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Es war bereits kurz vor Sonnenaufgang, als wir die Kellertreppe hinunterrasten und die Wand nach der Metalltür absuchten, über die am Tag zuvor meine Finger geglitten waren.

Nichts.

Ich schluckte. Panik erfasste mich. Rose. Ich durfte Rose nicht verlieren.

Ich trat gegen die Wand, als könne ich die Tür damit zwingen, sich zu zeigen. Nichts.

»Verdammt!«

»Egan«, sagte Deacon. »Geh rauf. Ich bleibe hier. Versuch rauszufinden, wie man reinkommt.«

Ich war schon halb die Treppe hoch, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Durch die Küchentür stürmte ich in den dunklen Schankraum und sah erleichtert, dass Egan dort auf und ab lief. Er drehte sich um, erblickte das Messer in meiner Hand und wurde blass. »Alice!«

»Wie komme ich rein? Wie finde ich die Tür, du verlogener Mörder?«

Er riss die Augen weit auf und ließ das Salzfass fallen, das er gerade geputzt hatte. Der weiße Putzlappen hing in seiner Hand wie eine Friedensflagge. »Ich … was ist los … ?«

Damit war er am Ende seiner Konversationskünste und rannte auf die Eingangstür zu. Aber bevor er sie erreichen konnte, hatte ihn das Messer im Oberschenkel bereits zu Boden geworfen.

Sofort war ich neben ihm und packte den Messergriff. »Sag es mir! Sag es mir, oder ich drehe das Messer so lange hin und her, bis ich eine Arterie erwische. Weißt du, wie kräftig das Blut aus einer Arterie heraussprudelt?«

Er öffnete den Mund, sagte aber nichts.

Ich packte ihn am Kragen und schüttelte ihn. »Wie finde ich sie? Verdammtes Arschloch, wo haben sie das Mädchen?«

»Ich weiß nicht, wovon du redest. Alice, mein Schatz, was ist denn bloß in dich gefahren?«

Ich beugte mich vor, bis mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. »Etwas, das nicht Alice ist, du verlogenes Schwein. Das ist in mich gefahren.« Ich knallte ihm die Hand auf Höhe des Herzens gegen die Brust und sah ihm tief in die Augen. Er versuchte, den Kopf wegzudrehen, aber es war zu spät - ich war bereits in die Hölle seiner Gedanken hinabgestiegen, seiner Verbrechen, die zu strafen ich gekommen war. Bilder und Gedanken vermischten sich, wirbelten durcheinander und zogen mich in einen Sumpf aus Gier und Verzweiflung, der meine schlimmsten Befürchtungen bestätigte.

Er hatte seine Schwester umgebracht, als sie sich geweigert hatte, das Pub zur Basisstation für dämonische Aktivitäten zu machen.

Und er hatte nicht eine Sekunde gezögert, als die Dämonen ein bestimmtes Mädchen von ihm verlangt hatten: Alice.

Er hatte sie verkauft, im Glauben, sie sei ein traditionelles Opfer. Hatte geglaubt, sie sei für denselben Zweck bestimmt wie die anderen Mädchen, die er verkauft hatte, um das Pub zu finanzieren.

Er hatte seine eigene Nichte verkauft, damit sie von den Händen der Dämonen starb, und für Gracie hatte er das gleiche Schicksal vorgesehen.

Und als er sie nicht hatte finden können, hatte er sich ein hilfloses, angeschlagenes Mädchen geschnappt, das auf der Suche nach einer Freundin ins Pub gekommen war.

Die Drecksau hatte meine Schwester geopfert, um sich die Dämonen vom Hals zu halten.

Ich konnte vor Wut nicht mehr klar denken. Ich wollte ihm nur noch die Hände um den Hals legen und zudrücken.

Ich zwang mich, mich zu konzentrieren. Verzweifelt versuchte ich, die Kontrolle über meine Visionen zu erlangen, schließlich hatte Madame Parrish behauptet, dass ich das könne. Ich durfte noch nicht aufgeben, nicht bevor ich wusste, wie sich die Tür öffnen ließ.

»Komm schon!«, flüsterte ich lautlos. »Komm schon, du Drecksack!«

Sein Bewusstsein zog sich vor mir zurück, aber ich folgte ihm durch die dunklen Flure seines Gehirns, die von Gier, Bedauern und Angst verstopft waren. Das undeutliche Bild schwankte, dann wurde es klarer, und jetzt war ich im Keller, im Flur. Er war dort und doch nicht dort, wollte mir entkommen, wollte mit jeder Faser seines Körpers weg, zerrte so sehr, dass es durch meinen Kopf dröhnte und in meinem Körper widerhallte.

»Zeig es mir! Zeig es mir …« Ich richtete meine ganze Energie darauf, ließ ihn nicht los. Inzwischen war ich schon total erschöpft. Aber ich hatte ihn - und beobachtete, wie er sich in die Handfläche schnitt und das Blut an die Wand schmierte. Der Fels schien zu schmelzen, und dahinter wurde eine Metalltür mit seltsamen Zeichen sichtbar.

Hab ich dich!

Ich zog die Hand zurück und unterbrach damit die Verbindung. Ich wollte nur weg von diesem Mann. Raus aus seinem Kopf.

Die Uhr an der Wand tickte unheilvoll. Die Zeremonie würde allmählich beginnen, ich musste mich beeilen.

Egan wehrte sich, als ich ihn hochhob, und ich war dankbar für die Kraft all der Dämonen, die ich getötet hatte. Ich drehte das Messer, das noch immer in seinem Oberschenkel steckte. Sein Schrei zerriss mir schier das Trommelfell, aber er rührte sich nicht, als ich ihn die Treppe hinunterzerrte und vor der Tür fallen ließ.

»Mach sie auf!«, befahl ich.

Er spuckte mir auf die Schuhe.

»Dann will ich dir mal helfen.« Für Spielchen war jetzt keine Zeit mehr, und ich war mit meiner Geduld am Ende. Ich packte seine Hand und schnitt ihm tief in die Handfläche. Seinen Schrei überhörte ich einfach. Dann drückte ich seine blutige Hand an der Stelle gegen den Fels, die ich in der Vision gesehen hatte.

Zunächst geschah überhaupt nichts. Dann löste sich der Fels wie in einem beängstigenden Déjà-vu auf, und die nun schon vertraute Tür wurde sichtbar.

Ich fuhr mit der Hand darüber, suchte nach einem Griff, ertastete ihn und drückte die Tür vorsichtig auf. Ein weiterer Flur.

»Soll ich ihn mitnehmen?«, fragte Deacon und zog Egan hoch.

Ich drehte mich um und sah Alice’ Onkel an. »Der ist nur überflüssiger Ballast.« Ich blickte Egan in die Augen. »Ich bringe dich um.«

Egan schluckte. »Bitte«, flüsterte er. Er zitterte am ganzen Körper.

Ich dachte an Lucas Johnson, an die Rache, die mich befleckte.

Ich dachte an Alice.

Ich dachte an die Zerrbilder, die ich in Egans Erinnerung gesehen hatte.

Ich dachte an meine Erlösung.

Und dann, Gott steh mir bei, setzte ich ihm die Klinge an den Hals und schnitt dem Dreckskerl die Kehle durch.

Er sank in sich zusammen. Ich trat zurück, und Deacon ließ ihn los. Wie ein Stück Abfall sank die Leiche zu Boden. Deacons und mein Blick trafen sich. Deacon deutete ein Nicken an. Egal, was irgendjemand sonst denken mochte, in seinen Augen - und in meinen - hatte ich das Richtige getan.

Wir rannten den Flur entlang. Wir versuchten gar nicht erst, leise zu sein, jetzt kam es auf Schnelligkeit an. Wir konnten nur hoffen, dass die Dämonen das Dröhnen unserer Füße nicht hörten. Wenn wir uns heimlich anschlichen, war das Ritual vielleicht schon vorbei, bis wir dort waren. Wenn wir mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahindonnerten, würde die Zeremonie vielleicht frühzeitig mit einem Messer in Rose’ Hals enden, und sei es nur, um ihre Möchtegernbefreier zu bestrafen.

Mit ein bisschen Glück hatten wir einen Mittelweg gefunden: schnell, aber nicht zu laut. Und wenn wir noch ein bisschen mehr Glück hatten, würden die rituellen Gesänge unser Näherkommen übertönen.

Ich konnte nur hoffen, dass wir Glück haben würden, denn ohne das war Rose so gut wie tot. Damit, dass die Engel einschreiten und sie retten würden, brauchte ich wohl nicht zu rechnen. Mich hatten sie schließlich auch nicht gerettet.

Der Flur endete vor einer dicken Holztür. Sie war geschlossen, aber nicht zugesperrt. Wir rissen sie auf und stürmten Seite an Seite in den Raum.

Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich beinahe stolpern: Rose war auf einem Steintisch festgeschnallt, trug ein langes weißes Gewand und war von einem unirdischen silbernen Glühen umgeben. Sie kämpfte gegen ihre Fesseln und schrie durch einen Knebel aus weißem Stoff hindurch. Ein Zeremonienmesser senkte sich soeben herab, das von zwei Dämonen mit schwarzen Kapuzen gemeinsam geführt wurde.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums stand eine Tür offen, und noch während ich nach dem Messer der Dämonen hechtete, sah ich dort eine Gestalt in schwarzem Umhang verschwinden.

Darüber konnte ich mir jetzt keine Gedanken mehr machen. Ich sprang auf den einen Dämon, und das Messer rasselte zu Boden. Deacon lief auf die andere Seite des Tisches und schnappte sich den zweiten Dämon. Ich versuchte, den Dämon daran zu hindern, sich das Zeremonienmesser zurückzuholen, und hörte gleichzeitig, wie Deacon jenseits des breiten Steintisches dasselbe versuchte.

Aber um Deacon konnte ich mich jetzt nicht auch noch kümmern. Die Kapuze fiel dem Dämon in den Nacken, und ich stellte fest, dass ich mit Tank kämpfte. Ich hatte meine Waffe gezogen, wollte diese Bestie unbedingt töten und mich Rose zuwenden, doch er wehrte sich mit Händen und Füßen.

Er warf sich zur Seite, rollte sich ab, packte meine Hand und verdrehte mir das Gelenk, bis ich das Messer loslassen musste. Dann setzte er sich rittlings auf mich. Mit einer Hand versuchte ich, ihn abzuwehren, mit der anderen tastete ich nach meinem Messer.

Stattdessen stießen meine Finger auf das Zeremonienmesser, und in meiner Verzweiflung stach ich damit zu. Es schnitt durch seine Nase und blieb in seinem Gehirn stecken.

Er fiel hintenüber, und ich kam nach Luft schnappend auf die Füße. Mein Messer lag in der Nähe der Wand. Ich machte einen Satz, packte es und rammte es Tank tief ins Herz. Mit einem leisen Zischen lief der Schleim aus ihm heraus. Gleichzeitig spürte ich seine Kraft und seine Gemeinheit in mich einfließen. Ich raste zu Rose und holte mich wieder auf den Boden zurück, indem ich ihr ins Gesicht sah. In die Augen.

»Rose«, flüsterte ich, als ich den Knebel aus ihrem Mund zog.

Was auch immer das silbrige Glühen gewesen sein mochte - jetzt war es jedenfalls weg. Sie hörte auf, an den Fesseln zu zerren, und starrte mich mit jetzt sogar noch weiter aufgerissenen Augen an. »Lily?«, hauchte sie.

»Ich … mein Name ist Alice. Erinnerst du dich noch?«

»Er war hier, Lily! Lily, er ist es! Er war hier. Er hat etwas gemacht. Er war hier. Er hat irgendwas in mich reingetan.« Sie sprach gehetzt, und ihre Augen blickten angsterfüllt.

Ich wusste auch so, von wem sie sprach, fragte aber trotzdem.

»Lucas Johnson«, antwortete sie.

»Ich bin jetzt bei dir«, sagte ich bestimmt, während ich die Knoten ihrer Fesseln aufknüpfte. »Du bist in Sicherheit.«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Ich werde nie mehr frei sein. Nie mehr in Sicherheit.« Sie legte den Kopf auf die Seite, sodass nur noch ein Auge zu mir hochsah, und bei dem Anblick musste ich an einen kalten, toten Fisch denken. Ich zitterte - vor Scham und weil ich plötzlich fürchterliche Angst hatte.

»Er ist in mir, Lily«, flüsterte sie. »Er hat etwas in mich hineingetan. Sich selbst. Ein Teil von sich selbst. Oh Gott, Lily, das brennt!«

»Rose, nein. Du bist in Sicherheit. Ich bin bei dir. Du bist in Sicherheit.« Aber sie hörte mich nicht. Wie hätte sie mich auch über ihren lauten Schrei hinweg hören sollen?

Und dann war das Schicksal so gnädig, sie in Ohnmacht fallen zu lassen.