21
Die Verhandlung: erster
Tag
Der Gerichtssaal war alt und ebenso finster wie der Himmel hinter den drei hohen Fensterreihen. Bis auf die Anwälte, den Richter, den Justizwachtmeister, den Gerichtsschreiber sowie Lydia und Arthur war niemand im Saal. Alle Fälle, in denen es um Kinder-und Jugendschutz ging, wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Presse verhandelt. Lydia war darüber sehr erleichtert.
Die Verhandlung stand unter schlechten Vorzeichen. Nach den kurzen Eröffnungsplädoyers der Anwälte gab Richter Burke einem Antrag von Edward Wood statt, Zeugen und Beweismittel, die dafür sprachen, dass Arthur sie im November geschlagen hatte, nicht zuzulassen – trotz Owens Einwand, auf diese Weise Arthurs Hang zur Gewalttätigkeit untermauern zu können. Angeblich war dieser Sachverhalt für den vorliegenden Fall irrelevant. Also mussten sie auf die Aussagen Ralph Duggans und der Polizeibeamtin, die Lydia zuerst untersucht hatte, verzichten, genauso wie auf die Fotos und die Krankenakte.
Das war ein herber Rückschlag. Ging es hier denn nicht um Gewalt?
Burke war offensichtlich anderer Meinung.
Als Andrea Stone ins Spiel kam, schien sich das Blatt zu wenden.
Stones Rolle in diesem Prozess war ungewöhnlich. Einerseits nahm sie als Roberts Rechtsbeistand seine Interessen wahr, konnte jedoch auch von beiden Parteien in den Zeugenstand gerufen werden, um ihre Ergebnisse als Ermittlerin in dieser Angelegenheit darzulegen.
Sie berichtete Owen Sansom von ihren Gesprächen mit Lydia Danse, Hessler und Bromberg, und von den drei Besuchen, die sie Robert abgestattet hatte. Dabei hatte sie ihn als den Umständen entsprechend sehr gefasst, jedoch auch unschlüssig vorgefunden. Er schien jedoch durchaus bereit gewesen zu sein, ihr in – wie sie es nannte – vorsichtigen Worten zu offenbaren, was geschehen war. Zumindest bis sie die Frage gestellt hatte, wer ihm das angetan hatte.
Über dieses Thema hatte er nicht sprechen wollen. Genauso wenig wie über seinen Vater.
»Und was schließen Sie daraus, Miss Stone?«, wollte Sansom wissen.
»Einspruch.«
»Es ist Miss Stones Beruf, Schlüsse zu ziehen, Euer Ehren. Mr. Wood weiß das.«
»Einspruch abgelehnt. Die Zeugin soll antworten.«
»Ich schließe daraus, dass der Missbrauchstäter und Roberts Vater ein und dieselbe Person sind.«
»Ist er bereit, über andere Männer zu sprechen? Zum Beispiel über seinen Großvater. Oder über mich?«
»Ja.«
»Er will also nur nicht über seinen Vater sprechen?«
»Ja.«
Sansom brachte gegen Woods wiederholten Einspruch den Zwischenfall in ihrem Büro zur Sprache.
»Erinnern Sie sich, was genau er gesagt hat, als er die Geduld verlor?«
»Er bat darum, Robert allein sehen zu dürfen, was ich ablehnte, da ihm das gerichtlich untersagt war. ›Auch nicht für fünf verfickte Minuten?‹, sagte er darauf. Er schrie regelrecht.«
»In Roberts Gegenwart?«
»Ja.«
»Wie hat Robert darauf reagiert?«
»Er zuckte zusammen.«
»Er zuckte zusammen?«
»Er schreckte regelrecht zurück. Als wollte ihn jemand schlagen.«
»Was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?«
»Dass ihn dieser Ausdruck beunruhigt hat. Das Wort ›ficken‹.«
»Und hat Mr. Danse an besagtem Tag dieses Wort in Ihrem Beisein noch einmal verwandt?«
»Einspruch. Irrelevant.«
»Ich lasse die Frage zu.«
»Jawohl. Vor meinem Büro. Er nannte mich eine ›verfickte, frigide Fotze‹.«
»War das der exakte Wortlaut?«
»Ja.«
Sansom kehrte an seinen Tisch zurück und blätterte in seinen Unterlagen. Als er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte, ging er wieder zu Andrea Stone hinüber und reichte ihr einige Papiere.
»Miss Stone, ist dies das Gutachten, das Sie dem Gericht vorgelegt haben? Ist das Ihre Unterschrift?«
»Ja.«
»Könnten Sie uns eine Zusammenfassung geben?«
»Ich empfehle darin, das alleinige Sorgerecht der Mutter, Lydia Danse, zuzuerkennen. Darüber hinaus spreche ich mich dafür aus, dem Vater, Arthur Danse, sämtliche Umgangsrechte zu verweigern.«
»Auf welcher Grundlage?«
»Ich glaube, dass Arthur Danse seinen Sohn sexuell missbraucht hat. Und ich glaube, dass dies bereits seit geraumer Zeit der Fall ist.«
»Vielen Dank, Miss Stone. Würden Sie das bitte als Beweisstück A vermerken, Euer Ehren? Keine weiteren Fragen an die Zeugin.«
»Mr. Wood?«
Wood stand langsam auf und ging auf sie zu. Er lächelte, als wäre sie eine gute, alte Freundin, und Lydia war einen Moment lang bereit zu glauben, dass es tatsächlich so war – obwohl sie es natürlich besser wusste. So gut war er. Wood zog seine Notizen zu Rate.
»Miss Stone, Sie sagen aus, dass Sie Robert gefragt haben, ob irgendjemand etwas mit ihm gemacht hat, dass er nicht wollte, und dass er darauf geantwortet hat: ›Kann sein.‹ Stimmt das?«
»Ja.«
»Dann haben Sie ihn gefragt, ob irgendjemand seine Geschlechtsteile berührt hat, und er antwortete abermals: ›Kann sein.‹ Richtig?«
»Ja.«
»Aber er hat keine Ihrer Fragen mit Ja oder Nein beantwortet, richtig?«
»Ich hatte den Eindruck, dass er einer direkten Antwort auswich, dass er mir jedoch etwas mitteilen wollte, ohne es auszusprechen.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er nicht bloß so tat, als wollte er Ihnen etwas mitteilen?«
»Wie bitte?«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder, die auf einen Elternteil oder auf die Erwachsenen im Allgemeinen wütend sind, gerne zu derartigen Anschuldigungen greifen – die häufig vollkommen aus der Luft gegriffen sind. Woher wollen Sie also wissen, dass Robert nicht bloß die Möglichkeit in Betracht zog, genau das zu tun, sich dann aber dagegen entschied?«
»Ich übe meinen Beruf schon geraume Zeit aus, Mr. Wood. Er wollte mir zweifellos mitteilen, dass ihn jemand missbraucht hat.«
»Sie geben an, dass Sie sich ausführlich mit Lydia Danse unterhalten haben und dass sie Ihnen alles über den Abend erzählt hat, an dem sie … diese Beobachtung hinsichtlich Robert gemacht hat. Stimmt das?«
»Ja.«
»Haben Sie denn auch mit Arthur Danse gesprochen?«
»Nur einmal, in meinem Büro.«
»Warum nur dieses eine Mal?«
»Er wollte mich nicht sehen. Auf Ihren Rat hin, nehme ich an.«
»Also kennen Sie seine Version dieser Angelegenheit gar nicht. Was bedeutet, dass Sie diese hier zum ersten Mal hören werden, sehe ich das richtig?«
»Ich gehe davon aus, dass es so ist, ja.«
»Und doch haben Sie bereits eine Empfehlung hinsichtlich der Urteilsfindung abgegeben. Sehr interessant – darf ich Sie etwas fragen? Sie geben an, dass Robert Ihre Fragen hinsichtlich anderer Männer bereitwillig beantwortet hat, über seinen Vater aber nicht sprechen wollte, ist das korrekt?«
»Ja.«
»Und Sie haben ihn ausdrücklich nach anderen Männern gefragt?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Ich wollte die Möglichkeit ausschließen, dass er nicht über Männer im Allgemeinen sprechen wollte, weiter nichts. Das liegt in Missbrauchsfällen, in denen es darum geht, welchem Geschlecht der Schuldige angehört, immer im Bereich des Möglichen.«
»Und nach welchen Männern im Besonderen haben Sie ihn gefragt?«
»Nach seinem Großvater, Harry Danse, nach Ed, Cindy Fortunatos Exmann, Doktor Bromberg und Owen Sansom.«
»Haben Sie auch nach dem Nachbarn gefragt? Ich glaube, sein Name ist Collins?«
»Gut möglich. Ich erinnere mich nicht daran. Ich hatte Mrs. Danse gebeten, mir eine Handvoll Männer zu nennen, die Robert wahrscheinlich bekannt sind. Aber ich erinnere mich nicht an jeden Einzelnen.«
»Sie haben Mrs. Danse darum gebeten?«
»Ja.«
»Also hat sie diese, äh, Verdächtigenliste zusammengestellt?«
»Einspruch.«
»Mr. Wood, formulieren Sie Ihre Frage bitte neu.«
»Es gab viele Männer, nach denen Sie Robert nicht gefragt haben, nicht wahr? Männer, die nicht auf der Liste standen, die Mrs. Danse Ihnen gegeben hatte. Zum Beispiel Männer aus der Nachbarschaft, Schullehrer. Ist das richtig?«
»Ich denke schon.«
»Woher wissen Sie dann, dass er über einen dieser Männer womöglich ebenfalls nicht gesprochen hätte? Woher wissen Sie, dass er nur in Bezug auf seinen Vater so verschlossen ist?«
»Es ging mir nicht darum, herauszufinden, wer für den Missbrauch verantwortlich ist, Mr. Wood. Ich war nicht auf der Suche nach Verdächtigen. Es ging mir nur darum, eine Möglichkeit auszuschließen. Die Auswahl der Stichproben schien mir durchaus fair zu sein.«
»Es ging Ihnen nicht darum, herauszufinden, wer für den Missbrauch verantwortlich war, wie Sie sagen, weil Sie bereits davon überzeugt waren, dass Arthur Danse dafür verantwortlich ist, habe ich Recht?«
»Im Grunde ja. Aufgrund der Beweislage schien mir die Wahrscheinlichkeit groß genug zu sein.«
»Und das nennen Sie Ermittlungsarbeit?«
»Einspruch.«
»Stattgegeben. Fahren Sie fort, Mr. Wood.«
Wood sah erneut in seinen Notizen nach.
Er ging zum Tisch zurück und bezog direkt hinter Arthur Danse Stellung.
»Mein Mandant nannte Sie – wie war das noch? Eine frigide …«
»Eine ›verfickte, frigide Fotze‹, Mr. Wood.«
Ihre Stimme klang jetzt eisenhart.
Er lächelte. »Damit hat er sich bei Ihnen sicher nicht sonderlich beliebt gemacht, oder?«
»Nein.«
»Mit anderen Worten: Sie können meinen Mandanten nicht leiden. Stimmt das, Miss Stone?«
»Meine Vorlieben oder Abneigungen tun nichts zur Sache, Mr. Wood. Wie Sie sehr genau wissen.«
»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«
Lydia fand, dass Cindy ihre Sache großartig machte. Wood gelang es nicht, sie auch nur einen Augenblick aus der Fassung zu bringen, aber er legte es auch zugegebenermaßen kaum darauf an. Sie war – genau wie Roberts Lehrerin Olive Youngjohn – in erster Linie als Leumundszeuge geladen. Sie sollte jedoch auch über Lydias Verhalten am Abend des Zwischenfalls Auskunft geben. Sie trug ein blaues, maßgeschneidertes Kostüm und hatte das lange blonde Haar zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Zusammen mit dem sparsamen Make-up strahlte dieses Outfit Gelassenheit und Seriosität aus. Als würde sie so etwas jeden Tag machen. Lydia war sehr stolz auf sie.
»Mrs. Fortunato, stimmt es, dass Mrs. Danse den Eindruck machte, wütend zu sein, als sie an dem Abend zu Ihnen nach Hause kam?«, fragte Wood.
»Ja, sie war wütend, ich würde sogar sagen, sie war zutiefst erschüttert.«
»Würden Sie sagen, dass sie ihre Wut unter Kontrolle hatte?«
»Einspruch. Unzulässige Mutmaßung.«
»Ich lasse die Frage zu.«
»Ja. In Anbetracht der Umstände.«
»Aber Sie kannten die Umstände zu dem Zeitpunkt doch noch gar nicht, oder?«
»Nein.«
»Wussten Sie, wo sie hinwollte, als sie Ihr Haus an jenem Abend verließ?«
»Sie sagte, sie müsste auf der Stelle mit Arthur reden.«
»Aber sie sagte Ihnen nicht, warum?«
»Ich habe nicht gefragt.«
»Sie ist Ihre beste Freundin, und Sie haben sie nicht gefragt?« Er machte ein ungläubiges Gesicht.
Cindy lächelte. »Beste Freundinnen wissen, wann man lieber nicht fragt, Mr. Wood – deshalb bleiben sie ja beste Freundinnen. Aber ich bin sicher, ich sage Ihnen damit nichts Neues.«
Mrs. Youngjohn erwies sich als weniger standfest. Obwohl sie wie für den Anlass geschaffen schien – in mittleren Jahren, ein bisschen mollig, Brille, ein unauffällig gemustertes, in der Taille gegürtetes Baumwollkleid. Sie sprach selbstbewusst und mit Nachdruck, als sie dem Gericht von Lydias Gewohnheit berichtete, in Hinblick auf die Probleme ihres Sohnes sehr engen Kontakt mit ihr selbst und Roberts übrigen Lehrern zu pflegen. Allerdings waren es genau diese Probleme, die Wood schließlich gegen sie ins Feld führen konnte.
»Er stottert, sagen Sie?«
»Ja. Er hat Mühe, die Wörter richtig herauszubringen.«
»Und er ist deshalb in Behandlung?«
»Ja. Wir haben eine Sprachtherapeutin an der Schule, die mit ihm arbeitet.«
»Sie wissen, dass er Doktor Bromberg, einen Psychotherapeuten, besucht?«
»Ja.«
»Und dass er schüchtern ist?«
»Ja.«
»Aber er arbeitet in der Schule gut mit.«
»Ja.«
»Können die anderen Kinder ihn gut leiden, Mrs. Youngjohn?«
»Oh, Robert ist ein sehr netter Junge.«
»Da bin ich mir sicher – aber danach habe ich nicht gefragt. Als Lehrerin, die seit – wie lange? – zweiundzwanzig Jahren im Schuldienst ist, wissen Sie sicher, wie grausam Kinder sein können. Ich meine, er stottert, er ist schüchtern, er ist wegen allen möglichen Problemen in Therapie. Er ist anders. Ein Außenseiter. Wird er auch so behandelt?«
»Robert hat Freunde.«
»Aber er wird gehänselt, richtig?«
»Nun, ja, er wird auch gehänselt.«
»Wird er auch gehänselt, weil er Windeln trägt?«
Sansom war sofort auf den Beinen. »Einspruch! Irrelevant. Es ist nicht klar, worauf die Verteidigung damit hinauswill.«
»Wenn Sie mir ein wenig Zeit geben, Euer Ehren, werde ich Ihnen zeigen, worauf ich damit hinauswill.«
»Ich lasse die Frage zu – fürs Erste. Die Zeugin soll antworten.«
»Ich … ich wusste gar nicht, dass er eine Windel trägt, Mr. Wood.«
»Er muss jeden Abend, bevor er ins Bett geht, eine Windel anziehen, Mrs. Youngjohn. Ich bin überrascht, dass Sie das nicht wissen. Wo Sie und Mrs. Danse doch bei allen Schwierigkeiten, die Robert hat, so eng zusammenarbeiten.«
»Einspruch. Die Verteidigung schweift vom Thema ab.«
»Stattgegeben.«
»Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum Mrs. Danse Ihnen nicht gesagt hat, dass Robert eine Windel trägt?«
»Eigentlich nicht, nein. Es sei denn, sie war der Meinung, das könnte ihm irgendwie peinlich sein.«
»Und würden Sie sagen, dass diese Information für Sie wichtig gewesen wäre, um seine Probleme besser zu verstehen? Abgesehen von den peinlichen Situationen, die daraus hätten entstehen können?«
»Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher.«
Lydia nahm eine sensible Seite an der Frau wahr, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Offenbar war sie eingeschnappt, weil Lydia sie nicht eingeweiht hatte. Woods nächste Frage bewies, dass ihm dieser Umstand nicht entgangen war.
»Was halten Sie davon, dass Mrs. Danse Ihnen nichts gesagt hat? Ich frage Sie nach Ihrer persönlichen Meinung: Was halten Sie jetzt von Mrs. Danses Zuverlässigkeit, ihrer Kooperationsbereitschaft? Ändert das irgendetwas für Sie?«
Mrs. Youngjohn begriff, worauf er abzielte, und bekam sich Gott sei Dank wieder unter Kontrolle. Doch Lydia befürchtete, dass das Kind bereits in den Brunnen gefallen war. Von einer Leumundszeugin erwartete man natürlich, dass sie sich ohne Einschränkung für die betreffende Person aussprach.
»Ich habe dazu keine persönliche Meinung«, antwortete sie. »Dazu müsste ich erst einmal mit Mrs. Danse persönlich sprechen. Ich bin lediglich überrascht, das zu hören, das ist alles.«
»Natürlich. Um sich eine Meinung zu bilden, müssten Sie zuerst mit ihr reden?«
»Ja.«
»Sie sind demnach in dieser Frage noch unentschieden. Was Sie davon halten, dass Mrs. Danse Ihnen diese Information vorenthalten hat, meine ich.«
»Ja.«
Wood hielt einen Moment inne und kehrte an seinen Tisch zurück.
»Eine letzte Sache noch, Mrs. Youngjohn: Ist Robert irgendwann einmal mit Schrammen, blauen Flecken, Kratzern oder sonstigen Verletzungen in den Unterricht gekommen?«
»Gelegentlich.«
»Würden Sie sagen, er ist ungeschickt?«
Sie lächelte. »Ein bisschen schon, fürchte ich.«
»Wissen Sie das aus erster Hand?«
»Ich habe hin und wieder beobachtet, wie er beim Spielen hingefallen ist.« Sie lächelte abermals. »Ich habe selbst gesehen, wie er über seine eigenen Füße gestolpert ist.«
»Mehrmals?«
»Ja.«
»Würde das die vielen Schrammen und blauen Flecken erklären?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich nehme an, dass er sich die meisten Blessuren beim Spielen außerhalb der Schule zugezogen hat.«
»Haben Sie und Mrs. Danse über diese Ungeschicklichkeit gesprochen?«
»Ja.«
»Hat sie Ihnen gesagt, wie genau er sich diesen oder jenen blauen Fleck oder Kratzer zugezogen hat?«
»Ja. Manchmal.«
»Aber nicht immer.«
»Nein, natürlich nicht. Nicht immer.«
»Und hatten Sie den Eindruck, dass sie die Wahrheit sagt?«
»Durchaus.«
»Sie hatten nicht das Gefühl, dass sie auch in dieser Hinsicht etwas vor Ihnen verheimlichte?«
»Einspruch, Euer Ehren.«
»Abgewiesen. Die Zeugin soll die Frage beantworten.«
»Nein, keineswegs.«
»Keine weiteren Fragen.«
»Meine Zeugin, Euer Ehren«, sagte Sansom. Er ging auf sie zu und machte dabei eine Miene wie ein Mann, der das Ganze so schnell und schmerzlos wie möglich hinter sich bringen wollte.
»Mrs. Youngjohn, haben Sie Grund zu der Annahme, dass Mrs. Danse Sie, was Robert angeht, jemals belogen hat?«
»Nein.«
»Oder darüber, auf welche Weise er sich – bei welcher Gelegenheit auch immer – verletzt hat?«
»Nein.«
»Und würden Sie sagen, dass die Ungeschicklichkeit, die Robert daheim oder wo auch immer an den Tag legte, dem Verhalten entsprach, das Sie während des Unterrichts mit eigenen Augen beobachten konnten?«
»Absolut.«
In diesem Punkt jedenfalls war sie sich vollkommen sicher.
Hessler, der Proktologe, wirkte wie ein freundlicher Opa. Soweit Lydia wusste, war er das auch. Er trug einen ordentlichen grauen Anzug, eine konservative blaue Krawatte und strahlte eine ruhige Autorität aus. Wood konnte ihm während des Kreuzverhörs so gut wie nichts anhaben.
»Sie geben an, dass dieser Befund einer analen Vergewaltigung entspricht, Doktor Hessler«, sagte er. »Dennoch haben Sie kein Sperma gefunden. Könnte es sich da nicht auch um etwas anderes handeln? Um eine Form der Penetration durch etwas anderes als einen Penis? Zum Beispiel durch einen Finger des Jungen?«
»Sehr unwahrscheinlich. Ich habe bereits auf das Ausmaß der Muskelausdehnung hingewiesen. Das hätte der Junge unmöglich mit einem Finger bewerkstelligen können. Ich bezweifle sogar, dass der Finger eines Erwachsenen genügt hätte – und selbst wenn, wäre das immer noch Kindesmissbrauch, nicht wahr? Oder wenn es, wie Sie anzudeuten belieben, durch irgendeinen Gegenstand geschehen wäre.«
»Sie schließen Selbstverletzung also aus.«
»Ja. Vor allem, da der Muskel und das umgebende Gewebe ohne jede Frage wiederholt und über einen längeren Zeitraum hinweg geschädigt wurden. Wie bereits erwähnt, habe ich Narbengewebe vorgefunden. Man könnte sich ja gerade noch vorstellen, dass der Junge sich das aus irgendeinem Grund einmal, vielleicht mit irgendeinem Fremdkörper, selbst zugefügt hat. Das ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ich nehme an, dass Kinder hin und wieder überaus seltsame Selbstversuche anstellen. Aber nicht wiederholt und über einen längeren Zeitraum. Dieser Vorgang ist schmerzhaft, Mr. Wood. Sehr schmerzhaft sogar. Solange Sie also nicht davon ausgehen, dass der Junge ein Masochist ist …«
»Verstehe«, antwortete Wood. »Keine weiteren Fragen.«
Andrea Stone stand auf. Sie wollte, dass der Richter die Möglichkeit einer Selbstverletzung so schnell wie möglich wieder aus seinem Gedächtnis verbannte.
»Doktor Hessler, haben Sie an Roberts Verhalten irgendetwas bemerkt, das darauf schließen ließe, dass er tatsächlich masochistisch veranlagt sein könnte?«
»Ganz im Gegenteil. Er war äußerst scheu, wenn es darum ging, ihn anzufassen. Dieser junge Mann findet sicher keinen Gefallen an Schmerzen.«
»Vielen Dank, Doktor Hessler. Keine weiteren Fragen.«
Obwohl sie den Thermostat bereits aufgedreht hatte, war es ziemlich kalt im Schlafzimmer. Irgendwie funktionierte die Heizung nicht richtig. Sie lag im Dunkeln unter der Bettdecke und überlegte, ob sie sich noch eine weitere Decke aus dem Schlafzimmerschrank holen sollte. Doch die Erschöpfung hielt sie im Bett zurück und ließ sie darüber hinaus seltsamerweise nicht einschlafen. Sie grübelte.
Der Tag war, trotz mancher Rückschläge, alles in allem ganz gut verlaufen. Owen Sansom war derselben Meinung gewesen.
Das Problem war der morgige Tag.
Morgen war sie an der Reihe.
Wenn Robert bloß aussagen würde, dachte sie. Wenn er doch bloß den Mund aufmachen würde.
Als sie ihn nach dem Gerichtstermin bei Cindy abgeholt und nach Hause gefahren hatte, hatte sie einen erneuten Versuch gewagt. Sie wollte ihn ermutigen, hatte versprochen, ihn zu beschützen. Hatte ihm versichert, dass ihm nichts zustoßen würde, wenn er etwas sagte.
Allmählich verlor sie die Geduld.
Sie konnte seinen Widerwillen angesichts dessen, was hier vor sich ging, einfach nicht verstehen.
Daher hatte sie ihn zu sehr unter Druck gesetzt und schließlich zum Weinen gebracht.
Nicht zum ersten Mal.
Aber es waren nicht nur Schuldgefühle, die sie nachts wach hielten.
Kaum waren sie zu Hause angekommen, rief sie Barbara an. Sie hatte ihre Schwester in letzter Zeit ein bisschen vernachlässigt. Es fiel ihr schwer, immer und immer wieder über die ganze Sache zu sprechen – selbst mit ihr. Barb hatte vor Gericht als Leumundszeugin für sie aussagen wollen, aber Sansom meinte, dass Barbaras Aussage als Familienmitglied nur wenig Gewicht haben würde. Außerdem hatte sie gerade erst einen neuen Job angenommen. Also kamen sie zu dem Schluss, dass sie bei sich zu Hause blieb. Wenn Liddy Hilfe brauchte, war Cindy für sie da.
Doch in diesem Moment brauchte sie aus irgendeinem Grund familiären Beistand.
Sie erzählte ihrer Schwester, wie schuldig sie sich fühlte.
»Du machst das alles für ihn«, antwortete Barbara. »Nicht für dich. Du machst das, um Arthur aufzuhalten, vergiss das nicht. Natürlich bist du frustriert. Wie könnte es auch anders sein?«
Diese Worte waren Balsam für sie. Dennoch wusste Lydia, dass sie Robert mit alldem auch etwas antat. Ihn damit verletzte. An dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Sie drängte ihn, schlimme Dinge über einen Mann zu sagen, den er zeit seines Lebens geliebt hatte. Und den er wahrscheinlich, trotz allem, noch immer liebte.
Wenn nicht, dann nicht, dachte sie. Gib es auf. Hier musst du ohne seine Hilfe durch. Du musst es in die eigene Hand nehmen.
Und Morgen war es so weit, und dieser Gedanke ließ sie nicht einschlafen.
Sie brauchte noch eine zusätzliche Decke. Es war viel zu kalt im Zimmer.
Sie stand auf und ging zum Kleiderschrank. Die Bodendielen unter ihren Füßen waren eiskalt. Sie nahm eine schwere Steppdecke vom Regal, breitete sie über dem Bett aus und schlüpfte darunter. Schon besser.
Im unteren Stockwerk polterte irgendetwas gegen einen Tisch.
Sie hörte Schritte. Ein Bodenbrett knarrte.
Sie dachte an die Kälte. Vielleicht lag es gar nicht am Thermostat.
Ein offenes Fenster?
Als sie zu Bett gegangen war, hatte sie alle Fenster überprüft. Schließlich war Winter, und die Fenster waren seit Monaten geschlossen.
Ein Einbrecher.
Arthur.
Sie stand abermals auf und ging so rasch wie möglich zum Kleiderschrank. Die .38er Ladysmith, die er für sie besorgt hatte, lag hinter Schuhen und Bettwäsche versteckt in einem Schuhkarton. Sie hatte die Waffe nicht angerührt seit Arthur weg war, aber sie wusste, dass sie, wie alle seine Waffen, geladen und gesichert war und sich eine Kugel in der Kammer befand.
Der Metallgriff fühlte sich wie Eis an.
Ihre Kehle schnürte sich zusammen, ihr Herz hämmerte plötzlich wie wild, als hätte die Waffe einen Stromstoß abgegeben.
Sie ging zur Treppe. Am liebsten hätte sie sofort nach Robert gesehen, aber sein Zimmer lag am anderen Ende des Flurs und die Tür war verschlossen. Wer auch immer da unten war, würde womöglich den Riegel schnappen hören, wenn sie die Tür öffnete.
Falls jemand da unten war.
Falls sie sich das nicht bloß einbildete.
Nein, dachte sie, du hast eindeutig etwas gehört. Vielleicht hast du ja auch Robert gehört. Klar, es ist Robert da unten.
Doch so richtig überzeugt war sie nicht.
Sie ging die Treppe hinunter, wobei sie sich mit der einen Hand am Geländer festhielt, während sie mit der anderen die Waffe umklammerte. Diese Hand war inzwischen schweißnass.
Auf dem Treppenabsatz vernahm sie das Geräusch von Metall auf Porzellan.
Die Kette der Tischlampe am Fenster.
Sie spähte um die Ecke und brachte die .38er in Anschlag.
Er kniete auf dem Sofa. Reglos. Stützte sich mit den Ellbogen auf die Sofalehne und starrte aus dem Fenster. Rasch ließ sie den Revolver in die tiefe Tasche ihres Nachthemds gleiten und hoffte, dass er den klobigen, dunklen Gegenstand nicht bemerken würde.
Sie ging zu ihm und berührte seine Schulter.
»Robert?«
Er nahm sie überhaupt nicht wahr. Starrte unentwegt weiter aus dem Fenster. Schlafwandelt er?, fragte sie sich. Bitte, lieber Gott, nicht auch noch das.
»Robert?«
»Er ist da draußen«, sagte er.
»Wer?«
Doch sie wusste es bereits.
»Glaubst du, dass er reinkommt?«, fragte er.
»Daddy?«
Er nickte.
Sie sah aus dem Fenster. Der Rasen vor dem Haus und die Böschung bis zur Straße hinunter waren völlig verlassen.
»Wo siehst du ihn denn? Wo ist er?«
»Da.«
Er deutete auf die alte Ulme, die fast in der Mitte der Rasenfläche stand.
»Ich bin wach geworden, da habe ich ihn vom Fenster aus gesehen und bin runtergekommen.«
Er klang einigermaßen gefasst. Aber seine Augen waren weit aufgerissen.
»Er versteckt sich«, sagte er.
»Warte hier.«
Im Flurschrank fand sie ein paar Stiefel. Sie griff sich einen Mantel von der Garderobe und schlüpfte hinein. Robert starrte immer noch aus dem Fenster. Sie steckte den Revolver in die Manteltasche, schloss die Haustür auf und ging hinaus.
Sie zog die Tür so leise wie möglich hinter sich zu.
Mit beiden Händen tief in den Manteltaschen ging sie auf den Baum zu. Stiefel und Mantel richteten gegen die Kälte nichts aus, trotzdem fühlte sich ihr Gesicht an, als würde es in Flammen stehen. Die Hand mit dem Revolver war mittlerweile schweißnass. Erst ging sie schnell, doch je näher sie ihrem Ziel kam, desto mehr verlangsamten sich ihre Schritte.
Sie ging in weitem Bogen rechts um den Baum herum, bis sie dahinter sehen konnte.
Nichts.
Um absolut sicher zu sein, ging sie um die Ulme herum. Umkreiste sie.
Vor Erleichterung bekam sie weiche Knie.
Er war nicht da.
Sie fragte sich, was sie zu ihm gesagt oder mit ihm gemacht hätte, wenn er hier gestanden hätte.
Als sie zum Haus zurückkehrte, dachte sie an das, was Robert gesagt hatte.
Er versteckt sich.
Aber das stimmte nicht. Jedenfalls nicht wortwörtlich. Dieses Mal nicht. Robert hatte ihn sich draußen hinter dem Baum bloß eingebildet, hatte ihn im Traum zweifellos gesehen, und war dann, noch immer verängstigt und schlaftrunken, die Treppe hinuntergegangen. Aber in einem weniger wortwörtlichen Sinn hatte er vollkommen Recht.
Natürlich versteckte er sich.
Näher würde Robert der Wahrheit über seinen Vater wahrscheinlich nie kommen, als dies auszusprechen und zu begreifen.
Es war die größte Anschuldigung, zu der er fähig war.