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Partygespräche

10. November 1994

»Okay«, sagte er, nachdem sie die Mäntel ausgezogen, die Babysitterin bezahlt hatten und das Mädchen in der kühlen Nacht verschwunden war. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Lydia?«

Es war das erste Mal, dass er den Mund aufmachte, seit sie die Party verlassen hatten.

Seit sie ihm gesagt hatte, was sie getan hatte.

»Cindy ist meine Freundin«, gab sie zurück. »Ich finde, sie hat das Recht, zu erfahren, dass dieser Mann sie belügt.«

Sie brauchte jetzt ein kaltes Glas Wasser. Der Nachgeschmack des Weins in ihrem Mund wurde mit jeder Minute saurer. Sie ging in Richtung Küche. Er folgte ihr.

»Woher willst du wissen, dass er lügt? Wieso bist du dir da so sicher?«

»Dir erzählt er, dass er sich endgültig entschieden hat, bei seiner Frau zu bleiben, und Cindy macht er weis, dass er bis über beide Ohren in sie verliebt ist? Ist das etwa nicht gelogen?«

»Vielleicht ist er unentschlossen. Tanzt auf zwei Hochzeiten gleichzeitig. Das kannst du nicht wissen. Und außerdem geht dich das verdammt nochmal nichts an.«

Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es aus. Arthur ging zum Kühlschrank und nahm sich noch ein Miller Lite heraus. Sie war müde und hatte keine Lust, sich zu mit ihm streiten. Sie musste dringend ins Bett.

»Hör mal, ich bin keine Klatschbase, Arthur. Ich habe mir das gut überlegt. Ich habe nicht einfach so drauflos gequatscht. Glaubst du denn, ich wollte es ihr unbedingt sagen? Glaubst du, es hat mir Spaß gemacht, ihr diese Neuigkeit unter die Nase zu reiben oder mich überhaupt in ihre Angelegenheiten einzumischen? Ganz im Gegenteil. Noch dazu, weil ich weiß, dass du mit ihm befreundet bist, auch wenn er kein sehr guter Freund ist …«

»Wer sagt das? Wer sagt, dass er kein guter Freund ist?«

Sie seufzte. »Arthur, du triffst dich ein-, zweimal im Monat mit ihm. Er kommt ins Restaurant. Du redest mit ihm. Du lädst ihn auf einen Drink ein. Und das war’s auch schon. Tu also bitte nicht so, als hätte er dir ’ne Niere gespendet.«

»Zufälligerweise kann ich den Kerl ziemlich gut leiden. Himmel nochmal, Lyd, er ist Vorstandsvorsitzender bei Groton Chemical!«

»Was hat das denn damit zu tun? Cindy ist meine beste Freundin. Verstehst du das nicht? Sie hat es nicht verdient, sich von diesem Kerl rumschubsen zu lassen! Das hat Ed vor der Scheidung weiß Gott oft genug getan.«

Sie sah, dass das erste Bier bereits leer war und er die nächste Flasche öffnete. Sie drehte den Wasserhahn über der Spüle auf und fing an, das Geschirr abzuwaschen, obwohl gereicht hätte, es in die Spülmaschine zu räumen und bis morgen stehen zu lassen. Vielleicht würde er ja endlich verschwinden, wenn er sah, dass sie beschäftigt war.

»Du hast mich bloßgestellt, Lydia. Du hast mein Vertrauen missbraucht. Ich kann einfach nicht glauben, dass du mir das angetan hast! Hast du eine Ahnung, wie sehr ich geschäftlich von dem Mann profitiere?«

»Es ist mir egal, wie sehr du von ihm profitierst. Du bist doch überhaupt nicht auf ihn angewiesen. Ganz bestimmt nicht so sehr wie Cindy auf ein anständiges Leben mit einem anständigen Mann, der sie nicht wieder nach Strich und Faden belügt wie ihr gottverdammter Ehemann.«

»Womöglich meint er es nur gut mit ihr. Womöglich ist er aber momentan auch etwas durcheinander.«

»Das ist doch lächerlich, Arthur.«

»Sieh mal, jeder lügt doch irgendwie. Man lügt, um das zu bekommen, was man will.«

»Ich nicht.«

»Nein. Du nicht. Du bist ja so beschissen perfekt.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich perfekt bin.«

»Aber das scheinst du verdammt nochmal zu glauben.«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Ich lüge nicht, Arthur. Und du?«

Nie im Leben hätte sie mit dem gerechnet, was als Nächstes passierte.

Im einen Augenblick war seine Hand noch auf Hüfthöhe gewesen, im nächsten hatte er ihr damit ins Gesicht geschlagen.

Sie taumelte rückwärts gegen die Spüle, wobei sie seltsamerweise bemerkte, dass das Wasser noch lief. Sie hob unwillkürlich die Arme vors Gesicht, um ihn abzuwehren. Als er das Bier auf der Anrichte abgestellt hatte, ging er mit beiden Händen auf sie los. Seine Schläge trafen sie hart und in schneller Folge. Er prügelte mit den Handballen auf sie ein, versuchte, ihr richtig wehzutun, zielte auf ihren Kopf, die Wangen und den Mund. Sie konnte den Bierdunst seines Atems riechen und wusste nicht, ob der plötzliche Angriff ihr mehr Entsetzen oder Angst einjagte.

Sie hörte, wie sie seinen Namen kreischte, als sie an der Küchenzeile entlang zu Boden glitt, hörte, wie er Du Schlampe, du willst mich verarschen knurrte, den Kragen ihrer Bluse packte und sie daran hochzerrte, dabei den Stoff zerriss, so dass sie vor ihm kniete, während er sie mit einer Hand festhielt und mit der anderen auf sie einschlug. Sie weinte, schluchzte und streckte die Arme aus, was jedoch nichts brachte, da er nun kurze, harte Geraden mit der Faust auf Augen und Nasen platzierte. Er bestrafte sie. Sie konnte fast hören, wie der Schmerz in ihr tobte. Ihr Gesicht, ihr ganzer Kopf schien in Flammen zu stehen. Sie atmete Blut und schluckte es herunter. Er würde sie umbringen.

Sie sah ihren Vater, wie er betrunken und tobsüchtig auf ihre Mutter einprügelte.

Dieser Mann hier war viel größer. Er würde sie totschlagen.

Im nächsten Moment stieß er sie gegen die Küchenschränke, richtete sich auf und ließ von ihr ab. Voller Angst sah sie zu ihm auf. Er ist wahnsinnig, er ist verrückt geworden, dachte sie, denn sie bemerkte, dass er sie in diesem Moment nicht mal ansah. Er stand über ihr und starrte in das Licht der Leuchtstoffröhren an der Küchendecke. Er wirkte weggetreten, wie in Trance. Er keuchte und sein Hemd war zerrissen – hatte sie das getan? Er sah wie ein Stammeskrieger aus, den irgendjemand in moderne Kleidung gesteckt hatte und der triumphierend über seiner Beute, seinem Opfer, stand.

Du Arschloch, dachte sie.

Du feiges Schwein.

Er trat zurück und marschierte mit vier langen Schritten aus der Küche.

Er war auf dem Weg zur Treppe.

Nein!, dachte sie. Du wirst ihn nicht anrühren!

Als sie sich aufzurichten versuchte, glitt sie mit der Hand auf einer Pfütze ihres Blutes aus. Dann stand sie und lief ihm nach. Wie durch Zauberhand war plötzlich seine halb ausgetrunkene Bierflasche in ihrer Hand. Sie war halb die Treppe hinauf, als sie sah, wie er durch den Flur auf Roberts Zimmer zuging, doch dann übersah sie eine Stufe und rutschte erneut aus. Ihr halb zugeschwollenes Auge versagte seinen Dienst. Sie zog sich am Treppengeländer hoch, verschüttete das Bier über die Holzstufen, hielt die Flasche jedoch weiter fest, denn falls er aufs Neue auf sie losginge oder Robert etwas antun wollte, würde sie sich damit gegen ihn zur Wehr setzen. Und ob sie das würde.

Im dunklen Flur war er nicht. Doch in Roberts Zimmer brannte eine Nachttischlampe. Sie rannte auf das Licht zu und stürzte in das Zimmer.

Und blieb wie angewurzelt stehen.

Robert schlief.

Und Arthur saß auf dem Bett, hielt ihn im Arm – er hatte die Augen geschlossen – und wiegte ihn sanft.

Ich lebe mit einem Wahnsinnigen zusammen, dachte sie.

Großer Gott. Und das die ganze Zeit über.

»Geh weg!«, fauchte sie.

Arthur schlug die Augen auf und blickte sie an, als sähe er sie an diesem Abend zum ersten Mal und wäre höchst erstaunt, sie hier zu entdecken.

Wahnsinniger.

Sie trat vor und hob die Bierflasche.

Seine Miene wechselte von benommener Überraschung zu etwas, das ihr wie Traurigkeit vorkam. Echte, tief empfundene Traurigkeit.

Er durfte auf keinen Fall hierbleiben.

»Geh weg!«, sagte sie.

Er schien sie zuerst nicht zu verstehen.

Dann ließ er den Jungen liebevoll aufs Bett sinken, stand auf und starrte sie einen langen Augenblick an, ehe er langsam auf sie zuging. Sie wich ihm aus und dachte an die fest umklammerte Flasche in ihrer Hand. Sie war bereit, sie zu benutzen, wenn es sein musste. Er sah sie nicht einmal an, als er an ihr vorbei zur Tür hinausging.

Kurz darauf hörte sie die Haustür zuschlagen, dann einen Motor anspringen und einen Wagen davonfahren.

Die Dunkelheit schien plötzlich mit Ozon geschwängert zu sein.

Dann brach sie zusammen.

Sie weinte stumm. Alles tat ihr weh, und mit dem rechten Auge sah sie so gut wie nichts mehr. Sie musste sich und Robert von hier wegbringen. Doch vorher musste sie sich noch eine Geschichte für ihn ausdenken, die ihren derzeitigen Zustand einigermaßen plausibel machte, damit ihm ihr Anblick keine Angst einjagte. Dann würde sie ein paar Sachen zusammenpacken, Cindy anrufen und den ganzen Krempel im Auto verstauen. Sie hatte vor, zu Cindy zu fahren und Robert bei ihr unterzubringen.

Sie hoffte, dass Cindy einen Fotoapparat besaß.

Denn ihr nächster Halt würde das Büro des Sheriffs sein.

Damit durfte er nicht durchkommen.

Sie würde auf keinen Fall zu ihm zurückkehren.

Sie und Robert waren auf sich allein gestellt.