22
Die Verhandlung: zweiter Tag

Während sie Andrea Stone im Gerichtssaal gegenübersaß und auf Owen Sansom wartete, versuchte sie, die Zeitung zu lesen. Sie hatte schon seit Tagen keinen Blick in die Zeitung geworfen, dennoch konnte sie sich momentan nicht richtig konzentrieren. Die einzelnen Artikel wirkten auf sie konfus wie ein Traum. Sie flossen ineinander, ohne dass irgendetwas irgendeinen Sinn ergab.

Ein Bericht erregte aber ihre Aufmerksamkeit: In New York war eine siebenundzwanzigjährige Frau aus einem Vorort verhaftet worden, weil sie ihre Kinder unbeaufsichtigt allein zu Hause gelassen hatte, um sich in einem Nachbarort zu prostituieren. Die Frau war vor über einem Jahr von ihrem Ehemann – einem Rechtsanwalt – sitzengelassen worden und hatte seitdem keine Unterhaltszahlungen von ihm erhalten. Da sie keine Ausbildung besaß, hatte sie keine Arbeit gefunden. Ihre beiden Söhne – sieben und neun – waren nach der Verhaftung in Kinderheimen untergebracht worden. Die Frau gab an, dass sie der Prostitution nur nachgegangen sei, um für die beiden sorgen zu können.

Lydia dachte darüber nach, wie schrecklich es sein musste, wenn man so verzweifelt war, dass man keinen anderen Ausweg mehr sah. Diese Frau hatte, falls ihre Geschichte stimmte, so tief in der Klemme gesteckt, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen war, Verantwortung und Verantwortungslosigkeit voneinander zu unterscheiden.

Der Zeitungsbericht beunruhigte sie.

»Wo bleibt er denn? Wo bleibt Owen?«

Andrea Stone stand vor ihr.

Lydia konnte ihr Parfum riechen: Georgio. Sie trug ein dunkelblaues, maßgeschneidertes Kostüm, dazu eine weiße Bluse und eine schlichte Perlenkette. Sie wirkte aufgedreht und nervös.

Lydia legte die Zeitung beiseite.

»Keine Ahnung«, antwortete sie.

»Burke kann jede Minute hier sein.«

Lydia sah auf die Uhr. Zehn nach neun.

Wo zum Teufel steckte er bloß?

Andrea Stone drehte sich abrupt um und eilte an ihren Tisch zurück.

»Der Ehrenwerte Thomas J. Burke. Erheben Sie sich.«

Während Burke noch auf die Richterbank zuging, flogen die Türflügel hinter Lydia auf und Sansom kam durch den Mittelgang gehetzt.

Die Tatsache, dass er zu spät kam, entging Burke keineswegs, aber er enthielt sich eines Kommentars.

Sansom sah fürchterlich aus.

Obwohl er nicht in seinem Anzug geschlafen hatte, sah er dennoch verdächtig danach aus. Die Krawatte war zerknittert, der Hemdkragen hätte dringend gebügelt werden müssen. Und auf seinen Brillengläsern waren wieder einmal Schlieren zu erkennen.

Sie warf Edward Wood, der neben Arthur stand, einen Seitenblick zu.

Der Unterschied zwischen den beiden Männern gefiel ihr überhaupt nicht.

»Geht es Ihnen gut?«, flüsterte sie.

Er nickte. »Bin spät weggekommen«, erklärte er. »Tut mir leid, wenn Sie sich meinetwegen Sorgen gemacht haben.«

Ich mache mir immernoch Sorgen, dachte sie.

»Nehmen Sie Ihre Plätze ein«, sagte Richter Burke, und der Tag begann.

 

Bromberg fühlte sich offensichtlich nicht wohl in seiner Haut, er rutschte auf seinem Stuhl herum und nahm immer wieder einen Schluck Wasser, während Sansom ihn zu Roberts Symptomen befragte: seiner Schüchternheit, seinem Stottern, seiner Ungeschicklichkeit, seiner Inkontinenz, seinen Alpträumen.

»Sind diese Symptome bei Kindesmissbrauch üblich, Doktor?«

»Das Stottern ist in Roberts Alter ein wenig ungewöhnlich. Davon abgesehen würde ich sagen: ja.«

Er ließ ihn seine Behandlungsmethode erläutern – die »Spieltherapie«, mit deren Hilfe Robert sich öffnen sollte.

»Würden Sie sagen, dass er gut oder schlecht darauf anspricht?«

Bromberg lächelte. »Nicht allzu gut, muss ich leider sagen.«

»Verschließt er sich vor Ihnen?«

»Meistens, ja.«

»Und passt das, Ihrer Auffassung nach, zu einem Kind, das … das … das sexuell missbraucht wurde?«

»Ja. Missbrauchte Kinder sind häufig verschlossen und halten Informationen zurück, vor allem vor Erwachsenen.«

»Doktor, ist es auf der Grundlage Ihrer Erfahrungen mit Robert wahrscheinlich, dass er missbraucht wurde?«

»Wahrscheinlich?«

»Ja. Oder könnten diese Symptome auch auf etwas anderes zurückzuführen sein? Auf die Scheidung der Eltern zum Beispiel?«

Sie begriff, was er vorhatte. Er wollte Wood mit dieser Frage den Wind aus den Segeln nehmen.

Bromberg dachte darüber nach.

»Nein, dieser Meinung bin ich nicht … Verstehen Sie, bei dieser sogenannten Ungeschicklichkeit handelt es sich nicht um Ungeschicklichkeit im eigentlichen Sinn. Der Junge fügt sich selbst Schaden zu – und zwar regelmäßig. Das ist für mich der deutlichste Hinweis darauf, dass ihm auch jemand anderes Schaden zufügt. Das und die Inkontinenz selbstverständlich.«

»Sie halten den Missbrauch demnach für wahrscheinlich?«

»Ja.«

Wood brachte während des Kreuzverhörs dasselbe Thema zur Sprache – wobei er zunächst, soweit Lydia erkennen konnte, einfach ins Blaue zu fragen schien. Bromberg wirkte jetzt viel entspannter, so dass sie sich fragen musste, in welchem Umfang die beiden Männer sich schon im Vorfeld der Verhandlung abgesprochen hatten.

Die Antwort auf diese Frage fiel deutlich aus.

»Ihre Schlussfolgerung lautet also, dass Robert sexuell missbraucht wurde?«

»Ja.«

»Sind Sie darüber hinaus zweifelsfrei zu dem Schluss gelangt, dass der Vater der Täter ist?«

»Nein, zu dem Schluss bin ich nicht gelangt. Nicht zwangsläufig.«

»Könnte demzufolge mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit seine Mutter den Missbrauch verübt haben? Haben Sie Mrs. Danse nicht sogar persönlich mitgeteilt, dass Sie sie keineswegs aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen?«

»Ich habe diese Möglichkeit angedeutet, ja.«

»Was genau haben Sie gesagt?«

»Ich sagte, dass ich schon seit einiger Zeit den Verdacht hegen würde, dass Robert missbraucht wird. Sie wollte wissen, warum ich ihr nichts davon gesagt hätte. Daraufhin erklärte ich ihr, dass man einen derartigen Verdacht nicht leichtfertig in den Raum stellen darf. Insbesondere deshalb nicht, da Fälle bekannt geworden sind, in denen der betreffende Elternteil mit seinem Kind unter einem Vorwand einen Therapeuten besuchte, um zu verschleiern, dass er oder sie sich des Missbrauchs schuldig gemacht hat – oder sogar aus dem womöglich unbewussten Wunsch, sich zu stellen.«

»Und wie hat sie darauf reagiert?«

»Sie war … ziemlich aufgebracht.«

»Woher wussten Sie, dass sie aufgebracht war?«

Er lächelte. »Dazu musste man sie nur ansehen, Mr. Wood. Oder ihr zuhören.«

»Hat sie sich Ihnen gegenüber feindselig verhalten?«

»Sie war ziemlich schroff, ja. Und sarkastisch, würde ich sagen.«

Lydia bemerkte, wie Andrea Stone, die auf der anderen Seite des Mittelgangs saß, sich Owen Sansom zuwandte. Sie wirkte sichtlich irritiert. Lydia fand, dass sie dazu auch allen Grund hatte.

»Sollten Sie dagegen nicht lieber Einspruch erheben?«, fragte sie. »Ich meine, das sind doch alles nur unzulässige Mutmaßungen, oder nicht?«

Er winkte ab und fuhr fort, irgendetwas in sein Notizbuch zu kritzeln. »Das hat nichts zu bedeuten«, meinte er.

Langsam machte er ihr Angst.

»Eine Frage noch, Doktor Bromberg. Haben Sie Mrs. Danse inzwischen als Schuldige ausgeschlossen?«

»Wie könnte ich? Der Junge sagt ja nichts.«

»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«

Sie sah Sansom an.

»Keine Fragen an den Zeugen, Euer Ehren«, sagte er.

Nein, dachte sie. Steh auf! Um Himmels willen, tu doch was!

Sansom schrieb weiter.

Was zur Hölle war nur los mit ihm?

Geriet sie in Panik? Sie hatte mit einem Mal das Gefühl, als stünde ihr das Wasser bis zum Hals. Bromberg hatte dem Gericht gerade mitgeteilt, dass sie womöglich diejenige sein könnte, die Robert das angetan hatte – eine ebenso ungeheuerliche wie furchteinflößende Lüge.

Sie bemerkte einen Anflug von Missbilligung auf Andrea Stones Gesicht, als diese sich erneut nach ihnen umsah und aufstand.

»Doktor«, begann sie, »haben Sie irgendeinen Grund, ernsthaft davon auszugehen, dass Mrs. Danse die Kinderschänderin ist?«

»Einspruch.«

»Ich lasse die Frage zu. Einspruch abgewiesen.«

»Nein, ich habe keinen Grund für diese Annahme.«

»Halten Sie es für wahrscheinlich?«

»Man kann nie wissen. Solange der Junge nichts sagt.«

»Aber halten Sie es für wahrscheinlich, Doktor?«

»Eigentlich nicht. Nein, das bezweifle ich.«

»Und was ihre Reaktion angeht: Finden Sie nicht, dass sich der Zorn einer besorgten Mutter auf eine solche Anschuldigung im Rahmen dessen bewegt, was Sie unter den gegebenen Umständen als vollkommen normal bezeichnen würden?«

»Vermutlich ja.«

»Das denke ich auch. Danke, Doktor.«

 

»Wir rufen Lydia Danse in den Zeugenstand, Euer Ehren.« Zwar hatte sie von vornherein gewusst, dass sie sich dieser Sache würde stellen müssen, aber diese Gewissheit machte es jetzt keineswegs leichter für sie. Sie hatte bisher noch nichts Vergleichbares durchgemacht. Beide Scheidungen waren verhältnismäßig problemlos und ohne größere Streitigkeiten über die Bühne gegangen. Doch als sie jetzt in den Zeugenstand trat, hatte sie ein komisches Gefühl in der Magengegend, ihre Hände zitterten und ihr Mund war trocken und sie hatte einen säuerlichen Geschmack auf der Zunge. Sie bat um ein Glas Wasser und trank es in einem Zug aus.

Sie entspannte sich ein wenig, als sie den Eindruck gewann, dass Owen die Lage mehr oder weniger wieder unter Kontrolle hatte und sie vorsichtig und einfühlsam nach Roberts Symptomen im Allgemeinen und seinem Benehmen bis zu dem Abend fragte, an dem Arthur ihn schmutzig und wund nach Hause zurückgebracht hatte. Dabei blickte er immer wieder in sein Notizbuch. Er verwandte viel Zeit auf die ehemals rätselhafte Körperhaltung, bei der Robert die Knie an die Brust drückte, forderte sie auf, diese Haltung in allen Einzelheiten zu schildern und zu schätzen, wie häufig er diese Stellung eingenommen hatte, und machte schließlich – trotz Woods Einspruch – deutlich, was sie zu bedeuten hatte.

»Sie kannten diese Stellung bereits, nicht wahr, Mrs. Danse?«

»Ja.«

»Hatten Sie persönliche Erfahrungen damit?«

»Ja.«

»Was für Erfahrungen waren das?«

»Es war Arthurs Lieblingsstellung. Beim Sex.«

Sie spürte, dass sie rot wurde.

»Analsex?«

»Ja.«

Er fragte sie nach dem Abend, an dem sie es herausgefunden hatte. An dem sie zuerst mit Robert zu Cindy und anschließend in die Bar gefahren war, um Arthur damit zu konfrontieren. Und dann nach dem darauffolgenden Tag, als sie mit Robert zu Bromberg und Hessler gegangen war. Sie fing an zu weinen, als sie davon berichtete, wie sie Robert an jenem Abend saubergemacht hatte und sie sich an ihr ohnmächtiges Mitleid mit ihm erinnerte. Doch davon abgesehen hatte sie den Eindruck, die Befragung einigermaßen gefasst hinter sich gebracht zu haben.

Dann stand Wood auf, lächelte und ging zum Zeugenstand hinüber.

»Sie waren an dem Abend doch sicher wütend auf Ihren Mann, Mrs. Danse?«

»Ja.«

»Fuchsteufelswild?«

»Vermutlich schon.«

»Würden Sie sagen, Sie waren hysterisch?«

»Nein. Wütend.«

»Und Sie haben ihm unmissverständlich klargemacht, wie wütend Sie waren?«

»Ja, hab ich.«

»Vor aller Augen. In seinem Lokal.«

»Ja.«

»In Hörweite der Gäste?«

»Darauf habe ich nicht geachtet, Mr. Wood.«

»Verständlich. Sie waren ja, wie Sie sagten, fuchsteufelswild.«

»Einspruch.« Diesmal nicht von Owen, sondern von Andrea Stone.

Richter Burke schien darüber verärgert zu sein.

»Miss Stone«, sagte er, »Sie sind nicht Mrs. Danses, sondern Roberts Rechtsbeistand. Bitte behalten Sie das in Erinnerung, ja?«

»Ich erhebe Einspruch, Euer Ehren«, warf Sansom ein.

»Also schön. Einspruch stattgegeben. Bitte fahren Sie fort, Mr. Wood.«

»Sie fanden demnach nichts dabei, ihm eine Szene zu machen?«

»Sie haben meinen Sohn nicht gesehen, Mr. Wood. Wenn Sie ihn gesehen hätten, wäre Ihnen klar, dass es zu diesem Zeitpunkt meine geringste Sorge war, ob ich ihm eine Szene mache oder nicht.«

»Sie fanden also nichts dabei, Ihren Mann dort, wo er seinen Lebensunterhalt verdient, vor seinen Gästen, womöglich sogar vor Freunden und Geschäftspartnern eines furchtbaren, verabscheuungswürdigen Verbrechens zu beschuldigen?«

»Er hat meinen Sohn vergewaltigt, Mr. Wood!«

Wieder lächelte er. »Um das festzustellen, sind wir hier, nicht wahr? Haben Sie sehr laut gesprochen?«

»Mit Arthur?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht mehr. Wahrscheinlich schon.«

»So laut, dass andere Sie problemlos hören konnten?«

»Vermutlich.«

Er legte eine Pause ein, in der er in seine Notizen blickte.

»Wissen Sie noch, ob Sie bei der Gelegenheit zu ihm gesagt haben, dass Sie ihm zukünftig sein Umgangsrecht verwehren würden?«

»Ich erinnere mich, dass ich sagte, dass er Robert nie wieder allein zu Gesicht bekommen würde, jedenfalls nicht, wenn ich es verhindern kann. Und dass er, wenn er auf dem Umgangsrecht besteht, Robert zukünftig nur noch in meiner Gegenwart sehen könnte.«

»Was zu diesem Zeitpunkt nicht den gesetzlichen Regelungen entsprach, richtig?«

»Richtig.«

»Waren Sie sich darüber im Klaren, dass Sie gegen das Gesetz verstoßen haben, indem Sie ihm das Umgangsrecht verwehrten?«

»Verzeihung?«

»Waren Sie sich darüber im Klaren, dass Sie, indem Sie Ihrem Mann, ohne Gerichtsbeschluss oder zumindest einer Benachrichtigung des Jugendamtes, den Kontakt zu seinem Sohn verwehren, gegen das Gesetz verstoßen?«

»Es gab doch eine Benachrichtigung. Am Tag darauf.«

»Aber nicht zu besagtem Zeitpunkt. Nicht zu dem Zeitpunkt, als Sie Ihrem Mann sagten, er würde seinen Sohn, wenn Sie es verhindern könnten, nie wieder alleine sehen. Sehe ich das richtig?«

»Ja, nur …«

»Sind Sie gewillt, sich dem Urteil dieses Gerichts zu fügen, Mrs. Danse?«

»Natürlich.«

»Auch dann, wenn das Gericht entscheidet, dass Ihr Mann seinen Sohn wie gehabt sehen darf? Allein und unbeaufsichtigt?«

»Das ist unmöglich.«

»Das ist sehr wohl möglich, Mrs. Danse. Diese Verhandlung ist noch nicht geschlossen. Alles ist möglich.«

»Wie könnten Sie … wie könnte irgendjemand das bei einem Mann zulassen, der sein Kind missbraucht hat?«

»Noch einmal: Das ist nicht bewiesen. Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt: Können Sie sich der Entscheidung dieses Gerichts fügen, selbst wenn diese Entscheidung darauf hinausliefe, dass die Umgangsregelung zu den bei Ihrer Scheidung festgelegten Bedingungen beibehalten würde? Antworten Sie bitte mit ja oder nein.«

Sie spürte, dass sie in der Falle saß. Ihr war schwindlig, sie verlor die Kontrolle über ihre Angst und ihren Zorn. Sie begriff, was dieser Bastard ihr antun wollte, sah aber keine Möglichkeit, ihn davon abzuhalten. Was war mit Sansom?

 

Wieso half ihr niemand?

»Soll ich die Frage wiederholen, Mrs. Danse?«

»Dieser Mann wird meinem Sohn nie wieder wehtun, Mr. Wood!«

In diesem Moment sah sie Arthur zum ersten Mal, seit er aus seinem Auto heraus mit einer Waffe auf sie gezielt hatte, unverholen in die Augen. Doch in diesem Augenblick war er nicht derselbe Mann. Der Mann, den sie nun sah, war friedlich, still, gelassen. Es war nicht zu glauben. »Heißt das, Sie würden sich dem Urteil nicht fügen?«

»Wie können Sie mich so etwas fragen? Haben Sie selbst Kinder? Was für ein Mensch sind Sie eigentlich?«

»Mrs. Danse«, warf Burke ein, »ich fordere Sie auf, Mr. Woods Frage zu beantworten. Antworten Sie mit einem einfachen Ja oder Nein. Sind Sie bereit, jedweder Anordnung des Gerichts Folge zu leisten, wie sehr Ihnen diese auch persönlich widerstreben mag, oder sind Sie nicht dazu bereit?«

Plötzlich sah sie einen Ausweg. Eine Möglichkeit.

Sie begab sich auf denkbar dünnes Eis.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie.

»Sie wissen es nicht?«, fragte Burke.

»Die Frage ist damit beantwortet, Euer Ehren«, warf Andrea Stone ein, aber Burke schenkte ihr keine Beachtung.

»Ihnen ist bewusst, dass Ihre Antwort gefährlich nah an Missachtung des Gerichts grenzt.«

»Es tut mir leid, Euer Ehren«, sagte sie. »Nichts läge mir ferner, als dieses Gericht zu missachten. Ich hoffe nur, Sie werden feststellen, dass … alle Beteiligten an diesem Fall auch das Richtige tun. Und ich bete zu Gott, dass ich diese Entscheidung nicht treffen muss. Niemals.«

Der Richter musterte sie. Mach jetzt bloß keinen Rückzieher, dachte sie. Leg dich aber auch auf keinen Fall mit ihm an. Sieh ihm in die Augen. Sei vorsichtig.

Burke seufzte. »Also gut, Mrs. Danse. Wir wollen zu diesem Zeitpunkt nicht weiter auf dieser Sache beharren. Fahren Sie fort, Mr. Wood.«

Wood schien zu glauben, dass dieser Punkt an ihn gegangen war. Sie war sich da nicht so sicher. Burke war schwer zu durchschauen.

»Diese Stellung, die Ihnen so bedeutsam erschien – hat Ihr Mann Sie jemals dazu gezwungen, Mrs. Danse?«

»Meinen Sie, mit Gewalt?«

»Ja.«

»Nein. Nicht mit Gewalt.«

»Demnach hat er Sie also nie vergewaltigt?«

»Nein.«

»Dennoch glauben Sie, dass er Ihren Sohn vergewaltigt hat. Dass er ihn zu ebenjener Stellung gezwungen hat.«

»Ja, das glaube ich.«

»Weil Ihr Sohn diese oder eine ähnliche Stellung regelmäßig eingenommen hat?«

»Ja.«

»Woher wissen Sie, dass er dabei nicht bloß etwas nachmachte, was er beobachtet hat?«

»Wie bitte?«

»Woher wissen Sie, dass Ihr Sohn nicht bloß eine Stellung nachmachte, die er beobachtet hatte, wenn Sie und Mr. Danse miteinander geschlafen haben?«

»Robert hat uns nie beim Sex beobachtet.«

»Nie? Soweit Sie wissen, wollten Sie wohl sagen.«

»Nie wollte ich sagen.«

»Wieso sind Sie sich da so sicher?«

»Weil ich das mit Sicherheit wüsste.«

»Sie halten sich gewiss für eine gute Mutter, nicht wahr?«

»Ja, allerdings«, antwortete sie.

»Dann nehmen Sie sicher auch Rücksicht auf Roberts Gefühle, oder?«

»Ich denke schon. Ja.«

»Wie steht es mit Roberts Gefühlen am Tag nach … dem von Ihnen geschilderten Zwischenfall?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

Wood zog eine Schau ab, stieß einen Seufzer aus und maß mit großen Schritten den Boden, wie ein Mann, der allmählich die Geduld mit einem aufsässigen, ungezogenen Kind verliert.

»Aber bitte, Mrs. Danse. Sie zerren ihn mitten in der Nacht aus dem Haus, laden ihn irgendwo ab, während Sie losziehen und sich in aller Öffentlichkeit mit Ihrem Mann herumstreiten, und am nächsten Morgen packen Sie ihn ins Auto und klappern diverse Arztpraxen ab, bringen ihn zu einem Proktologen, den er noch nie gesehen hat, fahren ihn außer der Reihe zu seinem Psychotherapeuten, und alle bedrängen ihn mit Fragen nach dem Verhältnis zu seinem Vater. Und noch am selben Abend löchert Miss Stone hier den Jungen mit noch mehr Fragen. So geht das den ganzen Tag! Hat das alles für Sie irgendwas mit Rücksicht auf seine Gefühle zu tun, Mrs. Danse? Finden Sie nicht auch, dass dieser Tag ein bisschen zu aufregend für ihn war?«

»Natürlich war das ein aufregender Tag. Aber es ging nicht anders. Wie sonst hätte ich …?«

»Es ging nicht anders? Sie konnten also nicht ein oder zwei Tage warten, bis sich die Lage für den Jungen nach diesem angeblichen Zwischenfall wieder normalisiert hatte? Mussten Sie ihm all das auf der Stelle zumuten?«

»Ich tat das auf den Rat meines Rechtsanwalts. Um es möglichst schnell hinter mich zu bringen.«

»Und Sie wollten es doch schnell hinter sich bringen, oder etwa nicht? Sie persönlich wollten es hinter sich bringen.«

»Ich hielt es für das Beste.«

»Also lautet die Antwort: ja?«

»Ja, ich hielt es für das Beste, es schnell hinter mich zu bringen.«

Wood seufzte erneut und schüttelte den Kopf.

»Hat Robert geweint, als er aus Doktor Hesslers Praxis kam?«

»Ein bisschen. Aber nicht lange. Ein paar Minuten.«

»Und als er von Doktor Bromberg kam?«

»Da nicht.«

»Und an dem Abend? Nach der Befragung durch Miss Stone?«

Sie sah Andrea Stone an. Sie konnte unmöglich lügen. Nicht in ihrer Anwesenheit.

»Kann sein, dass er während der Befragung geweint hat, ich weiß es nicht. Ich glaube schon. Aber nicht danach. Nicht, als ich ihn ins Bett gebracht habe.«

»Das war demnach ein langer Tag, an dem eine Befragung auf die nächste folgte. Robert musste also im Grunde einen furchtbar aufwühlenden Spießrutenlauf durchstehen, nicht wahr?«

»Einspruch.«

Endlich unternahm Owen Sansom etwas. Allerdings wollte sie auf diese Frage antworten. Denn wie konnte man diesen Tag mit dem vergleichen, den er zuvor mit seinem Vater durchgemacht hatte? Wie konnte man das, was sie ihm zugemutet hatte, mit dem vergleichen, was Arthur ihm an jenem Tag und in der ganzen Zeit davor angetan hatte? Das ging nicht und war nicht fair.

»Stattgegeben«, sagte der Richter.

»Ist es nicht so, dass Sie das hier persönlich nehmen, Mrs. Danse? Hätten Sie ohne den Rat Ihres Rechtsbeistands nicht genauso gehandelt?«

»Ich weiß nicht, was Sie mit persönlich meinen. Aber wahrscheinlich wäre ich selbst nicht großartig anders vorgegangen.«

»Auch was den Proktologen angeht?«

»Ich bin gelernte Krankenschwester, Mr. Wood. Wahrscheinlich hätte ich auch daran gedacht, ja.«

»Ein Proktologe. Dessen Untersuchung Ihren Sohn anschließend zum Weinen gebracht hat.«

»Ja, Mr. Wood. Doktor Hessler war sehr nett zu Robert. Sehr freundlich. Aber wie ich schon sagte, das ließ sich angesichts der Situation nicht vermeiden. Nichts von alldem war besonders angenehm.«

»Und wenn ich Ihnen nun sagte, dass es sich durchaus hätte vermeiden lassen, Mrs. Danse, dass das Verhalten, mit dem wir es hier zu tun haben, das Verhalten einer wütenden, rachsüchtigen, möglicherweise hysterischen Frau war, die sich nicht die Zeit nahm oder auch nur daran dachte, Rücksicht auf die Gefühle ihres Jungen zu nehmen, die zu keinem Zeitpunkt …«

»Einspruch!«, rief Andrea Stone. Ein Bleistift landete klappernd auf ihrem Tisch.

»Einspruch«, sagte auch Sansom.

Besser spät als nie, dachte Lydia.

Burke gab dem doppelten Einspruch statt.

»Gegenwärtig keine weiteren Fragen an die Zeugin«, schloss Wood.

»Wir beantragen eine Unterbrechung«, sagte Sansom.

 

Die Verhandlung wurde über die Mittagszeit ausgesetzt und Lydia und Sansom gingen zwei Blocks weiter in ein kleines Familienrestaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Tag in New Hampshire war wunderschön, in der Luft lag der erste Hauch des Frühlings. Jeder Atemzug knisterte noch kühl in den Lungen, doch die Sonne schien bereits so warm und hell, dass Lydia im Gehen ihren Mantel auszog und über den Arm legte. Nach der abgestandenen, überhitzten Luft im Gerichtssaal war die frische Brise einfach großartig.

Sie bestellten Eier und Kaffee.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Was meinen Sie?«

»Mit Ihnen. Owen, was zur Hölle ist mit Ihnen los?«

Sein Lächeln wirkte gequält. Er rührte langsam seinen Kaffee um. »Ich schätze, ich war gerade eben nicht gerade hundertprozentig bei der Sache.«

»Hundertprozentig?«

»Aber ich glaube nicht, dass das zu Ihrem Nachteil war.«

»Das hat sich für mich gerade aber ganz anders angefühlt, Owen. Ich hatte den Eindruck, dass Wood mich ganz schön herumschubst. Gütiger Gott, er hatte mich fast so weit, dass ich zugegeben hätte, Arthur den Jungen auch dann nicht sehen zu lassen, wenn ich dafür in den Knast gehe, um Himmels willen!«

»Dagegen konnte ich nichts tun. Wirklich. Das waren alles zulässige Fragen.«

Er schien zusammenzusacken, als müsse er sich plötzlich etwas eingestehen, das er lieber weiter unter den Teppich gekehrt hätte.

»Hören Sie«, begann er. »Es tut mir aufrichtig leid.«

Sie glaubte ihm, obwohl es nur ein schwacher Trost für sie war. Er starrte in seinen Kaffee.

»Sie wissen nichts über mich«, sagte er dann. »Und normalerweise soll es ja auch so sein.«

Sie wartete, dass er weitersprach.

»Meine Frau wurde vor anderthalb Wochen mit einem Darmverschluss ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert. Wir dachten zuerst, es wäre nichts Schlimmes. Aber dann hatte sie auf einmal Flüssigkeit … in beiden Lungenflügeln …«

»Großer Gott. Darmdurchbruch.«

»Ja. Darmdurchbruch. Den Begriff haben die Schwestern auch verwandt. Irgendwer hat da Mist gebaut. Sie war nur drei Minuten nicht an die Rettungssysteme angeschlossen, aber es hat ausgereicht, dass sie ins Koma fiel. Sie war fast eine Woche lang bewusstlos und hatte die ganze Zeit über vierzig Fieber. Als sie Samstag endlich wieder zu sich kam, hatte das Fieber … ihr Verstand ist seitdem …« Er schüttelte den Kopf. »Scheiße. Ich war seitdem jede Nacht im Krankenhaus. Ich sitze da und rede mit ihr, versuche sie dazu zu bringen, dass sie sich an die kleinsten Kleinigkeiten erinnert. Wie man mit Messer und Gabel isst. Oder ein Kartenspiel mischt. Ich glaube, sie weiß nicht mal, wer da vor ihr sitzt. Ich zeige ihr Bilder von ihren Eltern und ihren Geschwistern. Aber ich glaube nicht, dass sie irgendjemanden erkennt.«

Er schob die Kaffeetasse über den Tisch und sah sie an.

»Ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Es tut mir wirklich leid. Ich muss da drin mehr für Sie und Robert tun, und das werde ich auch. Es ist nur sehr schwer, nicht ständig daran zu denken, wissen Sie? Es einfach auszublenden.«

»Ich verstehe.«

Sie legte intuitiv ihre Hand auf seine, ließ sie einen Moment dort liegen, wobei sie spürte, wie warm sich ihre Handfläche auf seinem kühlen Handrücken anfühlte. Sie zog die Hand wieder zurück. Dann kam ihr Essen.

Sie konnte ihn jetzt unmöglich ersetzen. Dazu hatte sie keine Zeit. Beide wussten es. Sie musste sich darauf verlassen, dass er auch tun würde würde, was er ihr eben versprochen hatte: dass er sein Privatleben verdrängen und für sie einstehen würde. Das war zwar nicht fair, aber sie waren nun einmal aneinander gebunden.

Sie aßen schweigend.

 

Arthurs Barmann Jake Whalen fungierte als Eröffnungszeuge.

Er hatte einen neuen Haarschnitt, der ihrer Meinung nach zu kurz ausgefallen war, und trug einen nagelneuen Anzug. Wahrscheinlich hatte Arthur den für ihn ausgesucht. Jake war ein gut aussehender Bursche und hatte Erfolg bei Frauen, aber er besaß kein besonderes Gespür für Mode.

Und er schien sich hier überhaupt nicht wohl zu fühlen.

Sie war immer gut mit Jake ausgekommen, und sie hielt ihn, ungeachtet seiner gelegentlichen anzüglichen Seitenblicke, für einen anständigen Kerl. Vermutlich war das der Grund für sein Unbehagen. Er war hier, weil Arthur es so wollte, aber deshalb musste ihm das noch lange nicht gefallen.

Wood fragte Namen, Beruf und Anschrift ab und brachte sofort den Abend zur Sprache, an dem Lydia in die Bar gestürmt war.

»Hat sie mit Ihnen gesprochen?«

»Nein.«

»Mit irgendjemandem sonst?«

»Nein. Nur mit Mr. Danse.«

»Hat sie laut gesprochen? So laut, dass Sie hören konnten, was sie sagte?«

»Ich habe ein bisschen was mitgekriegt.«

»Was genau haben Sie gehört?« ∙

»Wie sie ihn beschuldigte, ihrem Sohn Robert etwas angetan zu haben.«

»Was angetan?«

Er schien sich nun sehr unwohl zu fühlen. Er tat ihr fast ein bisschen leid.

»Erinnern Sie sich noch an den genauen Wortlaut, Jake?«

»Sie sagte, er hätte den Jungen in den Arsch gefickt.«

»In den Arsch gefickt? Und das hat sie laut gesagt?«

Jake nickte. »Ja. Ziemlich laut.«

»Und was hat er gesagt?«

»Er sagte, sie wäre wahnsinnig. Und dass er Robert niemals was getan hätte.«

»Und hat sie sich wie eine Wahnsinnige verhalten, Mr. Whalen?«

»Einspruch«, sagte Sansom. »Der Zeuge ist kein Psychoanalytiker.«

»Ich formuliere die Frage anders, Euer Ehren«, sagte Wood. »Wie würden Sie ihr Verhalten Mr. Danse gegenüber an besagtem Abend charakterisieren?«

»Sie war sauer. Echt stinksauer auf ihn.«

»Würden Sie sagen, dass sie jähzornig war?«

»Sie hat ihn nicht geschlagen oder so, wenn es das ist, was Sie meinen, aber ich schätze, sie sah schon irgendwie so aus, als würde sie ihm gern eine reinhauen.«

»Wo standen die beiden? Standen sie sich direkt gegenüber?«

»Sie standen ungefähr einen Meter von mir entfernt auf der anderen Seite des Tresens. Ja, sie standen sich direkt gegenüber. Also, ich meine, sie wäre ihm ja fast ins Gesicht gesprungen.«

»Schrie sie? Beschimpfte sie ihn?«

»Ja.«

»Was hat sie noch gesagt, Jake?«

»Ich weiß noch, dass sie sagte, sie würde Robert nie wieder allein mit ihm lassen. Dass sie nun immer dabei sein würde. Mr. Danse meinte, das könnte sie nicht machen. Darauf sagte sie so was wie: Das wirst du schon noch sehen. Dann hat Mr. Danse sie gefragt, ob Robert ihr erzählt hätte, dass er ihm etwas angetan hat.«

»Und was hat sie darauf geantwortet?«

»Sie hat gesagt, das müsste er gar nicht. Weil sie sowieso Bescheid wüsste.«

»Sie hat also nicht ausdrücklich gesagt, dass Robert ihr irgendetwas erzählt habe?«

»Soviel ich weiß, nicht.«

»Jake, mögen Sie Lydia Danse?«

»Klar.«

»Sie sind demnach nicht hier, um ihr irgendwie persönlich zu schaden, nicht wahr? Will sagen, Sie haben selbst keinerlei Probleme mit ihr, oder? Sie hegen keinen Groll? Sie hat Sie nicht schlecht behandelt?«

»Nein, ich habe Mrs. Danse immer für eine nette Frau gehalten.«

»Danke, Mr. Whalen.«

Sansom stand auf und ging auf ihn zu.

»Mr. Whalen, Sie haben eben gesagt, dass Mrs. Danse ziemlich wütend war. War Mr. Danse ebenfalls wütend?«

»Zuerst nicht. Aber dann wurde er auch richtig wütend.«

»Haben Sie ihn sagen hören: Ich gehe mit dir vor Gericht, du Schlampe? Oder irgendwas in der Art?«

»Etwas in der Art, ja.«

»Und ist er ihr dabei, wie Sie sich ausgedrückt haben, auch beinahe ins Gesicht gesprungen?«

Jake lächelte. »Ich denke schon.«

»Sie haben also zwei Menschen gehört, die einander anbrüllten und beschimpften, richtig? Nicht nur einen?«

»Ja, richtig.«

 

Wood rief nach Jake Whalen jemanden in den Zeugenstand, den Lydia nur flüchtig kannte: Harold Milford, einen kleinen, untersetzten Mann, den sie hin und wieder in der Bar gesehen hatte. Milford verkaufte Aluminiumverkleidungen und hatte an dem Abend zufällig neben ihnen am Tresen gesessen. Wood ging mit ihm so ziemlich die gleichen Fragen durch wie zuvor mit Jake Whalen. Anfangs zumindest.

»Sie war total hysterisch«, sagte Milford.

Sansom erhob Einspruch. Der Mann war schließlich ebenfalls kein Arzt. Burke gab dem Einspruch statt.

»Haben Sie gehört, wie Mr. Danse auf ihre Anschuldigungen reagiert hat?«

»Hab ich.«

»Was hat er gesagt?«

»Er meinte, sie hätte sich das alles bloß ausgedacht, weil sie wegen der Scheidung sauer wäre. Dass Sie nur etwas sagen sollte, wenn sie mehr Geld wollte. Dann würde er ihr mehr geben.«

»Hat sie bestritten, dass sie wegen des Geldes gekommen war?«

»Nein.«

»Und hat sie Mr. Danse zu irgendeinem Zeitpunkt bedroht?«

»Jawohl. Ich habe gehört, wie sie sagte, sie bringt ihn verdammt nochmal um, wenn er Robert jemals wieder zu nahe kommt. Das waren ihre Worte. Dass er krank wäre und dass sie ihn umbringen würde, wenn er sich Robert jemals wieder nähert.« Er wandte sich der Richterbank zu. »Ich bitte um Verzeihung, Euer Ehren.«

»Schon gut, Mr. Milford.«

Owen Sansom warf Lydia einen Blick zu.

»Er lügt«, flüsterte sie. »Jesus, Owen, ich habe nie …«

»Okay.«

»Ihr Zeuge.«

Sansom erhob sich langsam und ging zu Milford. Einen Moment lang sah er ihn einfach nur an. Er wirkte dabei wie jemand, der in die Betrachtung eines Baumes vertieft ist und darüber nachdenkt, ob es sich lohnen würde, an ihm hochzuklettern. Lydia erstarrte auf ihrem Platz zur Salzsäule. Würde ihr diese Lüge schaden? Würde Owen Milfords Aussage widerlegen können? Sie dachte an ihr Gespräch beim Mittagessen zurück. Owen hatte sich seitdem wieder gefangen, aber sie spürte, dass er immer noch schwer angeschlagen war.

»Mr. Milford, Sie haben gesagt, Mrs. Danse habe nicht bestritten, dass Geld für sie eine Rolle spielt, richtig?«

»Ja.«

»Hat sie es denn bestätigt?«

»Nein.«

»Dann hat sie die Bemerkung über das Geld einfach ignoriert, richtig?«

»Ja, kann man so sagen.«

»Und Sie behaupten, Sie hätte gedroht, Mr. Danse umzubringen.«

»Ja.«

»Und Sie haben ganz in der Nähe am Tresen gesessen und alles mit angehört?«

»Ja.«

»Die beiden haben sich zu dem Zeitpunkt angeschrieen, richtig? So dass Sie sie ziemlich gut hören konnten?«

»Sicher. Sehr gut sogar.«

»Dann haben vermutlich auch andere Gäste gehört, wie sie drohte, Mr. Danse umzubringen. Davon könnte man doch vernünftigerweise ausgehen, nicht wahr?«

»Ich … ja, ich denke schon.«

Milford schien sich in seiner Haut nicht mehr ganz so wohl zu fühlen. Zu Recht.

»Sie sind doch ein alter Freund von Mr. Danse. Oder?«

»Ja, klar. Ich kenne Arthur schon lange.«

»Sind Sie so gut befreundet, dass Sie für ihn lügen würden?«

»Ob ich … zum Teufel, nein, ich lüge für niemanden.«

Milford plusterte sich voller Entrüstung auf. Sansom nickte bloß.

»Das ist gut, Mr. Milford. Denn wie Ihnen sicher bewusst ist, kann eine Lüge vor Gericht zu einer Anklageerhebung wegen Meineids führen. Und Ihnen ist sicher auch bewusst, dass ich jeder Zeit andere Zeugen, die an dem Abend in der Bar waren, aufrufen und sie fragen kann, was sie gehört haben. Ich muss mir daher in einer Sache absolute Gewissheit verschaffen. Ich muss absolut sicher sein, dass Sie gehört haben, wie Mrs. Danse das Wort ›umbringen‹ sagte. Bevor ich irgendjemand anderes frage, ob es sich nicht vielleicht doch um ein anderes Wort gehandelt hat. Also, welches Wort hat sie benutzt? War es ›umbringen‹?«

Sein Bluff ging offenbar auf. Der kleine Mann wirkte beunruhigt.

»Ich habe gehört …«, begann er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie so was sagen hörte.«

Er versuchte sich nach allen Seiten hin abzusichern. Aber Sansom ließ ihm das nicht durchgehen.

»Ziemlich sicher?«

»Ja.«

»Aber nicht völlig sicher?«

»Hören Sie, sie hat eine Menge Sachen gesagt.«

»Wer saß an dem Abend am Tresen neben Ihnen, Mr. Milford? Ich hätte gerne einen Namen, bitte.«

»Ich kannte den Mann nicht. Tut mir leid.«

»Wie steht es dann mit jemandem, der in Ihrer Nähe saß? Vielleicht ein paar Hocker weiter.«

»Keine Ahnung.«

»Sie kannten also an dem Abend keinen der anderen Gäste? Keine Menschenseele? Was ist mit Jake Whalen, dem Mann hinterm Tresen? Ihn kannten Sie doch, oder?«

»Klar, aber … ja, Jake war da. Vielleicht hat er’s gehört, vielleicht nicht. Aber die anderen Gäste – hey, ich habe nicht auf die geachtet. Ich war da, um einen zu trinken, sonst nichts.«

Sansom sah ihn angewidert an.

»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren«, sagte er dann.

 

In dieser Nacht überfiel sie eisige, grundlose Furcht.

Immer wieder hörte sie Woods und Richter Burkes Worte.

Könnten Sie sich der Entscheidung dieses Gerichts fügen, wenn diese Entscheidung darauf hinausliefe, dass die Umgangsregelung zu den bei Ihrer Scheidung festgelegten Bedingungen beibehalten würde?

Das hieß: weiteres Umgangsrecht.

Das hieß: Robert würde weiter vergewaltigt werden.

Und sie würde nichts dagegen unternehmen können.

Alles ist möglich.

Sie versuchte, bei einem Glas Weißwein Musik zu hören und sich zu entspannen, doch die Musik berührte ihr Herz und machte sie schwach und nachgiebig. Doch sie musste jetzt stark sein und durfte sich nicht Selbstmitleid oder Mitgefühl mit Sansom, seiner Frau oder gar Robert hingeben, weil Mitgefühl ihre Probleme nicht lösen würde. Nur ein Sieg würde ihre Probleme lösen.

Alles andere war undenkbar.

Der Wein half ein wenig. Sie goss sich noch ein Glas ein und ging damit zu Bett. Sie lag im Halbdunkeln, trank Schluck für Schluck und starrte aus dem Schlafzimmerfenster ins Mondlicht hinaus. Die Bettwäsche schmiegte sich angenehm kühl um ihre Beine.

War es möglich?

Waren sie wahrhaftig in der Lage, so etwas zu tun?

Sie war nicht überrascht, als das Telefon klingelte. Es kam ihr vor, als sei das Klingeln allein schon ein Teil der Lösung ihres Problems.

»Hallo?«

»Das ist heute ja wohl nicht so besonders für dich gelaufen, Lyd. Was meinst du?«

»Du hast mir gerade noch gefehlt, Arthur. Was soll ich jetzt machen? Meine Telefonnummer ändern?«

»Keine Sorge. Ich werde dich nicht ständig anrufen. Ich war bloß neugierig. Und, was meinst du?«

»Es spielt keine Rolle, was ich meine.«

»Aber sicher. Für mich schon.«

»Ich wüsste nicht, weshalb.«

»Weil du womöglich eine Dummheit begehst, wenn du glaubst, das es heute schlecht gelaufen ist. Deshalb.«

»Zum Beispiel?«

»Du könntest zum Beispiel versuchen, Robert ins Auto zu setzen, um mit ihm abzuhauen. Das wäre nicht sehr schlau.«

»Meinst du?«

»Ja, und weißt du auch, warum? Weil du dann arbeiten gehen müsstest, Liddy. Du bist Krankenschwester – und Krankenschwestern müssen sich registrieren lassen. Also finde ich dich, egal wo du hinfährst, egal in welchen Staat oder wie weit weg. Ist dir das klar? Ich könnte dich wahrscheinlich sogar in den Knast bringen. Klingt nicht gerade förderlich für deine psychische Stabilität, oder?«

»Freut mich, dass es dir so gutgeht, Arthur. Was dagegen, wenn ich jetzt wieder ins Bett gehe?«

»Kein Problem. Was hast du an, Lyd?«

»Leck mich, Arthur. ’ne Ritterrüstung.«

Sie legte auf.

Der Anruf machte sie wütend.

Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?, fragte sie sich.

Weil sie nämlich tatsächlich daran gedacht hatte, einfach abzuhauen.

Und weil sie aus genau dem Grund, den Arthur ihr vorgehalten hatte, wieder davon abgekommen war. Letztlich lief alles aufs liebe Geld hinaus. Hätte sie eigenes Geld gehabt, wäre sie vermutlich schon längst über alle Berge.

Aber er hatte Recht. Sie musste arbeiten gehen. Als Krankenschwester konnte sie sich und ihren Sohn knapp über der Armutsgrenze halten. Sie hatte daher keine andere Wahl, als bis zum Ende des Prozesses durchzuhalten und zu beten, dass alles wieder gut werden würde.

Es konnte doch niemand so verrückt sein, ihm das zu geben, was er wollte, oder? Unbegrenztes Umgangsrecht ohne Beaufsichtigung?

Aber was sollte sie machen, wenn es doch dazu kam?

Sie brauchte noch zwei Gläser Wein, bis sie endlich einschlafen konnte.

Sie schlief unruhig und konnte sich an ihre Träume am nächsten Morgen nicht erinnern.

Nur, dass diese Träume keine Antworten auf ihre Fragen enthalten hatten.