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Fernbeziehung

Plymouth, New Hampshire, und Boston, Massachusetts Juni 1985 bis September 1986

Er hatte ein Restaurant zu führen, und sie hatte einen gut bezahlten Job als Krankenschwester am Massachusetts General Hospital in Boston.

Ihre Beziehung fand praktisch am Telefon statt.

So lernte sie ihn vor allem während der langen Telefongespräche kennen, die sie spätabends und schon schläfrig mit ihm führte. Die Anrufe, in denen sie ihren Tagesablauf durchgingen, dauerten häufig eine Stunde oder länger. Sie redeten über ihre Arbeit und seine. Über ihre Familie und Freunde und seine, obwohl sie keine gemeinsamen Bekannten hatten.

Nach und nach erzählte sie ihm von ihrem Leben mit Jim – vielmehr vom Nichtvorhandensein eines Lebens – und manches, aber nicht alles, über ihren Vater. Er war sehr verständnisvoll. Er erzählte ihr von den Schwierigkeiten, in die er als Junge geraten war. Er hatte die Schule geschwänzt und geklaut. Es kam ihr vor, als fühlte er sich deshalb immer noch schuldig, und sie fragte sich, warum er sich diese Dinge nach so langer Zeit immer noch zum Vorwurf machte.

Er zeigte sowohl an ihrer finanziellen als auch persönlichen Situation große Anteilnahme. Sie hatte keinen Cent von Jim angenommen, und in Boston war mit dem Gehalt einer examinierten Krankenschwester nur schwer über die Runden zu kommen. Er gab ihr Anlagetipps, mit denen sie ihr Einkommen aufbesserte. Sie redeten über Filme, Bücher, und Fernsehsendungen. Er war etwas zurückhaltend, wenn es darum ging, eine eigene Meinung zu äußern, so als hätte er Angst, sie dadurch zu verärgern. Wenn er jedoch eigene Standpunkte kundtat, dann auf eine kluge und irgendwie auch lustige Art und Weise. Er brachte sie zum Lachen.

Als sie herausfanden, dass sie ungefähr zur selben Zeit dieselbe Schule besucht hatten und sich dabei wahrscheinlich sogar schon mal über den Weg gelaufen waren, fand sie das erstaunlich und gleichzeitig erfreulich.

Manchmal flog er übers Wochenende nach Boston, was nicht ganz einfach für ihn war, weil im Restaurant gerade an diesen Tagen am meisten los war. Aber es waren nun mal auch die einzigen Tage, an denen sie frei hatte. Hin und wieder fuhr sie auch nach Plymouth.

Im Bett war er sanft, aufmerksam und geduldig.

Sie mochte, wie er sich anfühlte, wie er roch.

Ihr fiel auf, dass er zwar viele Geschäftsbekanntschaften, aber anscheinend nur wenige Freunde hatte. Jedenfalls keine engen Freunde. Sie schrieb das seinem Arbeitspensum und seinem zurückhaltenden Wesen zu. Hin und wieder aßen sie mit seinen Eltern zu Abend. Mit seinem Vater und dessen ruhiger Art wurde sie auf Anhieb warm. Seine Mutter dagegen blieb reserviert, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Frau war offensichtlich ein zähes altes Frauenzimmer – sie behandelte einen schweren Fall von Arthritis mit nichts anderem als einer gelegentlichen Paracetamol, was Lydia durchaus bewunderte. Trotzdem kam ihr Ruth ruppig und nicht im Geringsten liebenswert vor.

Im Juli 1986 nahmen sie eine ganze Woche Urlaub und flogen in einen Ferienclub auf Jamaika, wo alberne Haifischzähne aus Plastik als Zahlungsmittel dienten. Dort aalten sie sich in der Sonne, tranken Piña Coladas und einen mörderischen Rumpunsch, flohen vor den alltäglichen, zehnminütigen Regengüssen, die alles durchnässten, tanzten jeden Abend, genossen die wunderbare Inselküche unter freiem Himmel und hatten Sex. Und am Ende dieser Woche, in einer Sternenlosen, mondlosen Nacht auf der Terrasse ihres Hotels, machte er ihr einen Heiratsantrag.

 

Sie nahm nicht sofort an. Es kam nicht infrage, dass er das Restaurant in New Hampshire aufgab. Und ihr fiel der Gedanke schwer, dass sie ihre Freunde und ihren Job in Boston für eine Wochenendbeziehung aufgab, die sie in erster Linie über Telefongespräche kannte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wieder zu heiraten, auch wenn sie diesen Mann so sehr ins Herz geschlossen hatte. Sie hatte sich fast, allerdings noch nicht ganz, in ihn verliebt.

Sie rief sich ins Gedächtnis, wie sie in Jim verliebt gewesen war.

Und das war in einer Katastrophe geendet.

Liebe war nicht zwingend erforderlich.

Im September willigte sie schließlich nach ein paar Drinks im Caves ein. Nach ziemlich vielen Drinks. Genug, um sich in Zukunft hin und wieder zu fragen, ob bei ihrer Entscheidung nicht der Alkohol den Ausschlag gegeben hatte. Doch da hatte sie bereits bestimmte Seiten an ihm kennengelernt, von denen sie bis dato keine Ahnung gehabt hatte. Seiten, die sie ganz sicher davon abgehalten hätten, Arthur Danse zu heiraten, wenn sie früher davon gewusst hätte. Ganz egal, wie viele Margaritas sie an dem Abend getrunken hatte.

Bald wusste sie über die Waffen Bescheid. Und über die Sache mit seinen Eltern. Und über die Sauftouren.

Und sie wusste, dass das Unausweichliche eingetreten war, dass er ihr trotz alledem etwas bedeutete. Manchmal war sie der Überzeugung, dass man sich in jeden Menschen verlieben konnte, wenn man nur lange genug mit ihm zusammenlebte, um ihn gut genug kennenzulernen. Sie bemerkte seine Schuldgefühle, wenn er getrunken hatte. Sie bemerkte die tiefe, beinah kindliche Abhängigkeit von seinen Eltern – besonders von seiner Mutter. Sie bemerkte, dass Schusswaffen für ihn eine Art Status-und Machtsymbol waren. Und fragte sich, warum er das nötig hatte.

Doch bei alledem bezweifelte sie, dass er sich sonderlich von anderen Männern unterschied.

Zumindest am Anfang.

Alles änderte sich, als ihr Baby kam. Ihr Sohn Robert.

Ihr einziges Kind.