14
Erste Maßnahmen

Bromberg galt als der Beste in der Gegend, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie ihn mögen oder für gut befinden würde.

Er saß hinter seinem Schreibtisch in seinem mit Spielzeug übersäten Büro und trug einen billigen blauen Anzug von der Stange, in dem er wie ein allmählich kahl werdender Bankangestellter mittleren Alters auf sie wirkte. Nicht wie ein Kinderpsychologe. Sein weißes Hemd war schlampig gebügelt und stand am Kragen offen. Kleine, schwarze Haarbüschel wuchsen auf seinem Hals. Er trug eine Gleitsichtbrille, und sie konnte genau erkennen, wo die beiden unterschiedlichen Gläser aufeinandertrafen.

Plymouth kam ihr in diesem Moment unvorstellbar hinterwäldlerisch vor. Ein typisches amerikanisches Kaff. Himmelherrgott! Gerade jetzt war sie auf einen Experten angewiesen.

Doch Owen Sansom hatte gesagt, dass sie die Angelegenheit noch heute über die Bühne bringen musste. Daher musste sie sich also mit dem »Besten in der Gegend« zufriedengeben.

»Weiß Ihr Anwalt Bescheid?«, fragte Bromberg, als sie zu Ende erzählt hatte.

»Er war derjenige, der mir geraten hat, den Termin mit Ihnen und mit einem Proktologen zu vereinbaren. Wir wollen, dass Sie mit Robert sprechen und zweifelsfrei herausfinden, was Arthur getan hat, und dass es Arthur war, der es getan hat. Warum er einen Proktologen braucht, liegt auf der Hand.«

»Mit Ihnen will er nicht darüber reden?«

»Nein.«

Er zog die Stirn in Falten, seufzte und stützte sich schwer auf den Schreibtisch.

»Mir erzählt er auch nicht sehr viel. Wie Sie wissen, benutzen wir spielerische Therapiemethoden, auf die sich die Kinder für gewöhnlich nach einiger Zeit einlassen und sich öffnen. Erst wenn sie sich entspannen können, fangen sie auch an zu reden. Aber Robert hat meistens bloß gespielt, was wir als die sogenannte Spielphase bezeichnen. Ich habe ihn zumindest so weit gebracht, dass er mit mir über das Stottern geredet hat. Er hat mir von ein oder zwei Alpträumen berichtet – obwohl ich ehrlich gesagt der Meinung bin, dass er diese Träume ausschmückt, also sich etwas ausdenkt, von dem er glaubt, dass es eine interessante Ergänzung sein könnte. Irgendein Fantasiegebilde, was natürlich – mit Verlaub – nicht besonders hilfreich ist. Aber über die Angewohnheit, ins Bett zu machen und Windeln zu tragen, verliert er kein Wort.«

Er stand auf und begann hinter dem Schreibtisch auf und ab zu gehen. Dabei klopfte er mit den Fingerspitzen gegen sein Kinn. Das war seine Dozentenmasche. Gleich würde er zu einem Vortrag ausholen. Sie kannte diese Vorträge bereits und konnte sie nicht leiden.

»Und doch passt alles zusammen«, begann er. »Die Alpträume natürlich, die allgemeine Nervosität, die Ungeschicklichkeit, die Schüchternheit. Es würde ohne Frage erklären, warum er ins Bett macht, und die Haltung, die er einnimmt, wenn Sie ihn wickeln wollen. Mir sind zwar keine Fälle von Kindesmissbrauch bekannt, die unmittelbar zu Stottern geführt hätten, aber es ist durchaus möglich, dass so ein traumatisches Erlebnis eine Ursache dafür sein kann. Vor allem aber interessiert mich in diesem Zusammenhang seine körperliche Unbeholfenheit, die eine Art Selbstbestrafung darzustellen scheint.«

Er wandte sich ihr zu.

»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich habe schon mit etwas Derartigem gerechnet.«

»Was?«

»Nun, es schien mir durchaus im Bereich des Möglichen.«

»Dass Robert missbraucht wurde, schien Ihnen im Bereich des Möglichen?«

»Ich fürchte, ich hielt es sogar für wahrscheinlich.«

»Und da haben Sie nichts gesagt? Sie haben diese … Wahrscheinlichkeit einfach für sich behalten?«

Sie wäre dem Mann am liebsten an die Gurgel gesprungen. Sofort und auf der Stelle.

Er seufzte abermals. Anscheinend strapazierte sie seine Geduld.

»Mrs. Danse, ein Verdacht auf Kindesmissbrauch gehört nicht zu den Dingen, über die man leichtfertig spricht. Insbesondere nicht – und das kann ich Ihnen leider nicht ersparen – mit einer potenziellen Täterin.«

»Augenblick mal«, sagte sie. »Nur damit ich Sie richtig verstehe: Ich vertraue Ihnen meinen Sohn an, stelle Ihnen tausend Fragen über sein seltsames Verhalten, und Sie glauben, dass ich ihn missbraucht haben könnte?«

Er zuckte mit den Achseln. »So etwas soll schon vorgekommen sein. Das betreffende Elternteil ist sich sicher, dass das Kind nichts sagen wird, setzt das Kind vielleicht sogar unter Druck. Und bringt es dann, falls die Gefahr besteht, dass alles auffliegt, in therapeutische Behandlung, um alles zu vertuschen. Und zwar mit genau der Begründung, die Sie gerade vorgebracht haben. Warum sollte ich ihn behandeln lassen, wenn ich die Schuldige bin? Nicht zu vergessen der unbewusste Wunsch, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Vielleicht hat der betreffende Elternteil das Bedürfnis nach Bestrafung, aber er oder sie ist nicht dazu in der Lage, seine oder ihre Taten ohne weiteres zu gestehen, und hofft daher, das Kind würde das übernehmen. Sie müssen zugeben, Mrs. Danse, dass ich bisher lediglich Ihre Version der Ereignisse kenne. Es ist durchaus möglich, dass Sie den Missbrauch begangen haben. Auch wenn ich das selbstverständlich für höchst unwahrscheinlich halte. Der Schlüssel zur Wahrheit ist naturgemäß Robert. Nur er kann uns mit einiger Sicherheit sagen, was geschehen ist.«

Es war unglaublich. Dieser hochnäsige kleine Scheißkerl. Es war gar nicht zu übersehen, wie sehr er seine kleine Rede genossen hatte. Sie wäre am liebsten sofort aufgestanden und gegangen, um ihm nie wieder unter die Augen treten zu müssen.

Doch sie war auf ihn angewiesen.

Und so sehr sie es sich auch wünschte, es hätte keinen Sinn gehabt, es sich mit dem Mann zu verscherzen.

Dazu war später noch genug Zeit.

»Wann haben Sie Zeit für ihn?«

Er blätterte umständlich in seinem Terminkalender und spähte dabei angestrengt durch die untere Hälfte seiner Gleitsichtbrille.

»Morgen, fünfzehn Uhr dreißig?«

»Es muss unbedingt heute noch sein, sagt mein Anwalt. Es ist sehr dringend.«

Er wirkte etwas verärgert. Von mir aus, dachte sie. Hauptsache, es geht voran.

»Ich kann ihn heute um halb fünf zwischenschieben«, sagte er. Dann schüttelte er den Kopf und seufzte wieder. »Aber ich würde mir an Ihrer Stelle wirklich nicht zu viel davon versprechen.«

»Das tue ich auch nicht«, antwortete sie völlig ohne Ironie.

 

Nachdem sie beim Proktologen gewesen waren, saßen sie schweigend im Auto. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Robert schien in Gedanken versunken.

Doktor Hessler war ein netter Mann, der Robert sehr gut behandelt und ihm ohne Umschweife versichert hatte, dass ihm nichts von dem, was er mit ihm vorhatte, wehtun würde. Dann hatte er sofort das Thema gewechselt und sich erkundigt, ob er denn Dschungelbuch II schon gesehen hatte – keine Ahnung, wie er darauf gekommen war.

Sie hatten den Film tatsächlich noch nicht gesehen. Zweimal hatten sie unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen, weil beide Vorstellungen schon ausverkauft gewesen waren. Trotzdem hatte der Doktor das Thema klug gewählt. Seit der Film angelaufen war, sprachen die Kinder von nichts anderem mehr. Robert hörte gebannt zu, als der Doktor ihm mehrere Szenen in allen Einzelheiten beschrieb – mit überraschend jungenhafter Begeisterung für einen Mann, der die sechzig längst überschritten hatte –, ihn währenddessen in sein Behandlungszimmer dirigierte und die Tür hinter ihnen schloss.

Hesslers Bericht bestätigte ihre Erwartungen.

Trotzdem tat es ihr in der Seele weh, ihn zu hören.

Roberts Schließmuskel war geweitet, das rektale Gewebe ringsum wund und gereizt.

Eine Folge analer Penetration.

Anale Penetration. Mit acht Jahren. Großer Gott.

Dr. Hessler war bereit, vor Gericht auszusagen.

Das war auch zwingend erforderlich, wie sie wusste, seit ihr Owen Sansom in seinem Büro dargelegt hatte, wie die Verhandlung ablaufen würde.

»Ich habe beim Berufungsgericht bereits einen Antrag auf Aussetzung sämtlicher bei der Scheidung festgesetzten Besuchsregelungen gestellt. Und zwar wegen Kindesmissbrauchs«, sagte er. »Heute Abend wird jemand bei Ihnen vorbeikommen, der in dieser Angelegenheit ermittelt. Sie bereiten Robert lieber darauf vor, dass er noch weitere Fragen beantworten muss. Wie kommt er mit all dem zurecht?«

»Als ich ihm sagte, was wir heute alles vorhaben, hat er geweint. Ich kann es ihm nicht verübeln, dass er sich nicht gerade darauf freut. Aber den Umständen entsprechend geht’s ihm ganz gut. Das glaube ich zumindest.«

Sansom sah ein bisschen zerzaust aus, als hätte er sich den ganzen Vormittag über das spärliche Haar gerauft. Die Brillengläser waren verschmiert und die Aufschläge seines Jacketts waren nach innen gebogen, als hätte er es am Vorabend über einen Stuhl und nicht in den Kleiderschrank gehängt.

Sie fragte sich, wie es um sein Privatleben bestellt war.

Doch außer dem Ehering hatte sie dafür keinen Anhaltspunkt.

Außerdem ging es sie überhaupt nichts an.

»Das Gericht wird Arthur, Robert und Sie auf der Grundlage dieser Ermittlungen vorladen und feststellen, ob es einen hinreichenden Anfangsverdacht gibt. Falls dieser Anfangsverdacht besteht …«

»Falls?«

Er lächelte. »Tut mir leid. Das war Juristenkauderwelsch. Dieser Verdacht wird zweifelsohne festgestellt werden, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Dafür haben wir ja den Psychologen und den Proktologen. Was das angeht, sind wir auf der sicheren Seite. Aber wie auch immer, das Gesetz verlangt, dass die Voruntersuchung innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung der Vorladung stattfindet. Das wird jetzt also alles ziemlich schnell gehen.«

»Und was ist in der Zwischenzeit mit dem Besuchsrecht? Wenn ich das richtig verstanden habe, verstoße ich gegen die Scheidungsbestimmungen, wenn ich verhindere, dass Arthur ihn in dieser Zeit nicht wenigstens noch einmal sieht. Großer Gott! Stimmt das? Hat er wirklich das Recht dazu?«

»Natürlich kann er verlangen, Robert zu sehen, wenn er das will. Aber bis in dieser Sache eine endgültige Entscheidung gefallen ist, werden die Besuchszeiten infolge unseres Antrags eingeschränkt. Auf jeden Fall wird er ihn vorläufig nur unter Aufsicht sehen können.«

»Um Himmels willen! Ich will, dass er ihn überhaupt nicht zu sehen bekommt!«

»Tut mir leid, aber das geht nicht.«

»Und wieso nicht?«

»Solange wir ihm nichts nachweisen können, behält er seine Elternrechte, Lydia.«

»Heilige Scheiße!«

»Ich teile Ihre Befürchtungen.«

Der Mann sah erschöpft aus. Anscheinend hatte er letzte Nacht nicht viel Schlaf bekommen. Sie fragte sich nach dem Grund dafür. Irgendetwas bereitete ihm Kopfzerbrechen, doch sie bezweifelte, dass sein Schlafmangel etwas mit ihrem Fall zu tun hatte – schließlich war er Rechtsanwalt. Nein, hier ging es um etwas anderes. Zweifellos. Irgendwas Persönliches.

Aber auch das ging sie nichts an.

»Okay. Weiter.«

»Innerhalb von dreißig Tagen nach der Voruntersuchung folgt eine Anhörung durch den Richter vom Berufungsgericht. Leider wird es sich dabei nicht um Mrs. Clarke handeln, die Ihre Scheidung bewilligt hat – sie ist wegen einer Herzgeschichte auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Wir werden auf jeden Fall das alleinige Sorgerecht beantragen. Bei dieser Anhörung können wir unsere Beweise vorlegen und unsere Zeugen aufrufen: die Ärzte, Sie, Ralph Duggan, der bezeugen kann, dass Arthur Sie geschlagen hat, wahrscheinlich Ihre Freundin Cindy, möglicherweise seine Lehrerin – und hoffentlich bis dahin auch Robert selbst. Ich habe bei Gericht die Ernennung eines sogenannten Verfahrenspflegers für Robert beantragt – einen Anwalt, der ihn während des Prozesses begleitet, seine Situation einschätzt und seine Interessen nach bestem Wissen und Gewissen vertritt. Das ist übrigens die Person, mit der Sie sich heute Abend treffen werden.«

»Robert hat eine Anwältin?«

»Ja. Hoffentlich jemanden, mit dem wir gut zusammenarbeiten können. Jemanden, der sich ganz auf unsere Seite schlägt.«

»Und wenn nicht?«

»Wenn Robert weiter schweigt, müssen wir uns auf Indizien stützen. Aber selbst dann ist der Fall noch ziemlich wasserdicht. Die Gegenseite könnte einwenden, dass sich Robert seine Verletzungen irgendwie selbst zugefügt hat – mit irgendeinem Gegenstand zum Beispiel. Doch das ist ja zweifellos recht unwahrscheinlich. Sie könnte einwenden, dass nicht Arthur, sondern jemand anderes ihm das angetan hat, ohne dass Arthur etwas davon wusste. In diesem Fall müsste die Gegenseite jedoch einen möglichen Verdächtigen liefern. Einen, der die Gelegenheit dazu hatte.«

»Wie mich beispielsweise.«

»Sie?« Er lachte.

»Bromberg meinte, er hätte diese Möglichkeit in Betracht gezogen.«

Sansom dachte einen Augenblick darüber nach und trommelte währenddessen mit einem Bleistift auf seinem Schreibtisch.

»Wenn er Robert erst einmal gesehen hat, wird er seine Meinung hoffentlich ändern. Wenn nicht, werden wir ihn uns wohl mal zur Brust nehmen müssen, um uns seine Kooperationsbereitschaft zu sichern. Vielleicht müssen wir auch eine zweite Expertenmeinung einholen. Aber wir haben mit Abstand die besten Karten, wenn wir Ihren Jungen dazu bewegen können, dass er erzählt, was vorgefallen ist – so schwer ihm das auch fallen mag. Daran werden Sie hart arbeiten müssen.«

Das würde sie auch, aber nicht sofort. Robert musste erst einmal mit Bromberg sprechen. Und danach mit seiner Anwältin.

Was für ein Tag für ihn, dachte sie. Was für ein Scheißtag!

Sie sah zu Robert hinüber, der aus dem vor Kälte beschlagenen Seitenfenster starrte.

Als er sich ihr zuwandte, strahlte sein Gesicht vor unerwarteter Vorfreude.

»Mom? Können wir morgen Abend ins Kino gehen?«

Sie lächelte. »Klar.«

»Jaaaa!«

»Gar kein Problem.« Sie streckte den Arm aus und tätschelte seine Hand.

»Aber wir müssen richtig früh losgehen, damit wir die Ersten sind und dieses Mal auch wirklich noch Plätze kriegen, okay?«

»Einverstanden.«

»Superklasse!«, rief er und sah wieder aus dem Fenster.

Entweder hatte ihr Sohn ein Talent dafür, das Ganze vollständig auszublenden, oder Nerven wie Drahtseile. Ersteres war ein Problem. Letzteres jedoch, so vermutete sie, würde sich in Anbetracht dessen, was noch vor ihm lag, als dringend erforderlich erweisen.

Sie konnte nur das Beste hoffen.

 

Robert saß mit dem Rücken zum Fernseher auf dem Fußboden. Seine Mutter hatte ihn ausgeschaltet, bevor sie hinausgegangen war. Er hörte Miss Stone aufmerksam zu. Miss Stone war anscheinend jünger als seine Mutter. Er fand sie hübsch, seine Mutter fand er allerdings noch hübscher. Aber Miss Stone hatte schönes, weiches und glänzendes blondes Haar, genau wie Chrissy, mit der er zur Schule ging. Ihr Haar war genauso lang und glatt wie das von Chrissy.

Chrissy war nett, obwohl er Laura noch lieber mochte.

Es war anstrengend, sich auf das, was Miss Stone sagte, zu konzentrieren. Sie stellte ihm eine Frage nach der anderen. Den ganzen Tag schon hatten alle möglichen Leute alles Mögliche von ihm wissen wollen. Jetzt wünschte er sich wirklich, es wäre endlich Schlafenszeit.

Und das war ja mal eine echte Ausnahme.

Dann fing sie mit den echt schwierigen Fragen an.

»Gibt es jemanden, der Sachen mit dir macht, Robert? Der dich anfasst, wo du lieber nicht angefasst werden möchtest?«

Er konnte nicht anders. Er rutschte unruhig auf dem Teppich herum. Als hätte diese Frage etwas in ihm ausgelöst, ganz so, als hätte jemand auf einen Knopf seiner Spielkonsole gedrückt. Er lief sozusagen auf Autopilot.

Wie viel durfte er ihr erzählen?

Er wusste, dass er irgendwas sagen musste, dass er ihnen irgendwie weiterhelfen musste. Schließlich taten sie das für ihn, weil sie wollten, dass sein Dad damit aufhörte. Er wollte ja auch, dass sein Dad damit aufhörte, wünschte es sich mehr als alles andere auf der Welt – doch er wollte auf keinen Fall, dass sein Dad seiner Mom wehtat. Und das würde er tun. Er kannte seinen Dad besser als irgendjemand sonst. Er würde ihr sehr wehtun.

Es war seine Aufgabe, sie zu beschützen.

Vielleicht konnte er Miss Stone ja etwas sagen, ohne etwas zu sagen, dachte er. So ähnlich hatte er es schon bei Doktor Bromberg gemacht.

»Kann sein«, antwortete er.

»Jemand, der dich anfasst, wo du nicht angefasst werden möchtest?«

»Kann sein.«

»Und wo?«

Ab jetzt wurde es gefährlich.

»Geschlechtsteile … vielleicht«, sagte er.

»Jemand fasst deine Geschlechtsteile an?«

»Kann sein.«

»Wer macht das, Robert?«

Das würde er nicht sagen. Auf keinen Fall. Das ging nicht. Obwohl er es so gerne gesagt hätte. Mein Vater, mein Vater ist derjenige, der das tut, hätte er gerne gesagt. Aber er sah immer nur das Kaninchen vor sich.

Er würde abwarten. Früher oder später würde sie die Frage vergessen und mit etwas anderem weitermachen.

Das war bei dem anderen auch so gewesen.

Sie schrieb etwas in ihr Notizbuch. Eigentlich fand er sie ziemlich nett. Sie hatte jedenfalls eine nette Stimme. Das gefiel ihm.

Er wartete und starrte auf den Teppich.

»Du willst es mir nicht sagen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

Er wartete noch ein bisschen. Seine Haut juckte, als wäre er am Strand beim Schwimmen gewesen. Als wäre seine Haut noch klebrig vom Meersalz. Er scheuerte mit dem Po über den Teppich. Das half ein bisschen, aber nicht sehr viel.

»Tut es dir weh, wenn das passiert?«

Das war weniger gefährlich. Gut.

»Ja.«

»Sehr?«

Er nickte.

»Wo tut es weh?«

»An meinen Geschlechtsteilen.«

»Vorne oder hinten? Oder beides?«

»Hinten.«

»Aber du willst mir nicht sagen, wer das macht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Kommt das oft vor?«

»Kann sein.«

»Auch hier im Haus?«

Aufpassen.

Weil es auch schon mal im Haus passiert war. Jetzt nicht mehr. Früher schon. Vorsichtig. Er vermutete, dass Miss Stone ziemlich schlau war. Nichts zu sagen wäre womöglich genauso wie doch etwas zu sagen.

Lieber nicht antworten.

Sie beugte sich vor, wollte ihm näher kommen, auch wenn er nicht wusste, warum. Jedenfalls blieb sie auf der Couch sitzen und kam nicht runter zu ihm auf den Boden.

»Ich muss dich was fragen, Robert. Es ist sehr wichtig. Vielleicht sogar das Wichtigste überhaupt heute Abend – und es ist auch ganz, ganz wichtig, dass du mir eine Antwort gibst, okay?«

Er zuckte mit den Achseln.

Doch in seinem Innersten hatte er große Angst. Er wartete. Wartete auf die Frage.

Wenn es sein musste, würde er lügen. Und das machte ihm noch mehr Angst.

»Robert, ist es deine Mutter, die dir wehtut?«

»Himmel! Nein!«

Er zuckte förmlich zusammen.

Wie konnte sie so etwas auch nur denken? Es war, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst.

Die Leute waren manchmal echt verrückt.

Sie lächelte. Lachte beinah. Als sei sie erleichtert. Vielleicht hatte er auch ein komisches Gesicht gemacht, als sie ihn das gefragt hatte.

Doch dann wurde sie wieder ernst. Jetzt war es so weit.

»Ist es dein Vater, Robert?«

Er sah das Kaninchen mit dem weggeschossenen Bein in der Hand seines Vaters deutlich vor sich. Als sie wieder bei ihm zu Hause gewesen waren, hatte er ein Messer genommen, die Haut und das weiche, braune Fell am Rücken des Kaninchens gepackt und das Messer hineingesteckt, es aufgeschlitzt und ihm das Fell bis zu den Pfoten abgezogen. Als würde man eine Socke ausziehen. Dann hatte er dem Kaninchen die Pfoten abgeschnitten. Er sah, wie er dasselbe mit der oberen Hälfte gemacht hatte, bloß dass er diesmal nicht nur die Pfoten abtrennte, sondern auch den Kopf des Kaninchens. Und schließlich hatte er den rosafarbenen Bauch aufgeschnitten, hineingegriffen und die Innereien herausgezogen.

Das kann man auch mit einem Menschen machen, hatte er gesagt.

Genau dasselbe.

Wusstest du das?

»Ist es dein Vater, Robert?«

Nein. Er würde nicht wieder weinen, verdammt! Und er würde ihr auch nichts sagen.

Macht, dass er aufhört, dachte er. Irgendwie.

Und dann weinte er doch ein wenig.

Aber er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte nichts.