31
Beweislast
»Für dich.« Cindy hielt ihr den Hörer hin. »Owen Sansom.«
Lydia nahm ihr das Telefon ab, und Cindy wandte sich wieder ihrer Beschäftigung zu – die darin bestand, gleichzeitig Hühnchen Cacciatore, grüne Bohnen und Pasta zuzubereiten, die Spielsachen und Bücher ihrer Tochter Gail vom Küchentisch zu räumen und ihre zweite Vormittagsflasche Miller Lite zu leeren.
»Ich habe mir gedacht, dass ich Sie hier erwische«, sagte Sansom. »Lydia, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Robert widerrufen hat.«
»Er hat was?«
»Er hat seine Aussage zurückgezogen.«
»Oh Gott, nein!«
Cindy ließ alles stehen und liegen und starrte sie mit der Kasserolle in der Hand an.
»Ich habe gerade eben mit Andrea Stone gesprochen. Vor einer halben Stunde hat Lois Strawn vom Kinderheim angerufen. Robert hat ihr gesagt, dass alles, was er der Staatspolizei erzählt hat, gelogen war. Dass er sich alles bloß ausgedacht hätte.«
»Das verstehe ich nicht. Weshalb? Weshalb sollte er das tun?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe da so eine Vermutung.«
»Nämlich?«
»Das wird Ihnen jetzt nicht gefallen, aber Lois Strawn sagte, dass Robert heute früh Besuch hatte. Von Arthur. Er war sehr höflich, sagte sie – aber Andrea Stone hatte gleich so ein komisches Gefühl. Also hat sie wissen wollen, ob Mrs. Strawn das Zimmer zu irgendeinem Zeitpunkt verlassen hat. So wie es aussieht, hat sich Arthur während der Unterhaltung irgendwie einen Finger blutig gekratzt, und da ist sie in die Küche gegangen, um Papiertücher und Verbandszeug zu holen. Sie war bloß ein oder zwei Minuten weg, aber verflucht, wie lange braucht man für so was schon? Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich gehe jede Wette ein, dass Arthur ihn irgendwie eingeschüchtert hat.«
»Ich fahre sofort hin.«
»Das ist keine gute Idee. Selbst wenn Sie ihn so lange bearbeiten, bis er zugibt, dass Arthur ihn bedroht hat, würde das momentan bloß wie Nötigung Ihrerseits aussehen. Als würden Sie ihn unter Druck setzen. Andrea Stone ist bereits dort, um seine Aussage aufzunehmen und anschließend Richter Burke vorzulegen. Warten wir erst mal ab, was dabei herauskommt. Ich mache mir wegen dem, was er jetzt sagt, keine allzu großen Sorgen – die Videoaufzeichnung ist nach wie vor ziemlich überzeugend. Burke wird das Band wohl oder übel zur Kenntnis nehmen müssen. Die Befragungen wurden von erfahrenen Polizisten durchgeführt. Dessen ist sich Burke bewusst.«
»Aber was soll ich denn jetzt machen? Soll ich hier rumsitzen und das Beste hoffen und beten, dass er der ersten Aussage meines Sohnes mehr glaubt als der zweiten? Himmelherrgott nochmal!«
Sie spürte Cindys Hand auf ihrer Schulter. Erst da bemerkte sie, dass sie am ganzen Leib zitterte.
»Mir gefällt das so wenig wie Ihnen, ehrlich. Nur …«
»Arthur hält sich nicht an die Spielregeln. Warum zum Teufel müssen wir uns da an die Regeln halten?«
Sie hörte, wie er seufzte. »Lydia, die Antwort darauf kennen Sie bereits. Denken Sie nach: Sie haben vor Gericht zugegeben, dass Sie notfalls auch gegen das Gesetz verstoßen würden, um Ihre Sache durchzusetzen. Jedenfalls ist Burke dieser Ansicht. Außerdem glaubt er, dass Sie zur Hysterie neigen. Vor diesem Hintergrund bleibt uns gar nichts anderes übrig, als nach Protokoll vorzugehen und den Ball flach zu halten, bis wir Näheres erfahren. Glauben Sie mir, anders geht’s nicht.«
»Ich hole ihn sofort ab. Verdammt nochmal, ich …«
»Nein, das werden Sie nicht tun. Wir sind schon so weit gekommen, da werden Sie und Robert doch nicht als Flüchtige enden wollen! Hören Sie mir zu. Sie müssen sich erst mal beruhigen. Sagen Sie Cindy dass sie Ihnen was zu trinken machen soll – irgendwas Starkes –, und ich will, dass Sie bleiben und sich nicht von der Stelle rühren, bis ich wieder von Andrea höre. Verstanden? Sobald es soweit ist, rufe ich Sie an. Versprechen Sie mir, dass Sie nichts Unüberlegtes tun!«
»Owen, ich …«
»Ich will Ihr Wort, Lydia.«
Sie fühlte sich alt, müde und ausgelaugt – und krank vor Scham. Sie konnte es sich nicht leisten, klein beizugeben. Er hatte ja Recht. Sie musste irgendwie die nötige Geduld, Kraft und den Glauben an eine Zukunft für sie beide aufbringen, um auch das durchstehen zu können.
»Also gut«, sagte sie. »Okay, Owen.«
»Ich rufe Sie an, sobald ich mehr weiß.«
Sie legte den Hörer auf.
»Oh du Arme«, sagte Cindy, die ihr nun beide Hände auf die Schultern legte. Sie tröstete sie, obwohl sie nicht einmal genau wusste, was los war. Irgendwie schien sie genau zu wissen, wie sie sich fühlte, und brachte es vollkommen zutreffend – leise, perfekt und knapp – auf den Punkt: »Dir bleibt auch nichts erspart, oder?«
Andrea fand den Zeitpunkt gelinde gesagt ungewöhnlich. Als sie in ihr Büro zurückkehrte, fand sie dort eine Nachricht von Richter Burke vor, die besagte, dass er im Richterzimmer auf sie wartete und auf der Stelle den Mitschnitt ihres Gesprächs mit Robert Danse hören wollte.
Und dass er morgen früh eine Entscheidung zu treffen gedenke.
Sie rief Owen Sansom an und brachte ihn auf den neusten Stand. Dann ging sie zum Gerichtsgebäude auf der anderen Straßenseite. Es war bereits dunkel. Sie bemerkte, dass eine Straßenlaterne ausgefallen war und fühlte sich sofort merkwürdig beunruhigt, als hätte irgendwer die Beleuchtung mutwillig beschädigt, als hätte die Straßenkriminalität der Großstädte nun auch die Provinz erreicht und wäre von nun an Bestandteil ihres Alltags.
Dabei handelte es sich wahrscheinlich bloß um eine ausgebrannte Leuchtstoffröhre.
Sie zeigte dem Pförtner ihren Ausweis und ging durch den trüben Korridor zum Richterzimmer.
Richter Burke saß an seinem Schreibtisch, einem Videorekorder samt Bildschirm zugewandt. »Er macht da hinten Sache mit mir … damit …«, sagte Robert gerade. Sie schloss leise die Tür und sah, wie er eine Taste auf der Fernbedienung drückte. Der Bildschirm wurde schwarz.
»Miss Stone«, sagte er.
Sie gab ihm das kleine, sprachgesteuerte Diktiergerät.
»Das Band ist drin?«
»Ja.«
Er hantierte mit dem Diktiergerät, als würde er ein derartiges Gerät zum ersten Mal sehen, drehte es hin und her, runzelte die Stirn, betrachtete die Tasten an der Seite und legte es schließlich vor sich auf den großen Eichenholzschreibtisch.
»Also?«, sagte er.
»Verzeihung?«
»Also, wie ist es gelaufen? Mit dem Jungen? Wie kam er Ihnen vor?«
»Durcheinander«, antwortete sie. »Nervös. Ängstlich.«
»Ängstlich weswegen?«
»Wollen Sie meine Meinung hören?«
»Ja.«
»Ich glaube, er hat Angst, dass er unter diesen Umständen nie wieder nach Hause darf. Und ich glaube, er hat Angst vor seinem Vater.«
Burke nickte.
»Ich will ganz offen sein, Miss Stone. Das überrascht mich nicht. Dieses Videoband … ich habe mir das jetzt ein halbes Dutzend Mal angesehen … die Gespräche mit dem Jungen da drauf sind beide ziemlich überzeugend.«
»Auf meinem Tonband nimmt er alles wieder zurück, Euer Ehren.«
»Ja, das habe ich gehört. Nachdem er seinen Vater gesehen hat.«
»Mrs. Strawn zufolge war er mit ihm allein. Mindestens für ein oder zwei Minuten.«
»Bedauerlich. Ist er auf Ihrem Tonband genauso überzeugend? Objektiv betrachtet?«
»Es gibt da ein Problem.«
»Und das wäre?«
»Er will nicht sagen, weshalb er die Psychologen beim ersten Mal angeblich angelogen hat. Warum er seinen Vater zuerst beschuldigen wollte und dann wieder nicht. Für mich ergibt das alles keinen Sinn.«
»Könnte die Mutter nachgeholfen haben?«
»Das bezweifle ich, Euer Ehren. Das bezweifle ich sogar sehr. Ich glaube, dass er beim ersten Mal die Wahrheit gesagt hat.«
»Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen, ungeachtet dessen, was ich vom Verhalten der Mutter in diesem Fall halte …«
»Euer Ehren …«
Er fiel ihr ins Wort. »Es ist verständlich, dass wir in diesem Punkt nicht übereinstimmen, Miss Stone. Aber darum geht es nicht. Es geht jetzt vor allem um den Vater.«
»Ja, Euer Ehren.«
Er seufzte. »Ich werde mir Ihr Band anhören. Danke, dass Sie es mir zu so später Stunde noch vorbeigebracht haben. Wie mir scheint, verlangen uns Fälle wie dieser sehr viel ab, wenn wir uns bemühen, das Wohl des Kindes dabei im Auge zu behalten und weiteren Schaden von ihm abzuwenden.« Er lächelte reumütig. »Da sind Überstunden ja wohl das mindeste. Auf jeden Fall vielen Dank, Miss Stone. Wir sehen uns morgen.«
»Danke, Euer Ehren.«
Während sie hinausging und leise die Tür hinter sich schloss, hörte sie aus dem Richterzimmer ihre eigene Stimme blechern und dünn vom Band kommen.
Immerhin war der Mann bereit, seine Hausaufgaben zu machen.
Ihr wurde bewusst, dass sie ungeachtet dessen, was Richter Burke über die Glaubwürdigkeit der Aufzeichnung gesagt hatte, immer noch Angst um Robert Danse hatte. Es war gar nicht so einfach, weiteren Schaden von ihm abzuwenden.
Wo ihm doch schon so viel Schaden zugefügt worden war.
Nicht zum ersten Mal dachte sie, dass Kindesmissbrauch so etwas wie ein Parasit war, der sich erst einmal tief und qualvoll eingrub, so dass man die Wunden deutlich erkennen konnte, wenn man nur genau hinsah. Doch mit der Zeit schienen die Symptome manchmal fast zu verschwinden. Das Heimtückische an Parasiten war, dass man sich an sie gewöhnte, auch wenn der Schmerz keineswegs nachließ. Während der Übeltäter immer fetter wurde, verhungerte der Wirt langsam und auf grauenvolle Weise. Beides wurde zur Routine. Bestandteil der inneren Gesetzmäßigkeit des Lebens.
Und je mehr der Fremdkörper wuchs, desto mehr Hunger hatte er. Und am Ende – falls er überhaupt jemals ans Licht kam – verließ er seinen ausgezehrten, nutzlos gewordenen Wirt, um so gut wie möglich über die Runden zu kommen, bis er jene heimsuchen konnte, die sonst noch mit ihm zu tun hatten. Die Familie. Freunde. Ehepartner.
Dann befiel er auch diese Menschen.
Er nistete sich selbst an Gerichten ein. Befiel Rechtsanwälte und Richter.
Der Parasit dachte nicht. Er fraß.
Niemand konnte ihm entkommen.
Das hatte mit Vernunft nichts zu tun. Dieser Organismus besaß keine nennenswerte Intelligenz.
Nur Hunger.
Es lag an den Sozialeinrichtungen und den Gerichten, sich dem Problem mit Vernunft zu nähern. Aber das war, als würde man einer lange unbehandelten, entzündeten Wunde mit warmen Wickeln beikommen wollen – dabei waren diese Institutionen doch selbst längst von dem Parasiten befallen und wurden von ihm ausgesaugt. Manche von ihnen, wie sie selbst und Richter Burke, immer wieder und wieder.
Es veränderte sie. Zum Guten oder zum Schlechten.
Sie fragte sich, ob sie dieser Aufgabe wirklich gewachsen war.
Und welche Entscheidung der Richter morgen treffen würde.
Sie ging über die dunkle Straße zu ihrem Wagen hinüber. Eine Stunde Fahrtzeit bis nach Hause, dachte sie, womöglich eine weitere Stunde, bis sie endlich im Bett lag. Dabei war sie schon jetzt todmüde.
Es gab Zeiten, da hatte sie sich einen Mann und Kinder gewünscht, aber jetzt nicht mehr. Nicht mit diesem Ding in ihrem Innern.
Ich hoffe bloß, dass morgen diese verdammte Straßenlaterne repariert wird, dachte sie. Wir brauchen hier dringend etwas Licht.