dem Klimpern der Ketten, als er diese durch die Ringe an den Hand-und Fußfesseln führte und hinter ihr an dem Bettgestell aus Messing befestigte. Dann befahl er ihr, die Beine weit zu spreizen. Er zurrte die Ketten anschließend fest um das Bettgestell, so dass sie ihre Beine unmöglich wieder schließen konnte. Dann wiederholte er das Ganze, so dass bald auch ihre ausgestreckten Arme ans Kopfteil gefesselt waren.
Sie konnte sich weder nach vorne auf die weiche Matratze fallen lassen noch sich zur Seite drehen. Sie fühlte sich plötzlich über die Maßen verwundbar, noch dazu hatte sie keine Ahnung, was er vorhatte. Das anfänglich aufregende Prickeln war einem regelrechten Zittern gewichen. Sie fühlte sich schwach, gefangen und entblößt. Und zum ersten Mal hatte sie sogar ein bisschen Angst vor ihm.
»Pass auf, wir machen Folgendes«, sagte er. »Wir spielen ein Spiel.«
Seine Stimme schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen.
»Ich habe acht Schusswaffen im Haus, richtig?«
Schusswaffen?, dachte sie.
»Pistolen, Gewehre und Revolver. Du hast tausendmal zugesehen, wie ich sie poliere, reinige und auseinandernehme. Jetzt sagen wir mal, dass die acht Waffen acht verschiedenen Stellen an deinem Körper entsprechen. Nämlich hier …«
Sie spürte, wie er mit der Peitsche über die Innenseite ihres rechten Arms strich, und zuckte zusammen.
»Hier …«
Die Peitsche glitt jetzt über ihren linken Arm von der Schulter bis zum Ellbogen. Wieder zuckte sie zusammen.
»Hier, und hier …«
Die Innenseiten ihrer Schenkel.
»Hier natürlich auch …«
Ihr Hintern.
»Und hier …«
Der Bauch.
»Und dann noch hier …«
Er fuhr fast quälend langsam über ihre Brüste.
»… und hier.«
Die Peitsche strich über ihr Schamhaar.
Mein Gott, dachte er wirklich daran, die Peitsche an dieser Stelle zu benutzen.
Unmöglich. Das war Wahnsinn.
»Arthur …«
»Warte, hör mir zu. Das Spiel geht so: Ich berühre dich an einer Stelle, genauso wie gerade eben. Dann nenne ich dir eine meiner Waffen und du sagst mir das dazugehörige Kaliber. Wenn du richtig antwortest, werde ich die Peitsche an der zugehörigen Stelle nicht benutzen. Wenn du knapp danebenliegst, benutze ich sie, aber nur leicht. Wenn du falsch antwortest – ein bisschen fester.«
»Nein, Arthur, nein. Unmöglich.«
»Du kannst nichts dagegen machen, Liddy.«
»Arthur, das ist nicht lustig.«
»Liddy, du kannst nichts machen.«
»Und ob ich kann. Willst du, dass ich schreie?«
Er lachte. »Weißt du, was dann passiert? Du weckst Robert. Und wie willst du Robert das hier erklären? Das könnte fast ein bisschen schwierig werden, oder?«
»Arthur, du Hurensohn.«
Sie war fuchsteufelswild. Wie konnte er es wagen?
Und wieso hab ich überhaupt mitgemacht?
»Wenn du das tust, Arthur, wenn du das hier wirklich durchziehen willst, dann sind wir geschiedene Leute, das schwör ich dir«, sagte sie. »Wirklich, ich werde mich scheiden lassen. Das ist kein Witz.«
»Es ist ein Spiel, Lydia. Nur ein Spiel. Nimm es doch nicht so ernst. Pass auf, ich weiß genau, was dir daran nicht gefällt. Also fangen wir an der Stelle an, die dir offensichtlich die größten Kopfschmerzen bereitet. Hier …«
Wieder fuhr er mit der Peitsche über ihre Scham. Sie zuckte zusammen.
»Magnum«, sagte er.
»Was?«
»Magnum.«
Er berührte sie noch einmal.
».357«
»Na also«, sagte er. »Siehst du? Du kannst es! Du spielst mit. Und du hast gewonnen, oder nicht? Ich mache gar nichts.«
Na toll, dachte sie. Ich kenne deine gottverdammten Schusswaffen nicht.
Sie fühlte die Peitsche über die empfindliche Haut an der Innenseite ihres rechten Oberschenkels streichen. »Walther PPK.«
Sie erriet die .380 und verdrehte dabei auch keine der Ziffern.
Das war leicht.
Ebenso der Ladysmith-Revolver – Kaliber .38 –, weil er ihr oft genug eingetrichtert hatte, dass er diese Waffe zu ihrem Schutz gekauft hatte. Sie gehörte ihr, auch wenn sie noch nie damit geschossen hatte.
Sie lag auch bei der Schrotflinte vom Kaliber .12 richtig.
Ihr rechter Arm und ihr Bauch blieben verschont.
Im Gegensatz zu ihrem Hintern. Er schlug dort richtig fest zu. Sie spürte den brennenden Schmerz noch, als er sich schon der weichen Haut ihres linken Oberschenkels und der Innenseite des linken Arms zuwandte.
Auch ihre Brüste verschonte er nicht.
Obwohl er dort nicht so fest zuschlug, offenbar aus Rücksicht auf die Empfindlichkeit ihres Busens, hätte sie in dem Moment fast laut aufgeschrien. Nur der Gedanke an Robert hielt sie davon ab, die Vorstellung, dass Robert aufwachte und wissen wollte, was Mami und Daddy hinter der abgeschlossenen Schlafzimmertür wohl machten.
Als er fertig war, hatte sie Tränen in den Augen.
Und als er sie losband, verfluchte sie ihn, duschte und schlief im Nebenzimmer.
Es war einfach eine weitere Erkältung. Wieder diese Bazillen. Und diesmal hatte es zur Abwechslung Mami erwischt.
»Es war doch nur ein Spiel«, sagte er beim Hinausgehen. »Komm schon. Du wirst es überleben.«
Die Striemen waren nach ungefähr einer Stunde wieder verblasst.
Die Erinnerung aber verblasste nie. Sie bewahrte sich die Erinnerung daran auf wie ein Eichhörnchen Haselnüsse für den Winter.
Sie sah die Handschellen oder die kurze schwarze Peitsche nie wieder. Sie vermutete, dass er beides weggeworfen hatte. Wahrscheinlich war er stinksauer auf sie. Hielt sie für eine Spielverderberin.
Aber das war ihr völlig egal.
Sie warf den teuren schwarzen Seidenschal in den Mülleimer.
Wochenlang passierte zwischen ihnen nichts, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Sex gehabt hätte. Nicht mal ein flüchtiges Küsschen auf die Wange. Sie merkte, dass ihr auch das ziemlich egal war.
Arthur zog sich sowieso immer weiter zurück. Er verbrachte immer mehr Zeit außer Haus. Im Caves. Auf Reisen. Bei seinen Eltern.
Manchmal fragte sie sich, ob er wohl eine Affäre hatte.
Sie fragte sich, ob sie darauf genauso reagieren würde wie damals bei Jim.
Sie bezweifelte es.
Es gab Nächte, da roch sein Atem nach Schnaps, wenn er heimkam. Dann hielt sie sich immer von ihm fern. Seine Reizschwelle, die früher scheinbar überhaupt nicht existiert hatte, sank immer weiter und weiter. Er hatte sie nie im Zorn geschlagen, aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihn nicht für fähig dazu hielt. Seine Reizbarkeit nahm kolossale Ausmaße an. Wenn er wütend war und sie in Streit gerieten, hatte er so eine Art, ihr auf die Pelle zu rücken, auf sie loszugehen, zurückzuweichen, wieder auf sie loszugehen, vor und zurück und wieder vor, bis er ihr aus nächster Nähe ins Gesicht schrie.
Manchmal dachte sie daran, ihn zu verlassen.
Das war eigentlich kein Problem. Sie hatte zwar nicht viel Erspartes, aber sie konnte jederzeit wieder als Krankenschwester arbeiten. Sie würden vielleicht etwas kürzertreten müssen, aber es würde schon gehen.
Doch dann, kurz vor Weihnachten ’93, starb ihre Mutter. Sie hatte, da sie zu ungeduldig war, um auf den überfälligen Räumdienst zu warten, in der Auffahrt Schnee geschaufelt. Der Herzanfall war schnell, plötzlich und unerwartet gekommen.
Alle drei fuhren sie nach Wolfeboro.
Als sie dort ankamen, war Lydia ein Nervenbündel und ihrer Schwester Barbara, die inzwischen in Hanover lebte, ging es auch nicht viel besser. Sie hatten niemals auch nur daran gedacht, dass ihre Mutter mal sterben könnte. Zweiundsechzig war doch kein Alter. Und niemand hätte mit zweiundsechzig rüstiger sein können als Kerry McCloud. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter den Hinterhof größtenteils in einen Garten verwandelt, wo sie Gemüse und Beeren anpflanzte, die sie einmachte und verschenkte. Sie sammelte Geld für zwei Wohltätigkeitsorganisationen, die Stadtbücherei und den Ortsverein der Demokratischen Partei. Obwohl sie es nicht nötig hatte, arbeitete sie stundenweise in einem Buchladen, um über die Neuerscheinungen auf dem Laufenden zu sein. Sie ging zu Bridgeabenden und zu einer Frauengruppe für alleinstehende Witwen. Das Einzige, worauf sie verzichtete, waren Verabredungen mit Männern.
Alle kannten den Grund dafür.
So wie alle wussten, dass Kerry McCloud jeden Abend ein oder zwei Gläschen trank, bevor sie sich schlafen legte. Und zwar nicht in ihr Ehebett, sondern auf die Couch im Wohnzimmer.
Lydia und ihre Schwester hatte der Verlust regelrecht überwältigt. Sie ertappte sich dabei, wie sie mit leerem Blick die Wände anstarrte und sich dabei an Gespräche und Ereignisse erinnerte, als würden sie in eben diesem Augenblick vor ihr auf die Wand projiziert, wie auf eine Leinwand, auf der das Leben ihrer Mutter wie ein Film vorbeizog. Ein Lesezeichen in einem nicht zu Ende gelesenen Buch, der Name ihrer Mutter auf den nach wie vor täglich eintreffenden Postwurfsendungen, ein Brathähnchen – das genügte, um ihr erneut den Boden unter den Füßen wegzuziehen, ihr in einem unerwarteten Moment die Tränen in die Augen zu treiben.
Robert, der zu der Zeit fast sieben war, hatte seine Oma geliebt, und trotz der Spielsachen, Bücher und Computerspiele, die er mitgebracht hatte, hielt er sich ständig in der Nähe der Erwachsenen auf, um ihre Trauer wie ein faszinierendes Schauspiel zu beobachten. Sie war sich nicht sicher, ob das gut für ihn war. Lydia brachte es nicht übers Herz, ihn nach draußen oder in ein anderes Zimmer zu verbannen, während sie die Beerdigung plante oder mit Freunden und Verwandten telefonierte. Da war es leichter, seine Gegenwart einfach hinzunehmen, auch wenn er ständig den Tränen nahe war – vor allem dann, wenn entweder sie oder Barb oder beide zu Heulen anfingen.
Die eigentliche Überraschung war Arthur.
Nicht, dass er die ganze Sache in die Hand genommen hätte – womit sie insgeheim eigentlich gerechnet hatte –, nein, die Überraschung bestand vielmehr darin, wie viel Anstand, Takt und Würde er in dieser Situation an den Tag legte. In den meisten Fällen war er derjenige, der abnahm, wenn das Telefon klingelte. Er wimmelte Dutzende gut gemeinter, aber aufdringlicher Anrufe ab, erzählte immer und immer wieder dieselbe Geschichte – wie schnell der Notarzt zur Stelle gewesen war, sie aber nicht mehr hatte wiederbeleben können, und ja, zum Glück ist es schnell gegangen, nein, Herzkrankheiten hatte sie keine und, nein, von der Familie sonst auch niemand.
Arthur reagierte auf diese und auf andere, weitaus banalere Anrufe – auf diese ganzen nervtötenden Obliegenheiten, die ein Todesfall in der Familie mit sich bringt – mit einer Gelassenheit, einer ernsthaften, aber unsentimentalen Art, die den beiden Schwestern viel von ihrer Last abnahm. Die Tote sollte nicht aufgebahrt werden, diese Vorstellung fanden die Schwestern einfach barbarisch. Barbara war inzwischen geschieden – und Lydia hatte in dem Punkt Recht behalten, dass der Tag ihrer Hochzeit tatsächlich der glücklichste Tag ihrer Ehe gewesen war. Arthur war also bis zur Beerdigung die meiste Zeit über der einzige Mann im Haus. Und er stellte Barb seine Umarmungen, seine Zeit, seine Geduld und seinen Trost ebenso sanftmütig und großzügig zur Verfügung wie Lydia.
In der Nacht vor der Beerdigung hatten Lydia und er zum ersten Mal seit Wochen Sex. Arthur war nie zärtlicher und liebevoller gewesen, nicht einmal vor ihrer Ehe. Und Lydia war überrascht von ihrem unbändigen Verlangen nach ihm. Sie erinnerte sich später daran, dass es ihr einen Augenblick vorgekommen war, als sei er die Erde, der Boden selbst, und sie würde sich in einem tosenden Sturm an ihm festhalten.
Am Tag der Beerdigung stand sie neben fünfunddreißig Onkeln, Tanten, Kusinen und Freunden aus ganz New England am Grab, Robert zur Linken und Barb zur Rechten. Arthur stand hinter ihnen und hatte jeder der Frauen eine Hand auf die Schulter gelegt. Und weil ihre Schwester sonst niemanden hatte, war sie ihm dankbar, dass er sie auf diese Weise mit einschloss.
Beim anschließenden Empfang waren es seine Eltern, die als Letzte gingen. Sie fand, dass seine Mutter Ruth ausgezehrter und zäher aussah als jemals zuvor, während sein Vater Harry sich allmählich in einen Schatten seiner selbst verwandelte. Er fühlte sich offenbar nicht wohl in seinem Anzug, der ihm, nachdem er so viel Gewicht verloren hatte, viel zu groß war, und noch unwohler, weil er an der Beerdigung von jemandem teilnehmen musste, den er kaum gekannt hatte. Seine Frau dagegen war ein rastloses Energiebündel. Sie nahm Lydia und Barb kurzerhand die Hoheit über die Küche ab und schaffte es irgendwie, dass sie sich in dem Haus, in dem sie aufgewachsen waren, fast wie Besucher vorkamen. Lydia wusste ihre Hilfe durchaus zu schätzen, dennoch war sie froh, als die beiden endlich abreisten.
Leider erfuhren sie bald, dass ihre Mutter kurz nach dem Tod ihres Vaters eine zweite Hypothek auf das Haus aufgenommen hatte. Offenbar hatte er ihr doch weniger hinterlassen, als sie immer behauptet hatte. Arthur setzte sich wegen der Tilgung der Hypothek mit einem Vermögensberater in Verbindung, der schätzte, dass Barbara und Lydia wahrscheinlich noch jeweils fünfzehntausend Dollar aus dem Haus herausschlagen konnten. Das war nicht gerade viel, andererseits war Barbara eine alleinstehende, kinderlose Lehrerin, die nicht gerade am Hungertuch nagte. Als sie zwei Tage später nach Plymouth zurückfuhren, hörten sie im Auto eine Radiotalkshow aus Concorde. Es ging um eine Serie von Morden, die in letzter Zeit den Bundesstaat in Unruhe versetzten. Die Opfer waren zum Großteil kleine Mädchen, von denen einige nicht einmal das Teenageralter erreicht hatten. Die zugeschalteten Anrufer beschwerten sich über die Untätigkeit der Polizei und verlangten, dass endlich etwas unternommen wurde. Ein Kriminalpsychologe sprach darüber, was für ein Mensch der Mörder sein könnte, und stellte Spekulationen über seine Beweggründe, seine Persönlichkeit und seine Kindheit an.
Zuerst hörte sie kaum zu. Erst als der zweite Gast der Sendung, ein Lieutenant der Staatspolizei, darauf zu sprechen kam, was Eltern und Kinder wissen mussten, damit sie einem derartigen Verbrechen nicht zum Opfer fielen, wurde sie hellhörig.
»So ein Scheiß«, sagte Arthur.
»Was? Wieso?«
»Die wollen einem weismachen, dass einem nichts passiert, solange man dieses oder jenes tut und einfach ein paar Vorsichtsmaßnahmen beherzigt. Dabei kann einem immer was passieren. Man ist nie sicher. Vor manchen Menschen kann man sich nicht schützen.«
Sie hörten noch einen Moment zu, dann wechselte er den Sender.
Erst viel später begriff sie, was er ihr damit eigentlich hatte sagen wollen.