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Nachts im Wald
Das war alles nur passiert, weil sie sich richtig verhalten hatte.
Die Party hatte von neun Uhr abends bis zwei Uhr morgens gedauert. Sie war um die Zeit, obwohl sie bloß Weißweinschorle getrunken hatte, schon viel zu besoffen gewesen, um noch fahren zu können. Sie trank normalerweise nie, und weil sie allein zu der Party gekommen und wie üblich auch allein wieder gegangen war, hatte sie entschieden, dass es besser war, zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie hatte schon die halbe Strecke zurückgelegt, ohne einer Menschenseele zu begegnen, als dieser Mann, der in seinem großen, schwarzen Auto in der Gegenrichtung nach Süden unterwegs war, vor ihr anhielt und eine Schusswaffe auf sie richtete. Steig ein!, sagte er.
Bis jetzt hatte er sie zweimal mit vorgehaltener Waffe auf dem Waldboden vergewaltigt. Marge Bernhardt flehte um ihr Leben.
Das sowieso nicht mehr viel wert war.
Dessen war sie sich bewusst.
Fast auf den Tag genau vor vier Monaten war der Mann, den sie heiraten wollte, in seinem Auto ums Leben gekommen, nachdem ihn ein vierundsechzig Jahre alter Mann im Vollrausch von der Straße gefegt hatte. Für sie war es ein kaltblütiger Mord. Dean war Elektriker gewesen und hatte gutes Geld verdient. Sie hatten sich Kinder gewünscht, zwei oder drei vielleicht, und sich bereits nach einem Haus umgesehen. Sie war seit dem Unfall nie wieder richtig auf die Beine gekommen. Ihr Leben bestand aus der Arbeit bei Denny’s, dem Fitnessstudio und ihren drei Katzen, Beast, Vinni und Zoey. Abends las sie oder sah fern.
Sie traf sich mit niemandem. Sie ging nicht auf Partys. Die Entscheidung, zu Marys fünfundzwanzigsten Geburtstag zu gehen, war eine Ausnahme. Sie hatte sich dazu durchgerungen. Außerdem hatte sie es ihrer besten Freundin versprochen, die sie getröstet und ihr geholfen hatte, nicht durchzudrehen, seit der Nacht, in der man Deans verkohlte, durch die eingedrückte Fahrertür praktisch zweigeteilte Leiche aus seinem ’94er Mazda gezogen hatte.
Es mochte nicht mehr viel los sein in ihrem Leben, aber es hätte irgendwann wieder besser werden können. Jetzt würde womöglich nichts mehr daraus werden, nie wieder, genauso wie Deans Leben sich in jener Nacht in Nichts verwandelt hatte. Nun erkannte sie in vollem Umfang, was das bedeutete, und sie flehte um ihr Leben.
Sie war mit den Handgelenken an den Stumpf einer Eiche gefesselt. Aus irgendeinem Grund war jedes Handgelenk einzeln mit unterschiedlich langen Seilen an den Baumstumpf gefesselt, so dass sie zur Seite geneigt und auf Zehenspitzen stand und nur noch Bittebittebitte stammeln konnte. Dabei ließ sie den Mann im Mondschein nicht für einen Moment aus den Augen. Er ging vor ihr auf und ab und blickte zu ihr auf, als würde er etwas suchen. Er hatte die Pistole weggesteckt und ein Messer aus der Umhängetasche genommen.
Er schnitt einen Zweig über ihrem Kopf ab und entfernte mit seiner behandschuhten linken Hand die Blätter. Auch die Handschuhe stammten aus der Umhängetasche.
Mit dem Messer schnippte er den obersten Knopf ihrer Bluse ab. Er hatte sie in ihren Kleidern vergewaltigt und ihr vorher bloß das Höschen vom Leib geschnitten, das nun wie ein Schneefleck im Mondlicht vor ihr glänzte.
Er hatte ihr nicht einmal die Reeboks ausgezogen.
Als er alle Knöpfe entfernt hatte, trennte er zuerst den Blusenkragen auf und riss ihn runter, dann schnitt er nacheinander die Ärmel auf. Sie spürte, wie die kalte, stumpfe Seite der Messerklinge über ihre Arme wanderte. Die Bluse fiel von ihr herunter. Die kalte Nachtluft auf ihrer Haut verstärkte ihr Zittern.
Er schnitt den Knopf an ihrem Rock ab, öffnete den Reißverschluss, zog den Rock herunter und dann ganz aus. Er trat zurück und betrachtete sie. Dann ließ er den Zweig vor-und zurückschnellen. Einmal. Und noch einmal.
Pfeifend schnitt der Zweig durch die Stille.
Er legte den Zweig auf den Boden, griff abermals in die Umhängetasche und brachte zwei dünne, weiße Geschirrtücher zum Vorschein. Er knüllte eines zusammen und kam wieder auf sie zu.
»Aufmachen«, befahl er.
Sie schüttelte den Kopf. »Bitte«, sagte sie. »Nicht.« Allein der Gedanke an einen Knebel erfüllte sie mit Entsetzen. Wenn sie nicht mit ihm reden konnte, gab es keine Möglichkeit mehr, ihn aufzuhalten. Keine Chance.
Sie durfte nicht zulassen, dass er sie knebelte.
»Aufmachen!«, sagte er noch einmal und legte die Klingenspitze auf ihren BH. Zielsicher fand er die vor Angst verhärtete Brustwarze darunter und stach leicht zu. Der Schmerz durchfuhr sie wie ein Stromschlag. Sie leckte sich über die Lippen, öffnete leicht den Mund und spürte den Salzgeschmack ihrer Tränen.
Er stopfte ihr ein Tuch in den Mund und band es mit dem zweiten Geschirrtuch fest, wobei sich lange, dünne Haarsträhnen in dem Doppelknoten auf ihrem Hinterkopf verfingen.
Wieder griff er in die Tasche. Sie hörte ein leises Klirren, als er etwas herausholte und in seine rechte Hosentasche schob, sich umdrehte und währenddessen etwas anderes in seiner Gesäßtasche verschwinden ließ. Dann kam er wieder zu ihr hinüber.
Er griff nach oben und löste den komplizierten Knoten an ihrem rechten Handgelenk. Sie hatte so fest dran gezerrt, dass sie sich dabei die Handgelenke aufgeschürft hatte. Doch er musste einfach nur daran zupfen, schon fiel die Fessel von ihr ab.
Ihre Hand und das Handgelenk kribbelten, als das Blut wieder zu zirkulieren begann. Das Kribbeln schien sich in ihrem ganzen Körper auszudehnen. Vor ihren Augen tanzten helle gelbe Punkte vor einem flimmernden schwarzen Hintergrund. Als sie wieder klar sehen konnte, griff er in die Hosentasche und holte etwas heraus, das er – was es auch immer war – in der Hand behielt, während er ihr Handgelenk packte und den Handrücken flach gegen den dicken Eichenbaumstumpf drückte. Sie spürte, wie sich etwas Spitzes in ihre Handfläche bohrte, wobei er sein kräftiges Handgelenk fest auf ihres presste, damit sie sich nicht losreißen konnte.
Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Mitte ihrer Handfläche, während er in seine Gesäßtasche griff. Schlagartig begriff sie, was es zu bedeuten hatte, begriff, was er vorhatte.
»Nein!«, schrie sie durch den Knebel. Als der Hammer zuschlug, bewegte sie die Schulter mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Ihre Hand verrutschte ein winziges Stück, und sie spürte, wie der Nagel das empfindliche Gewebe zwischen Mittel-und Ringfinger durchbohrte und tief in den Baumstumpf eindrang.
Er fluchte und suchte in seiner Hosentasche nach einem zweiten Nagel.
Eine weitere Chance würde sie nicht bekommen.
Sie schrie noch einmal und versuchte sich loszureißen.
Ihr Fleisch gab mit überraschender, entsetzlicher Widerstandskraft nach. Sie merkte, wie Blut aus der Wunde schoss, als sie die Arme ausstreckte und mit beiden Händen den rauen Baumstamm umklammerte, sich daran hochzog, ausholte und nach ihm trat, während er noch in seiner Hosentasche nach dem zweiten Nagel kramte. Es war der kurze Moment eines unglaublichen Glücksgefühls, als ihre Schuhsohlen hart auf seine Brust trafen, der ihr jedoch ebenso viel Angst machte wie alles andere, was ihr in dieser Nacht widerfahren war. Denn nun gab es plötzlich Hoffnung.
Sie zupfte mit blutigen, glitschigen Fingern an der zweiten Handfessel, genauso, wie er es vorhin gemacht hatte.
Und mit einem Mal war sie frei.
Sie sah, dass ihr Tritt ihn in einige junge Birken befördert hatte. Er versuchte gerade, sich wieder aufzurappeln, aber er war in einen Baumstamm eingeklemmt, der sich dicht über dem Boden mehrfach verzweigte, und lag so ungünstig, dass er sich nicht richtig abstützen konnte. Womöglich hatte sie ihn sogar verletzt. Womöglich war er benommen.
Das verschaffte ihr entscheidende Sekunden. Ein kostbarer Augenblick, den sie zur Flucht nutzen konnte.
Sie hatte keine Ahnung, auf welchem Weg er sie durch den Wald geschleppt hatte, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie war jung, er nicht. Der Mut der Verzweiflung war auf ihrer Seite. Früher oder später würde sie die Straße erreichen oder ein Versteck finden. Auf jeden Fall würde er sie nicht erwischen. Nicht noch einmal.
Nicht Marge Bernhardt.
Es gab so viel, für das es sich lohnte, weiterzuleben.
Sie ignorierte die Schmerzen, die Kälte und das Blut und rannte in den nächtlichen Wald hinein.