15
Im Wald
Duggan trat von einem Fuß auf den anderen, da ihm die Kälte in die Schuhe kroch, und zündete sich an Al Whoorlys Winston eine Newport Lite an. Er hasste Newport Lites mehr als alle anderen Zigaretten, die er jemals geraucht hatte, deshalb war er der Meinung, die Marke könne ihm dabei helfen, das Rauchen aufzugeben.
Vor Jahren hatte es hier draußen ein Buschfeuer gegeben. Ungefähr an dieser Stelle hatten sie die Flammen aufgehalten. Ein Stück links von ihm konnte man das neugewachsene Gestrüpp erkennen, auf der anderen Seite standen noch die alten Birken und Ahornbäume.
Das Mädchen war an einen Ahornbaum genagelt.
Der Gerichtsmediziner hatte seine Untersuchung so gut wie abgeschlossen. Die Fotos waren im Kasten. Ein paar Minuten noch, dann würden die Leute von der Spurensicherung sie herunternehmen, in einen Plastiksack stecken, damit Whoorly und die übrigen State Trooper sie ins Labor nach Concord bringen konnten.
»Ich weiß nicht, weshalb er ihre Papiere nicht mitgenommen hat«, sagte Whoorly. »Warum macht er es uns so leicht?«
»Aus Mitleid«, meinte Duggan. »Der Kerl hat ein weiches Herz.«
»Manche von diesen Arschlöchern wollen ja gefasst werden. Vielleicht hat er genug von diesem Scheiß.«
»Ich glaube nicht, dass das hier der Fall ist.«
Ihr Name war Laura Banks – Studentin an der Plymouth State University. Ihr Studentenausweis und der Führerschein hatten in einer Brieftasche aus braunem Leder gesteckt. Die Brieftasche hatten sie zusammen mit allem möglichen anderen Kram in ihrer Handtasche gefunden. Die Handtasche wiederum thronte auf einem Stapel fein säuberlich zusammengefalteter Klamotten – Mantel, Jeans, Hemd, Socken, BH und Höschen – keine zwei Meter vom Baum entfernt auf einem Felsblock. Das Mädchen war offensichtlich praktisch veranlagt gewesen. Das Hemd war aus grobem Cordsamt, die Socken aus dicker, roter Wolle.
Duggan konnte sich nicht vorstellen, wie sehr sie gefroren haben musste. Es war unglaublich.
Bevor der Wahnsinnige sich entschlossen hatte, sie ein bisschen aufzuwärmen.
Schweigen überlagerte die ruhige, trockene Morgenluft. Sie waren zu sechst hier draußen, und keiner verlor ein unnötiges Wort. Offensichtlich waren sie alle tief erschüttert. Der Teenager, dessen großer schwarzer Labrador während des Morgenspaziergangs ausgebüchst war, weil er das Mädchen gewittert hatte, wurde bereits auf dem Polizeirevier verhört. Wieder und wieder wiederholte der Junge dasselbe. Offensichtlich hatte er eine Heidenangst. Irgendwie hatten sie alle ein bisschen Angst.
Lavore kam rüber und Duggan schüttelte eine Newport für ihn aus der Packung. Genau wie Duggan wollte Lavore das Rauchen aufgeben. Im Gegensatz zu Duggan bestand seine Strategie darin, keine Zigaretten mehr zu kaufen, sondern sich nur noch welche zu schnorren.
»Okay. Sie gehört euch«, sagte er.
»Todesursache?«
»Machen Sie Witze?«
»Nur fürs Protokoll.«
»Ein angespitzter Holzpflock. Mitten ins Herz. Sofort tödlich. Wir haben es hier mit einem Irren auf einem Vampirtrip zu tun, der auf Folter steht und sich ziemlich gut mit Anatomie auskennt. Wissen Sie was? Er hat sie nicht einfach so durchbohrt. Er hat den Pflock schön langsam reingeschoben.«
»Todeszeitpunkt?«
»So gegen vier Uhr früh, würde ich schätzen. Also vor fünf, sechs Stunden.«
»Wurde sie vergewaltigt?«
»Mehrfach. Und zwar auf jede nur erdenkliche Art. Vaginal. Anal. Wenn wir ihr den Kiefer öffnen, finden wir da wahrscheinlich auch noch Sperma. Würde mich jedenfalls nicht überraschen.«
Duggan deutete auf eine Stelle in der Nähe eines Felsens ungefähr sechs Fuß zu ihrer Linken.
»Haben Sie das da gesehen?«
»Was? Die Knebel?«
Auf dem Waldboden lagen zwei Geschirrtücher. Eines war mit inzwischen hart gefrorenem Speichel getränkt. Jemand machte sich daran, sie einzutüten.
»Nein. Die Holzspäne daneben. Der Kerl hat da gesessen und geschnitzt. Hat seinen Ast schön sauber angespitzt. Wetten, dass sie dabei zugesehen hat?«
»Krank«, meinte Whoorly.
»Was noch?«
»Soweit ich sehen kann, hat er ihr das alles angetan, bevor sie gestorben ist. Manches vielleicht auch erst post mortem. Genaueres kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe.«
Er sah zu der Frau hinüber. Lavore hatte ihm gerade mitgeteilt, dass sie die ganze Zeit über noch am Leben gewesen war.
Was der Kerl getan hatte, ging über jedes Vorstellungsvermögen hinaus. Gott allein wusste, wie lange er dafür gebraucht hatte. Womöglich die ganze Nacht. Womöglich noch länger.
Ihre Leiche hing da wie Gefrierfleisch in einer Kühlkammer. Irgendwann hatte er sie mit Wasser übergossen. Um sie wieder zu Bewusstsein bringen? Oder um zuzusehen, wie sie vor Kälte zitterte? In ihrem langen braunen Haar, ihren Schamhaaren und Augenbrauen sah er Raureif und Eisperlen glitzern. An ihren Zehen hingen kleine Eiszapfen, die fast – aber nur fast – die Baumwurzeln berührten.
Ihre Arme waren über dem Kopf etwa einen Meter weit gespreizt, beide Handgelenke von langen Nägeln durchbohrt.
Sie war an den Nägeln aufgehängt.
An den Stellen, an denen ihre Haut nicht rostrot verbrannt war, hatte sie sich blauweiß verfärbt.
Er hatte sie mit einem dürren Ast bearbeitet.
Den hatten sie schon eingetütet. Der Ast war etwa einen Meter lang. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, alle Zweige davon abzuschälen. Der Ast war blutbefleckt, Fetzen menschlichen Fleisches klebten an seinem schartigen Holz.
Er hatte sie auch mit Streichhölzern bearbeitet.
Duggan war nie einer von den Cops gewesen, die behaupteten, schon alles gesehen zu haben. Er wusste, dass die Menschen einen immer wieder überraschen konnten – dass die Taten mancher Menschen über seine schlimmsten Alpträume hinausgingen. Er hatte die blutigen Resultate von häuslicher Gewalt, Trunkenheit am Steuer, bewaffnetem Raubüberfall und jeder anderen Sorte mörderischer Dummheit gesehen, aber etwas wie das hier war ihm tatsächlich noch nie unterkommen. Er betete zu Gott, dass er so etwas nie wieder sehen musste.
Er trat die Newport aus, hob die Kippe auf und schob sie in seine Tasche.
Jetzt stank er wieder wie ein Aschenbecher.
Noch ein Grund, endlich damit aufzuhören.
Als Erstes musste er so viel wie möglich über das Leben und den Tod dieser Frau in Erfahrung bringen. Mit etwas Glück hatte zufällig irgendwer gesehen, wie sie mit irgendwem, den er oder sie kannte, ins Auto gestiegen war. Wenn er Glück hatte, würde ihm irgendjemand im Verhör verdächtig vorkommen. Bis dahin jedoch würde er versuchen müssen, sich ein genaues Bild von ihren Todesqualen zu machen und sich in denjenigen hineinzuversetzen, der fähig gewesen war, ihr all das anzutun. Er würde sie wieder und wieder ansehen müssen, ihre Leiche im Leichenschauhaus ebenso wie die Fotos. Immer wieder.
Wie konnte man sich einen Nagel vorstellen, der in einem Handgelenk steckt?
Schwarz verkohlte Haut?
Schläge, die so heftig waren, dass das rohe Fleisch zum Vorschein trat?
Wer konnte sich solche Grausamkeiten vorstellen?
Als sie die Lichtung hinter sich ließen und sich ihren Weg durch das dichte Dornengestrüpp zurück zu den Autos bahnten, unterhielt er sich mit Whoorly, der die niederschmetterndste Hypothese überhaupt aufstellte: Dass es sich bei dem Täter womöglich um jemanden auf der Durchreise handelte. Um jemanden, der sie am Straßenrand aufgelesen und mit einer Schusswaffe bedroht hatte. Der dann mit ihr hier herausgefahren war, einfach weil die Gegend einsam und verlassen genug für seine Zwecke gewesen war.
Was bedeutete, dass sie ihn vermutlich niemals finden würden.
»Serienmörder sind so«, meinte er. »Die fahren einfach in der Gegend rum, weißt du? Von Ort zu Ort.«
»Dann hat er sich aber ’ne verdammt gute Stelle ausgesucht«, gab Duggan zurück.
»Wieso?«
»Na, dieser Wald hier. Im Winter kommt kein Mensch hier raus. Der Naturschutzpark ist nicht weit von hier, und die Leute fahren doch lieber dorthin, wenn sie im Winter wandern gehen wollen. Hätte der Hund sie nicht gewittert, hätten wir sie womöglich erst nach Wochen gefunden. Oder Monaten.«
»Du glaubst also, dass er schon vorher hier war?«
»Könnte sein.«
Gleich hinter dem Hügelkamm, ungefähr eine Dreiviertelmeile entfernt, lag das Haus der Familie Danse. Er dachte daran, wie er sich damals während des Buschfeuers auf die Suche nach Arthur gemacht hatte, ihn aber nicht gefunden hatte. Der Junge war später am Abend aufgekreuzt und hatte behauptet, irgendwo an der Straße nach Rumney eingeschlafen zu sein.
Duggan hatte ihm kein Wort geglaubt.
Es war gut möglich, dass Ruth oder Harry irgendwas gesehen oder gehört hatten. Außerdem lagen die Häuser der Familien Hurley und Wingerten in dieser Richtung.
Da würde er anfangen.
»Weißt du was, Al?«, sagte Duggan.
»Was?«
»Ich glaube, er ist von hier. Wir müssen natürlich in alle Richtungen ermitteln, aber ich denke, er kommt aus der Gegend. Er ist auf keinen Fall ein Stadtmensch, dazu kennt er sich in den Wäldern viel zu gut aus.«
»Wie kommst du darauf?«
»Er hat die Nägel gerade und schnell eingeschlagen. Das braucht Übung. Er hat gutes, biegsames Birkenholz ausgesucht. Und dann ist da noch der Holzpflock.«
»Schön spitz.«
»Ja, der Bursche weiß, wie man schnitzt.«