23
Die Verhandlung: dritter
Tag
Die Gegenseite rief eine Handvoll Geschäftsleute in den Zeugenstand, die lediglich dazu dienten, Arthur ein gutes Leumundszeugnis in finanziellen und geschäftlichen Angelegenheiten auszustellen. Weder Stone noch Sansom hielten sich lange mit ihrer Befragung auf.
Die nächste Zeugin war Arthurs Mutter.
Lydia hatte Ruth seit der Scheidung außer an Weihnachten kaum zu Gesicht bekommen und sie ganz sicher nicht vermisst. Sogar in ihrem feinsten Zwirn – den, wie sie vermutete, abermals Arthur ausgesucht hatte –, haftete der Frau etwas Abstoßendes an, eine Gehässigkeit, die sich irgendwie von innen durch ihr Fleisch fraß wie ein latentes, unverwechselbares Aroma.
Aber eines musste man ihr lassen – sie war absolut loyal.
»Mein Junge könnte keiner Fliege was zuleide tun«, sagte sie. »Wenn Sie mich fragen, ist das alles Blödsinn. Und auf diese Weise würde er bestimmt keinem was zuleide tun, lassen Sie sich das gesagt sein. Mein Arthur hatte im Lauf der Jahre mehr nette Freundinnen, als Sie an Ihren zehn Fingern abzählen können. Ich habe manchmal sogar ihre Namen durcheinandergebracht. Tatsache.«
»Vielen Dank, Mrs. Danse«, sagte Wood. »Keine weiteren Fragen.«
»Mr. Sansom?«
»Keine Fragen an die Zeugin, Euer Ehren.«
Er sah heute schon besser aus, fand Lydia. Müde zwar, aber der gehetzte Blick war verschwunden.
»Ich würde Mrs. Danse gerne ein paar Fragen stellen. Euer Ehren«, meldete sich Andrea Stone. »Rein formeller Natur.«
»Bitte, Miss Stone.«
»Mrs. Danse«, begann sie, »als ich Sie zu Hause aufsuchte, ließen Sie durchblicken, dass Sie, falls das Gericht weder für Arthur noch für Lydia Danse entscheiden würde, bereit seien, Robert zu adoptieren. Ist das immer noch Ihr Standpunkt und der Ihres Mannes?«
»Absolut.«
»Und der Ihres Mannes?«
»Absolut.«
»Würden Sie die Anordnungen des Gerichts hinsichtlich der Besuchszeiten akzeptieren?«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, sagen wir, das Gericht erlaubt Lydia Danse zum Beispiel, ihren Sohn Robert zweimal pro Woche zu sehen, ihn mit in die Ferien zu nehmen, ihn jeden Monat für eine bestimmte Anzahl von Tagen zu sich zu nehmen und so weiter. Wäre das in Ordnung für Sie?«
»Na klar. Sie ist seine Mutter. Ganz egal, was ich von ihr halte oder was sie meinem Jungen angetan hat.«
»Und angenommen, das Gericht schränkt Arthurs Umgangsrecht ein? Angenommen, der Richter ordnet an, dass Arthur seinen Sohn nur unter Aufsicht sehen darf oder überhaupt keine Besuchszeiten mehr zulässt?«
Sie zögerte nur einen Augenblick. Doch Lydia fragte sich, ob sie die Einzige war, die den unverhohlen verschlagenen Blick bemerkt hatte, der kurz über ihr Gesicht gewandert und sofort wieder verschwunden war. Sie fragte sich, ob man diesen Blick kennen musste – sie selbst hatte ihn schon viele Male gesehen –, um ihn auch diesmal zu bemerken.
»Nun, um die Wahrheit zu sagen«, antwortete Ruth, »gefallen würde mir das nicht. Das wäre Arthur gegenüber nicht fair, finde ich. Aber wenn ihr hier so entscheidet, ist es ja wohl meine Pflicht, das Gesetz zu respektieren. Und das würde ich auch tun.«
»Danke, Mrs. Danse. Keine weiteren Fragen.«
»Wir rufen Arthur Danse in den Zeugenstand, Euer Ehren.«
Lydia musterte ihn, als er sich setzte und dem Publikum den Blick zuwandte.
Wäre ich als Richter geneigt, diesem Mann Glauben zu schenken?, fragte sie sich.
Vielleicht. Er sieht verdammt gut aus.
Seine Miene drückte nichts weiter aus, als dass er sich der Ernsthaftigkeit des Augenblicks bewusst war – eine Art von intelligenter Anteilnahme. Keine Spur von Schuldbewusstsein. Keine Nervosität. Das Gesicht eines Mannes, der sich nichts mehr wünscht, als Licht ins Dunkel zu bringen und diese Unannehmlichkeit ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Sie fand, dass er den Beruf verfehlt hatte. Arthur hätte einen Oscar gewinnen können. Als ihre Blicke sich trafen, schien er nicht das Gefühl zu haben, die Augen niederschlagen zu müssen.
Wood ging rasch die einleitenden Vorbemerkungen durch, so dass es sofort mit den Lügen und Halbwahrheiten losgehen konnte.
»Mr. Danse«, sagte er, »würden Sie uns bitte in Ihren Worten schildern, was sich am elften Januar diesen Jahres zugetragen hat?«
»Gern.« Er beugte sich aufmerksam vor. »Ungefähr um zwölf habe ich meinen Sohn von seiner Mutter abgeholt. Dann sind wir zum Mittagessen zu McDonald’s an der 93 gefahren. Robert mag Chicken McNuggets, obwohl ich versuche, nicht häufiger als ein-oder zweimal im Monat mit ihm dahin zu gehen. Wir haben im Auto gegessen. Danach sind wir nach Ellsworth gefahren, in die Gegend, in der meine Eltern leben. Wir gingen auf die Jagd. Ich hatte mir gerade ein nagelneues Gewehr gekauft – eine Remington-Bockdoppelflinte –, das ich an diesem Tag ausprobieren wollte.«
»Robert hatte demnach keine eigene Jagdwaffe?«
»Nein. Da müssen schon noch ein paar Jährchen vergehen, bevor ich ihm erlauben kann, mit einer Schusswaffe zu hantieren.«
Ganz der verantwortungsbewusste Familienvater. Aber sicher.
»Wie lange waren Sie auf der Jagd?«
»So zweieinhalb Stunden, würde ich sagen. Ich glaube, wir sind ungefähr um halb vier zum Auto zurück. So um den Dreh. Ich habe bemerkt, dass Robert ziemlich müde wurde, und da ich bereits ein Kaninchen geschossen hatte, beschloss ich, zusammenzupacken. Wir waren also, wenn’s hochkommt, zwei, höchstens drei Stunden da draußen.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Ich hatte noch was zu erledigen, also sind wir zu mir nach Hause gefahren. Robert hat sich einen Film auf HBO angesehen und danach mit seinem Sega Genesis gespielt, das ich für ihn besorgt habe, während ich den Papierkram erledigte. Ich vermute, wir haben beide nicht auf die Zeit geachtet, denn auf einmal war es schon Viertel nach sechs. Ich dachte nur, ach, du meine Güte! Ich hätte Robert ja schon vor einer Viertelstunde zu Hause abliefern sollen. Sie wird bestimmt stinksauer sein.«
»Sie?«
»Roberts Mutter.«
»Warum haben Sie nicht angerufen? Um ihr mitzuteilen, dass Sie sich verspäten würden?«
»Ich hab’s versucht. Aber es war dauernd besetzt. Da habe ich Robert ins Auto gesetzt und ihn schleunigst zu ihr gefahren.«
»Mr. Danse, ist Ihnen auf dem Weg zu seiner Mutter aufgefallen, dass Robert sich aus irgendeinem Grund nicht wohlzufühlen schien?«
»Ja, allerdings. Er wirkte irgendwie … zappelig. Als würde es ihm Schwierigkeiten bereiten, ruhig auf seinem Platz zu sitzen. Und ich weiß noch, dass wir einmal durch ein ziemlich tiefes Schlagloch fuhren. Ich wäre fast mit dem Kopf gegen das Wagendach gestoßen, obwohl ich mich angeschnallt hatte. Da habe ich mich zu Robert umgedreht, weil ich nachsehen wollte, ob er okay ist. Er hatte so einen komischen Gesichtsausdruck. Als täte ihm irgendwas weh. Dabei war er ebenfalls angeschnallt.«
»Haben Sie ihn gefragt, was los sei?«
»Ja.«
»Was hat er geantwortet?«
»Er sagte, es wäre alles in Ordnung. Er hätte bloß Angst, dass seine Mutter auf ihn sauer sein und ihn bestrafen könnte, weil wir spät dran waren. Ich habe ihn beruhigt. Habe ihm gesagt, dass ich schuld wäre, und dass ich ihr das auch sagen würde. Er musste also keine Angst haben.«
»Mr. Danse, waren Sie, als Sie Ihre Papiere durchgesehen haben, mit Robert in einem Zimmer?«
»Nein. Ich war in meinem Arbeitszimmer. Robert war im Wohnzimmer.«
»Für wie lange ungefähr?«
»Ungefähr zwei Stunden, vielleicht auch ein bisschen länger.«
»Haben Sie mitbekommen, ob er zwischendurch aufgestanden und auf die Toilette gegangen ist?«
»Ja. Wenn man bei mir vom Wohnzimmer auf die Toilette will, muss man am Arbeitszimmer vorbei. Er schaute zu mir rein, nachdem der Film vorbei war. Ich habe ihn gefragt, wie er ihm gefallen hätte. Ziemlich cool, meinte er. Es ging wohl um Killerclowns aus dem Weltraum. Wir haben noch darüber gelacht. Dann ging er in Richtung Toilette, und ich habe weiter gearbeitet.«
»Haben Sie mitbekommen, wie er von der Toilette zurückkam?«
»Nein, nicht richtig. Ich war gerade ziemlich in meine Arbeit vertieft.«
»Mr. Danse, haben Sie Ihren Sohn an diesem Tag sexuell missbraucht.«
»Nein, ganz sicher nicht.«
»Haben Sie Ihren Sohn zu irgendeinem Zeitpunkt missbraucht, Mr. Danse? Sexuell oder sonst wie?«
»Großer Gott, nein. Ich kann kaum glauben, dass man mich mit einer derartigen Frage konfrontiert. Robert ist …«
Er runzelte die Stirn. Sein Kinn sank auf die Brust und er schüttelte langsam den Kopf. Als er wieder aufblickte, standen Tränen in seinen Augen.
»Robert ist das Allerwichtigste in meinem Leben«, sagte er. »Ich würde ihm niemals Schaden zufügen. Niemals.«
Du Arschloch, dachte Lydia.
»Mr. Danse, fällt Ihnen ein Grund ein, weshalb Lydia Danse Sie beschuldigen könnte?«
»Einspruch«, rief Sansom. »Spekulation.«
»Ich werde die Frage zulassen, Mr. Sansom. Ich halte die Meinung des Zeugen in dieser Sache für relevant.«
»Ich kann mir das nur so erklären, dass Sie mir nicht verzeihen kann, dass unsere Ehe gescheitert ist«, antwortete Arthur. »Zu sagen, das würde mich überraschen, wäre allerdings die Untertreibung des Jahres. Ich dachte, wir hätten uns in gegenseitigem Einvernehmen getrennt, aber da habe ich mich wohl geirrt. Zumindest, was ihre Sicht der Dinge angeht.«
Er sah sie jetzt direkt und ohne mit der Wimper zu zucken an.
»Lydia«, sagte er. »Ich schwöre, es tut mir leid. Das ist mein Ernst.«
»Einspruch«, sagte Sansom wieder.
»Stattgegeben. Streichen Sie das aus dem Protokoll«, sagte Burke. »Haben Sie noch Fragen an den Zeugen, Mr. Wood?«
»Nein, Euer Ehren.«
»Mr. Danse«, begann Owen Sansom. »Habe ich Sie richtig verstanden, als Sie uns eben erklärten, Ihnen sei im Auto aufgefallen, dass Robert sich so verhielt, als habe er Mühe, ruhig auf seinem Platz zu sitzen, und dass Sie, als Sie durch dieses Schlagloch fuhren, sogar dachten, er hätte Schmerzen?«
»Ja.«
»Und dass Sie daraufhin von ihm wissen wollten, was los sei, und er nichts darauf geantwortet hat? Dass er lediglich besorgt gewesen sei, seine Mutter könnte ihn wegen der Verspätung bestrafen?«
»Richtig.«
»Und Sie haben ihm geglaubt.«
»Ich hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Doch, ich habe ihm geglaubt.«
»Haben Sie gerade eben nicht gesagt, Sie dachten, er habe womöglich Schmerzen? Körperliche Schmerzen?«
»Ja.«
Sansom schwitzte. Lydia konnte es von ihrem Platz aus sehen. Der Richter sicher auch. Ihr war klar, welche Überwindung ihn das hier kosten musste, während sein Privatleben aus den Fugen geriet, aber sie fand, dass er seine Sache bisher trotzdem ganz gut machte.
»Gibt es denn keinen offensichtlichen Unterschied in Anmutung und Haltung einer Person, die sich nur darum sorgt, ein paar Vorrechte gestrichen zu bekommen – sagen wir, wegen einer Verspätung bestraft zu werden –, und jemandem, der wirkt, als würde er körperliche Schmerzen erleiden?«
»Spekulation, Euer Ehren. Mein Mandant ist weder Arzt noch Diplompsychologe.«
»Stattgegeben.«
»Dann lassen Sie mich die Frage anders formulieren. Warum haben Sie sich derart rasch von dem Gedanken verabschiedet, Ihr Sohn könnte sich körperlich unwohl fühlen, wo Sie doch zunächst genau diesen Eindruck hatten?«
»Ich habe seiner Erklärung geglaubt.«
»Sie bemerken, dass Ihr Sohn sich offensichtlich körperlich unwohl fühlt und lassen den Gedanken sofort wieder fallen. Stattdessen sagen Sie sich: Alles klar, kein Problem, er hat bloß Angst, seine Mutter könnte ihn bestrafen, weil er zu spät kommt – Sie schenken Ihrem ersten Eindruck ganz einfach deshalb keine Beachtung mehr, weil Sie der Erklärung Ihres Sohnes glauben. Ist das so richtig?«
»Die Frage wurde bereits beantwortet, Euer Ehren.«
»Diese Unterhaltung hat in Wahrheit gar nicht stattgefunden, nicht wahr, Mr. Danse? Ebenso wenig wie Ihre sogenannten ›Beobachtungen‹.«
»Einspruch. Mutmaßung.«
»Stattgegeben. Fahren Sie fort, Mr. Sansom.«
»Welcher Art war dieser Papierkram, den Sie an dem Tag in Ihrem Arbeitszimmer erledigt haben, Mr. Danse?«
Arthur zuckte mit den Achseln. »Rechnungen. Bestellungen. Versandpapiere. Das Übliche.«
»Und war diese Arbeit sehr … anspruchsvoll?«
Er lächelte. »Anspruchsvoll würde ich nicht gerade sagen. Eher belangloser Kram.«
»Aber Sie waren so sehr davon in Anspruch genommen, dass Sie nicht hörten, wie Robert von der Toilette kam. So viel Aufmerksamkeit erforderten diese langweiligen Rechnungen und Bestellungen also doch.«
»Natürlich war es langweilige Arbeit. Trotzdem muss man sich darauf konzentrieren.«
»Haben Sie die Toilettenspülung wahrgenommen? Wie das Wasser in den Abfluss rauschte? Wie die Tür auf-und wieder zuging?«
»Nein. Nicht bewusst.«
»Sie haben Hartholzdielen in Ihrem Haus, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hatte Robert Schuhe an?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Aber er ging durch Ihren Flur?«
»Ja.«
»Was liegt noch an diesem Flur?«
»Verzeihung?«
»Gibt es an diesem Flur noch andere Zimmer?«
»Eine Tür führt auf eine Veranda hinterm Haus, und wenn man in der anderen Richtung um die Ecke geht, kommt man ins Esszimmer und dahinter schließt sich die Küche an.«
»Sie wissen also gar nicht genau, ob er an dem Tag wirklich auf die Toilette gegangen ist, richtig? Sie haben nichts gehört und nichts gesehen. Er hätte demzufolge ebenso gut auf die Veranda, ins Esszimmer oder in die Küche gehen können.«
»Er war hibbelig.«
»Er war was?«
»Hibbelig. Er hat so auf der Stelle hin und her getrippelt. Sie wissen schon, so wie es Kinder eben tun, wenn sie auf die Toilette müssen.«
»Sie nehmen also an, dass er zur Toilette wollte, weil er hibbelig war.«
»Ja.«
»Bisher hatten Sie uns das noch nicht mitgeteilt.«
»Ich hatte es vergessen.«
»Ist es nicht vielmehr so, dass es sich hierbei um eine weitere Lüge handelt, Mr. Danse? Wie bei Ihrer Unterhaltung mit Robert im Auto und Ihren Beobachtungen während der Fahrt?«
»Ganz und gar nicht.«
»Hat Lydia Danse Ihnen vor diesem Zwischenfall jemals persönlich mitgeteilt oder sonst irgendwie Anlass zu der Vermutung gegeben, dass sie mit den Scheidungsvereinbarungen unzufrieden war?«
»Nein.«
»Weshalb sollte sie ihre Meinung geändert haben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ihnen ist doch bewusst, dass Meineid strafbar ist, Mr. Danse?«
»la.«
»Gut. Dann frage ich Sie jetzt noch einmal: Haben Sie Ihren Sohn, Robert Danse, an jenem oder an irgendeinem anderen Tag sexuell missbraucht?«
»Hören Sie …«
»Ja oder nein. Haben Sie?«
»Warum fragen Sie ihn nicht einfach selbst, wenn Sie mir nicht glauben? Fragen Sie Robert. Nein, ich habe so etwas nicht getan. Fragen Sie Robert.«
Wood bat um eine Unterredung. Die drei Rechtsanwälte traten vor die Richterbank. Lydia wusste nicht, worum es ging, doch die Aussprache zog sich eine Weile hin. Bis auf Burke schienen alle sehr erregt zu sein. Schließlich sprach er ein Machtwort, und alle drei wandten sich wieder dem Gerichtssaal zu.
Owen Sansom kehrte kopfschüttelnd an ihren Tisch zurück.
»Was? Was ist passiert?«, wollte Lydia wissen.
»Wir möchten noch einmal Lydia Danse in den Zeugenstand rufen, Euer Ehren«, sagte Wood in diesem Moment.
»Das ist passiert«, sagte Sansom. »Gehen Sie ihm ja nicht an die Gurgel, verstanden? Versuchen Sie, cool zu bleiben.«
Cool war nicht ganz das richtige Wort. Sie war innerlich wie erfroren. Sie konnte sich nachher kaum daran erinnern, wie sie den Weg bis zum Zeugenstand überwunden, dort Platz genommen hatte und schließlich daran erinnert worden war, dass sie noch immer unter Eid stand. Es war, als wäre irgendetwas in ihr eingerastet, als hätte sich ein Zahnrad verhakt und das ganze Getriebe wäre zum Stillstand gekommen.
Wood vergeudete keine Zeit.
»Sie haben bereits ausgesagt«, sagte er, »dass Sie nicht sicher sind, ob Sie sich einer Anordnung, die meinem Mandanten uneingeschränkten Umgang mit Robert gewähren würde, ohne weiteres fügen würden. Es geht in dem Zusammenhang um vollkommen gewöhnliche Umgangsrechte. Sie hatten inzwischen Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, und wir fragen uns, ob Sie Ihren Standpunkt in dieser Sache inzwischen geändert haben.«
»Meinen Standpunkt?«
»Ja.«
Sie war nicht dumm. Sie hörte sämtliche Alarmsirenen schrillen. Und sie wusste, worauf er hinauswollte. Sie konnte nur nicht fassen, dass Richter Burke ihn so offensichtlich damit durchkommen ließ.
Vorsicht, ermahnte sie sich. Es musste irgendeinen Ausweg aus dieser Zwickmühle geben.
»Mein Standpunkt ist, dass mein Exmann ein Vergewaltiger ist«, antwortete sie.
Wood machte ein entsetztes Gesicht. Er gab eine melodramatische Schmierenkomödie für den Richter zum Besten, aber sie erkannte, dass er ihr damit womöglich einen Ausweg wies. Vielleicht konnte sie ihn zur Abwechslung mal aus dem Konzept bringen.
»Gefällt Ihnen der Begriff nicht, Mr. Wood?«, fragte sie. »Vielleicht behagt es Ihnen mehr, wenn ich Arthur ›moralisch beeinträchtigt‹ nenne?«
»Das ist keine Antwort, Euer Ehren.«
»Beantworten Sie bitte die Frage, Mrs. Danse«, sagte Burke.
Es hatte nicht geklappt. Sie musste sich einen anderen Ausweg freikämpfen. Sie brauchte Zeit.
Denk nach.
»Es tut mir leid, Euer Ehren. Wie war die Frage nochmal?«
»Wie würden Sie zu uneingeschränktem Umgangsrecht für Arthur Danse stehen, falls das Gericht zu einer dementsprechenden Entscheidung gelangen sollte?«, wollte Wood wissen.
»Ich wäre der Auffassung, dass ihm dieses Recht nicht zusteht und dass das Gericht so etwas unter gar keinen Umständen zulassen sollte.«
»Und wenn das doch der Fall sein sollte, Mrs. Danse?«
»Ich glaube nicht, dass es so weit kommt, Mr. Wood.«
»Und wenn doch?«
»Mr. Wood bedrängt die Zeugin, Euer Ehren!«, rief Sansom.
»Einspruch abgewiesen. Die Zeugin soll bitte antworten.«
Reiß dich zusammen, dachte sie. Du musst ihm die Kontrolle entreißen. Du musst ihm das Heft aus der Hand nehmen. Nur einmal noch. Sie kochte innerlich vor Wut, stand kurz vor der Explosion. Mach es dir zunutze, aber reiß dich zusammen. Lass den Hurensohn bloß nicht damit durchkommen.
»Sie fragen mich, Mr. Wood«, sagte sie, »ob ich eine Anordnung akzeptieren könnte, die einem Kinderschänder und Vergewaltiger uneingeschränkten Zugriff auf einen acht Jahre alten Jungen geben würde, der zufällig auch noch mein eigener Sohn ist, richtig? Ich verstehe das nicht. Aus welchem Grund sollten Sie so etwas tun?«
Er lächelte, als wollte er gar nicht schlecht sagen, reagierte jedoch sofort, indem er dramatisch seufzte.
»Mrs. Danse, Ihr Exmann, mein Mandant, ist erst dann ein Vergewaltiger, wenn das Gericht feststellt, dass er ein Vergewaltiger ist. Sind Sie darüber nicht von Anfang an umfassend in Kenntnis gesetzt worden?«
»Schon. Aber die sexuellen Vorlieben Ihres Mandanten müssten Ihnen doch mittlerweile bekannt sein, oder etwa nicht?«
Wood wandte sich beschwörend und mit weit ausgebreiteten Armen der Richterbank zu. »Euer Ehren …«
Burke beugte sich zu ihr hinunter.
»Mrs. Danse«, sagte er, »es geht hier einzig und allein um die Frage, ob Sie Recht und Gesetz achten oder nicht. Mr. Wood versucht festzustellen, ob Sie als Bürgerin dieses Bezirks und dieses Bundesstaates gewillt sind, sich an seine Gesetze zu halten, was auch immer Ihnen diese Gesetze auferlegen. Es geht momentan nicht um die Frage, was Mr. Danse Ihrem Sohn angetan hat oder nicht. Auch nicht um seine Schuld oder Unschuld. Es geht allein um diese eine Frage. Daher verlange ich von Ihnen, dass Sie Mr. Woods Frage jetzt mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten: Würden Sie sich jedem Urteil fügen, zu dem dieses Gericht in dieser Angelegenheit möglicherweise gelangt, wie auch immer dieses Urteil am Ende ausfallen könnte?«
Du wirst jetzt nicht zu schreien anfangen, dachte sie – auch wenn Sie aus Frustration kurz davorstand. Und du wirst auch nicht zu heulen anfangen. Sie sah Owen Sansom an. Sie fand, dass sie noch nie einen derart erschöpften Mann gesehen hatte, und bestimmt auch noch nie einen Rechtsanwalt von so trauriger Gestalt.
Dann sah sie Andrea Stone an. Ihre Augen wirkten zugleich hart und wütend und mitfühlend – wütend über die Ungerechtigkeit und mitfühlend angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Lage.
Sie straffte sich.
Wenn sie das hier vermasselte, wenn sie am Ende verloren, musste sie eben eine andere Lösung finden.
»Nicht, wenn Robert dabei zu Schaden kommt«, sagte sie. Ihre Stimme war klar und ungebrochen.
»Nein, Euer Ehren. Nicht, wenn mein Sohn dabei zu Schaden kommt.«