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Kinder
Wolfeboro, New Hampshire ∙ Juni 1962
Das kleine Mädchen hatte aufgehört gegen die Tür zu hämmern. Das brachte sowieso nichts.
Sie konnte die da draußen nicht mal mehr hören.
Die feuchte, stickige Luft in der Hütte roch schwer nach Erde und altem, fauligem Holz. Es wurde allmählich dunkel. Das Licht durch die Spalten in den fensterlosen Wänden wurde schwächer und schwächer.
Sie hatten irgendwas in den Türrahmen geklemmt, ein Stück Holz oder so. Sie konnte die Tür keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Zusammengekauert saß sie gegen die schwitzende, glitschige Wand gelehnt, roch den feuchten Lehmboden und den vollen Moschusgeruch ihrer Tränen und dachte: Keiner wird mich finden.
Sie stellte sich vor, wie sie irgendwo da draußen im Sumpf – gut möglich, dass sie inzwischen schon eine halbe Meile entfernt waren – durch flaches, schwarzes Wasser und Morast stapften, der einem die Gummistiefel von den Füßen ziehen konnte, und mit ihren zweizackigen Metallspießen nach Fröschen stachen. Jimmy hatte bestimmt schon ein paar beisammen, die jetzt tot oder sterbend in seinem Eimer lagen. Billy war nicht so schnell wie Jimmy und deshalb womöglich leer ausgegangen.
Das musst du dir ansehen, hatten sie gesagt. Das ist cool. Die alte Blockhütte lag irgendwo am Ende der Welt. Ihr Daddy nannte so etwas ein scheußliches Bauwerk. Seit Jahren schon versank die Hütte langsam im Sumpf, und für Jagdausflüge wurde sie schon lange nicht mehr benutzt.
Liddy war erst sieben.
Sie hatte nicht reingehen wollen.
Die Jungen, Jimmy und Billy, waren neun und zehn. Warum hatte sie also als Erste reingehen sollen?
Warum immer sie?
Das hatte sie sich insgeheim gedacht, war dann aber doch durch die offen stehende Tür gegangen. Schließlich durfte sie die Jungs nicht merken lassen, dass sie Angst hatte. Auch nicht, als Jimmy sie reinschubste und lauthals zu lachen anfing und einer von beiden die Tür zuhielt und der andere irgendwas zwischen Tür und Rahmen stopfte. Sie saß in der Falle.
Sie hämmerte gegen die Tür. Schrie. Weinte.
Sie hörte die beiden draußen lachen, dann wie sie durchs Wasser stapften.
Dann hörte sie lange nichts mehr.
Sie kauerte neben der Tür, starrte auf den Erdboden und fragte sich, ob es hier Schlangen gab und wenn ja, ob sie wohl nachts in die Hütte kriechen würden.
Es musste inzwischen Zeit zum Abendessen sein.
Daddy würde wieder wütend sein.
Mom würde sich Sorgen machen.
»Na los. Bitte«, sagte sie zu niemand Bestimmtem. »Lasst mich raus. Bittebittebitte!«
Was nur zur Folge hatte, dass sie wieder zu weinen anfing.
Die Jungs redeten ständig über das, was hier passiert ist. Sie redeten über nichts anderes. Jeder wusste es.
Mörder waren hier gewesen. Ausgebrochene Irre, die Sachen mit Kindern gemacht hatten.
Vor allem mit kleinen Kindern.
Liddy hasste Billy und Jimmy.
Sie wünschte, sie wären tot. Dann wünschte sie sich, sie wäre tot.
Weil sie wieder nicht gehorcht hatte.
Sie hätte niemals mitgehen dürfen.
Mom und Daddy hatten sie vor diesem Ort gewarnt. Du wirst mir unter gar keinen Umständen dorthin gehen, hatte ihre Mom gesagt.
Aber es gab nicht viele Kinder in der Gegend und überhaupt keine Mädchen zum Spielen und irgendjemanden musste man doch haben. Und manchmal waren Billy und Jimmy ja auch nett zu ihr. Manchmal überstand sie einen ganzen Tag, ohne herumgeschubst, gekniffen oder geschlagen zu werden.
Als wäre sie wirklich die Schwester von irgendjemandem.
Also war sie mitgekommen. Obwohl sie gewusst hatte, dass wahrscheinlich irgendetwas schieflaufen würde. Obwohl sie den Jungs vollkommen vertrauen musste, auch was den Weg hier herauf anging, weil der Pfad weitab vom Schuss lag und sie diesen Abschnitt des Waldes noch nie zuvor gesehen hatte.
Es war, als hätte sie sich … verirrt.
Selbst wenn sie aus dieser Hütte rauskam, wusste sie nicht genau, wie sie wieder nach Hause zurückfand.
Wenn Sie die ganze Nacht hierbleiben musste, würde sie bestimmt verrückt werden.
Es gab da diese Geschichte, die Jimmy immer über den Sumpf erzählte.
Er sagte, dass sein älterer Bruder Mike vor langer Zeit mal allein hier oben gewesen war und dass er etwas im Wasser gesehen hatte. Dass es zuerst wie ein Stück Holz ausgesehen hatte, aber als Mike näher rankam, hatte er bemerkt, dass es ein Mann war, ein Toter, dessen halbes Gesicht weggehackt war – es war vollständig und vollkommen sauber vom Scheitel bis zum Kinn abgetrennt, so dass ein geöffnetes Auge ihn anstarrte und das andere einfach nicht mehr da war. Die Nase war genau in der Mitte gespalten und der halbe Mund stand zu einem riesengroßen O geformt offen, so dass der Mann, wie Mike erzählte, in erster Linie überrascht aussah. In seinem Hinterkopf konnte er ein Durcheinander von Gehirn, Blut und Knochen erkennen. Er rannte sofort zur Polizei und kehrte mit den Beamten eine Stunde später zu der Stelle zurück, aber der Mann war nicht mehr da. Der Mann war verschwunden. Sie hatten überall nach ihm gesucht.
Jimmy war ein Lügner, genau wie sein großer Bruder Mike, aber Jimmy erzählte ständig, dass der Mann jetzt hier herumspukte. Dass man ihn nachts durch seinen halben Mund stöhnen und durch seine halbe Nase schwer atmen hören konnte, während er sich durch das schmutzige, mit Schlangen, Fröschen und Blutegeln verseuchte Wasser schleppte.
Aber das war bloß eine Geschichte.
Trotzdem – wenn sie die ganze Nacht hierbleiben musste, würde sie verrückt werden. Sie zitterte am ganzen Leib.
Es wurde dunkel.
»Mommy«, flüsterte sie.
Sie hörte Schritte. Jemand watete durch den Morast. Kam auf sie zu.
»Mommy«, sagte sie,
Sie dachte an den toten Mann.
Sie rief nicht Hilfe, sondern Mommy.
Ihr langer, brauner Pferdeschwanz blieb am rauen, verwitterten Holz hängen, als sie von der Tür wegrutschte. Ihre Kopfhaut brannte, als sich ein Haarbüschel löste. Sie sprang auf und rannte zu der am weitesten entfernten Wand. Sie spürte, wie winzige Splitter des alten, verfaulten Holzes in ihre Handflächen stachen. Trotzdem presste sie ihren Rücken dagegen und beobachtete die Tür.
»Nur zu«, sagte Jimmy. »Ruf nach deiner Mommy.«
Dann stieß er die Tür auf. Die Scharniere kreischten.
»Du Mädchen!«
Er rannte los. Billy folgte ihm auf dem Fuß.
»Wartet!«, rief sie. Sie lief hinter ihnen her.
Ihre Gummistiefel sanken in den Morast, Schlamm bespritzte ihre nackten Beine und ihre Shorts. Tapfer kämpfte sie sich voran. Aber sie war nicht so schnell wie die beiden. Nicht mal annähernd.
Als sie den Sumpf hinter sich gelassen hatte, waren sie schon den Hügel hinauf und zwischen den Bäumen verschwunden.
Als sie auf dem Hügel angekommen war, konnte sie die Jungs nirgendwo mehr sehen.
Sie war wieder allein.
Der Abend war angebrochen. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis es dunkel wurde. Durch die dichten Bäume und Sträucher schien schon jetzt kaum noch Licht.
Welche Richtung?
Sie dachte, dass sie vielleicht …
Sie lief von einer Hügelkuppe zur nächsten. Und wieder zur nächsten. Sie hatte Angst und weinte. Jeder Hügel sah aus wie der vorherige und keiner kam ihr bekannt vor. Nur Gebüsch, Grünzeug, fahlweiße Birken und dichtes, gemeines Dornengestrüpp. Sie lief, so schnell sie konnte. Lief gegen die Zeit und die Dunkelheit an.
Sie stolperte, fiel, schrammte sich an einem Felsen die Knie auf und spürte, wie ihr Musikantenknochen kribbelte und taub wurde, nur um anschließend wieder furchtbar wehzutun und zu pulsieren. Sie spürte die Holzsplitter tiefer in ihre Handfläche eindringen. Sekunden später stolperte sie wieder, diesmal über einen halb unter Laub verborgenen Ast, und fiel auf die Seite.
Auf den Pfad.
Auf gut ausgetretene, festgestampfte Erde.
Und jetzt erkannte sie auch den großen Felsen, den mit Katzengold drin. Er lag genau vor ihr und war mit Katzengold gesprenkelt. Jimmy hatte auf dem Hinweg obendrauf gestanden.
Ja!
Jetzt musste sie doch nicht hier draußen sterben, würde nicht verhungern oder von Verrückten umgebracht oder von Schlangen gebissen werden. Sie würde auch nicht den rasselnden Geisteratem des Mannes mit dem gespaltenen Schädel hören. Sie würde es nach Hause schaffen.
Tränen strömten über ihre schlammbedeckten Wangen. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sich ein Mensch gleichzeitig so gut und so schlecht fühlen konnte. Ihr Herz hämmerte vor Erleichterung.
Sie hatte es nach Hause geschafft.
Ihr Vater erwartete sie auf der Veranda. Er trank ein Bier, trug noch das Hemd, das er in der Bank angehabt hatte, saß in seinem Schaukelstuhl und hörte zu, wie sie ihm alles zu erklären versuchte.
Ihre Mutter stand in der Tür hinter dem Fliegengitter. Sie beobachtete sie, während sie die Hände ruhig über ihren aufgetriebenen Bauch gelegt hatte. Ihre Mutter war im achten Monat schwanger.
Als sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, stellte ihr Vater sein Bier ab, stand auf, ging zu ihr hinüber und blieb am äußersten Rand der Veranda stehen.
»Was ist los mit dir?«, fragte er. »Du bist doch sonst so schlau. Wo hast du deinen Verstand gelassen, Lydia? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie zupfte an den Holzsplittern. Die Hand tat ihr weh. Das Knie tat ihr weh. Das Knie blutete sogar. War ihm das etwa egal?
»Ziehe ich etwa ein dummes Kind groß, Lydia? Sieht ganz so aus.«
Ihre Mutter machte das Fliegengitter hinter ihm auf.
»Russell …«
Aber es war, als wäre ihre Mutter gar nicht da.
»Hör mir zu. Du bist kein Junge, Liddy. Jungs machen Sachen, die manchmal gefährlich und manchmal ziemlich dumm sind. Man könnte sagen, das gehört bei Jungs eben dazu. So wachsen sie auf. Aber für dich gehört es sich nicht, die Sachen zu machen, die die Jungs machen. Verstehst du das? Oder ist das zu schwierig für dich?«
»Nein.«
Sie dachte, sie würde wieder zu weinen anfangen. Sie fragte sich, ob das Baby in Mamas Bauch wohl ein Junge werden würde.
»Nein was?«
»Nein, Sir.«
Seine blassblauen Augen durchbohrten sie.
»Also schön. Ich weiß nicht, weshalb ich dir das überhaupt erklären muss.« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich. Manchmal frage ich mich, wo zur Hölle du eigentlich hergekommen bist.« Er drehte sich um und setzte sich in den Schaukelstuhl.
»Dein Abendessen ist kalt«, sagte er. »Und es wird verdammt nochmal auch kalt bleiben. Jetzt geh nach oben und mach dich sauber, junge Dame. Und deine Klamotten wirst du auch selbst waschen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Sir.«
Sie zog ihre schlammigen Gummistiefel aus und stellte sie neben die Veranda. Daddy nahm einen Schluck von seinem Bier, sagte nichts und sah sie auch nicht an. Wenigstens würde er sie dieses Mal nicht schlagen. Ihre Mutter öffnete ihr die Tür und trat zur Seite, als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg.
Sie setzte sich aufs Bett. Dann fiel ihr ein, dass sie schmutzig und das Bett sauber war. Sie stand auf und wischte den Dreck von der Bettdecke, humpelte den Flur zum Badezimmer hinunter und besah sich im Spiegel.
Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, war schmutzig und von Tränenspuren überzogen, die Augen blickten traurig und betrübt. Ihr Pferdeschwanz war total verfilzt, Kletten, Zweige und Laub hingen darin.
Sie fühlte sich genauso einsam wie in der Hütte.
Fast.
Sie hatte nur ein bisschen weniger Angst, das war alles.
Ellsworth, New Hampshire ∙ August 1962
Der Junge lag auf dem dunklen, stickigen Kriechboden unter der Treppe und lauschte. Seine Mutter stand direkt über ihm und sprach mit Officer Duggan.
Er konnte alles genau hören.
»Ich werde keine vierundzwanzig Stunden warten, Ralph Duggan«, sagte seine Mutter gerade. »Das werde ich ganz sicher nicht. Nicht, wenn du wie jetzt direkt vor mir stehst.«
»Ruth …«
»Komm mir nicht mit ›Ruth‹. Ich hab dich schon gekannt, als du so alt warst wie Arthur, oder etwa nicht? Ja, allerdings. Doch, hab ich. Da kannst du Gift drauf nehmen. Und jetzt sag du mir – hätte deine Mama etwa vierundzwanzig Stunden gewartet? Was glaubst du?«
Arthur konnte Officer Duggan seufzen hören. Er wusste, wie es war, wenn man mit seiner Mutter zu reden versuchte. Er lag im Dunkeln und bewegte sich keinen Zentimeter.
Er starrte durch das hölzerne Gitterwerk und dann durch die wuchernden Sträucher und das dürre Gras. Obwohl langsam der Abend dämmerte, konnte er von hier aus fast den ganzen Hügel bis zur Brücke und zum Biberteich überblicken. Er schlich sich manchmal dorthin, wenn alle schliefen.
Der Junge konnte alles beobachten, aber sie konnten ihn nicht sehen. Es war hier unten viel zu dunkel, und bis sich die Augen darauf eingestellt hatten, dauerte es eine Weile. Seine Mutter hatte es schon vergeblich versucht.
»Ruth, das Problem ist, dass wir im Moment keinen einzigen Mann entbehren können. Das verdammte Buschfeuer hält uns alle auf Trab. Die Leute kommen sogar den ganzen Weg von Compton hierher, um uns zu helfen, Polizisten und Freiwillige. Aber bei dem Wind und weil das Land dermaßen trocken ist … ach verflucht, Sie können den Rauch doch von hier aus riechen. Wie’s aussieht, wird uns diese Sache noch die halbe Nacht beschäftigen.«
»Das Buschfeuer ist mir egal. Mein Junge nicht.«
»Wollen Sie, dass Ihr Haus in Flammen aufgeht, Ruth? Könnte passieren, wenn wir dieses verdammte Feuer nicht aufhalten.«
»Das Feuer ist noch eine halbe Meile entfernt.«
»Das stimmt. Und der Wind weht genau in Ihre Richtung. Das heißt, es trifft zuerst die Wingertens und dann Sie. Harry, reden Sie mal mir ihr, ja?«
Dem Jungen ging erst jetzt auf, dass sein Vater auch dabeistand. Sein Vater konnte sich, wenn er es darauf anlegte, so lautlos bewegen wie ein Apache.
Außer wenn er betrunken war.
Eine braune Waldspinne lief über den linken Handrücken des Jungen und krabbelte auf sein Handgelenk zu.
Er wusste, dass die Spinne ziemlich schmerzhaft beißen konnte, aber vor etwas so Winzigem hatte er keine Angst.
Vor manchen Menschen schon, ja.
Aber nicht vor Spinnen.
Obwohl er Spinnen ekelhaft fand.
Aber er konnte nicht riskieren, nach ihr zu schlagen. Sie könnten ihn hören. Stattdessen streckte er langsam die rechte Hand aus und zerquetschte ihren Körper an seinem Handgelenk. Die Spinne wurde feucht und klebrig. Er rieb die Stelle, bis das Feuchte trocken war und nur das klebrige Zeug zurückblieb.
Das war nochmal gutgegangen. Die Spinne hatte ihn nicht gebissen.
»Es spielt keine Rolle, was mein Mann zu dem Thema zu sagen hat«, sagte seine Mutter. »Der Junge hat in seinem ganzen Leben noch kein Sonntagsessen versäumt. Er würde es auch nicht wagen, eins auszulassen. Niemals. Irgendwas stimmt hier nicht. Du und ich, Ralph Duggan, wir werden gemeinsam nach dem Jungen suchen. Jetzt geh rüber zu dem Wagen da und gib eine anständige Vermisstenmeldung raus, oder muss ich erst ins Haus gehen und die Schrotflinte holen. Wie wär’s damit?«
»Ruth, wissen Sie eigentlich, was Sie tun? Sie drohen einem Polizeibeamten.«
»Du willst mich also verhaften. Na schön. Mach nur. Aber erst, nachdem wir Arthur gefunden haben.«
»Jungs lassen sich schnell ablenken.«
Er konnte hören, wie der Polizist sich unbehaglich auf der Treppe hin und her bewegte.
»Und ich muss ein Feuer bekämpfen.«
»Und woher weißt du, dass er nicht mittendrin ist?«
»Was?«
»In deinem verfluchten Feuer, Ralph. Woher weißt du, dass er nicht verletzt inmitten des verdammten Feuers da draußen liegt? Mein Arthur hatte mit drei Jahren Asthma. Ohnmachtsanfälle. Was, wenn er einen Rückfall oder so was hat?«
»Himmel, Ruth.«
Der Junge lächelte. Seine Mutter würde gewinnen.
Seine Mutter gewann immer.
Das Beste war, dass sie dieselbe Erklärung benutzte, die auch er hatte benutzen wollen – die Ohnmachtsanfälle. Jetzt wusste er, dass er damit durchkommen würde. Das würde ihnen Angst einjagen. Er wusste nicht, warum er ihnen Angst einjagen wollte, aber er wollte es einfach. Seine Mutter würde eine echt große Sache daraus machen und er würde morgen nicht zur Schule gehen müssen und übermorgen und den Tag danach vielleicht auch nicht. Vielleicht würden sie sogar einen Doktor holen.
»Also schön, Ruth«, sagte Duggan. »Sie haben gewonnen. Sie und Harry steigen hinten ein. Ich denke, wir fangen so nah wie möglich beim Feuer an und arbeiten uns dann wieder zum Haus vor. Ist allerdings nicht mehr besonders hell.«
»Und du gibst die Suchmeldung durch.«
»Ja, Ruth. Ich geb die Suchmeldung durch.«
Er hörte, wie sie die Treppe hinuntergingen, hörte Autotüren aufgehen und wieder zuschlagen und wie der Motor des Polizeiautos startete und der Wagen davonfuhr. Dann waren da nur noch die vertraute Stille, die Grillen und Frösche am anderen Ende der Straße beim Biberteich jenseits des Hügels.
Er kroch unter der Treppe hervor und setzte sich mit über den Beinen verschränkten Armen ins Gras. Niemand würde ihn hier entdecken. Er fühlte sich unsichtbar, als wäre er nicht in derselben Welt wie alle anderen, als wäre er gar nicht da.
Er schnupperte an seinem Hemd.
Das Hemd roch noch nach Rauch. Genau wie seine Jeans. Nach Rauch und Dreck.
Er fragte sich, ob seine Sachen immer noch nach Rauch riechen würden, wenn sie zurückkamen, und ob seine Mom es bemerken würde.
Es war gut möglich, dass sie ihm auf die Schliche kamen.
Bei dem Gedanken durchfuhr ihn die Furcht wie ein greller Blitz. Die Erkenntnis, dass er in Gefahr schwebte, war fast dasselbe Gefühl, das er gehabt hatte, als er die Streichhölzer an das Gebüsch gehalten, sich hingekauert und zugesehen hatte, wie das Feuer langsam von den Sträuchern auf die Bäume und auf weitere Sträucher übergriff, während er den Rauch gerochen und den Knisterlauten gelauscht hatte.
Schließlich hatte ihn dieses Gefühl überwältigt, so dass er davonrennen und sich verstecken wollte.
Es hatte sich fast wie Freude angefühlt.
Er war ein schlechter Mensch.
Und jetzt war er unsichtbar.
Und niemand würde je irgendetwas davon erfahren. Er würde dasitzen, bis seine Sinne ihm befahlen, sich wieder zu verstecken, dann würde er wieder unter die Veranda robben und den Sorgen seiner Mutter und dem Schweigen seines Vaters im Haus lauschen, bis er wieder ein guter Mensch war und bereit, herauszukommen, und niemand würde jemals etwas erfahren.