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Als ich wach wurde, lag ich auf dem Boden eines Badezimmers vor einer Kloschüssel. Mein Magen fühlte sich seltsam leer an, im Mund hing noch der Geschmack von Galle.

Ansonsten konnte ich mich nicht beklagen. Die Tatsache, dass ich noch lebte - trotz Lucas Johnson, trotz dieses unheimlichen Monsters und trotz des merkwürdigen Froschmännchens -, schien mir Grund genug zu feiern.

Gleichzeitig fragte ich mich jedoch, ob ich das alles nicht bloß geträumt hatte.

Genau, dachte ich, das muss ein Traum gewesen sein.

Ich setzte mich auf und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Es war länger als erwartet. Ich betrachtete meine Hand, nur um feststellen zu müssen, dass sie keineswegs meine war. Gleiches galt für meine Fingernägel, die zartrosa lackiert waren. Und erst dieser Hello-Kitty-Pyjama, den ich trug! Das war ganz bestimmt nicht mein Stil.

Die Erinnerung, wie elend ich mich gefühlt hatte, als ich um mein Leben rannte, brachte die Übelkeit zurück. Ich klammerte mich ans Waschbecken und zog mich hoch. Und dann starrte ich das Gesicht an, das mir entgegenblickte.

Wer zum Henker ist das?

Die Frau, die ich normalerweise im Spiegel sah, hatte zehn Pfund zu viel, die sich hartnäckig weigerten zu verschwinden - wahrscheinlich, weil dieselbe Frau sich weigerte, auf die Schokoriegel zu verzichten, die sie hei Movies & More unter der Theke gebunkert hatte. Die Ohren dieser Frau waren doppelt gepierct, und in einem Nasenflügel steckte ein kleiner, geschmackvoller Knopf. Das dichte hellbraune Haar war ultrakurz geschnitten und somit extrem pflegeleicht.

Doch diese Frau blickte mir nicht mehr entgegen.

Stattdessen hatte das Gesicht im Spiegel perfekt gestufte kohlrabenschwarze Haare, die bis auf die Schultern fielen und so glänzend und anmutig hin-und herschwangen wie in der Shampoo-Werbung. Grüne Augen schauten unter gezupften Brauen hervor, die sich entweder aus Interesse oder Geringschätzung wölbten. Der Teint war makellos, kein Anzeichen von der geröteten Haut, die ich gewohnt war. Und die Ohren zierten winzige Diamantknöpfe.

Ich fühlte mich seltsam benommen und merkte, dass ich hyperventilierte. Schnell setzte ich mich auf den Klodeckel, steckte den Kopf zwischen die Knie und zwang mich, gleichmäßig zu atmen.

Was zum Geier …?

Was zum Geier ist hier los?

Ich konnte nicht jemand anders sein. Das war unmöglich! So etwas gab es nicht. Es war nicht wirklich.

Ich hin ich.

Ich, dachte ich. Und ich konnte es beweisen.

Fieberhaft riss ich das Hello-Kitty-Oberteil hoch und entblößte meinen Bauch. Meine Finger strichen über straffe, makellose Haut, die niemals von einem Messer aufgeschlitzt worden war. Verwirrt und verzweifelt schob ich die locker sitzende Hose nach unten und suchte nach Verletzungen. Nichts. Aber ich konnte mich doch genau erinnern! Dieser sengende Schmerz. Johnsons Grinsen, als er mir das Messer reingerammt hatte. Und der beißende Gestank von Blut und Galle, der aus meinem Körper strömte. Ich begann zu zittern, ein Zittern, wie es aus dem tiefsten Innern kommt. Solche Dinge passierten nicht, niemandem. Solche Dinge passierten überhaupt nicht.

Ich hatte mich in jemand anderen verwandelt.

Verdammte Scheiße!

Gut möglich, dass mein Körper völlig ausgeblutet war, doch mein Wesen lebte weiter, steckte gesund und munter in dieser Fremden, die mir von Sekunde zu Sekunde vertrauter wurde.

Ich verstand nicht, wie das alles möglich war, aber der Wahrheit, die mir aus dem Spiegel entgegenblickte, konnte ich nicht aus dem Weg gehen. Das war ich. Egal, wie ungewohnt sie auch aussehen mochte, dieser Körper mit dem süßen Pyjama, den perfekt geschnittenen Haaren und dem unversehrten Bauch beherbergte jetzt mich.

Großer Gott, wie war das möglich?

Und überhaupt: Warum?

Am ganzen Körper zitternd wandte ich mich um und entdeckte auf dem Boden das zusammengeknüllte weiße Kleid. Das Beben steigerte sich fast zu einem krampfartigen Zucken. Am Oberteil prangte unübersehbar ein roter Fleck. Mein Mund war trocken. Oh Gott, oh Gott, oh Gott!

Rasch drehte ich mich wieder zum Spiegel und streifte mir das T-Shirt über den Kopf. Wie schon der Bauch war auch mein Busen - genauer gesagt: dieser Busen - ohne jeden Kratzer. Zu sehen war lediglich eine kleine Tätowierung auf der linken Brust. Als ich genauer hinschaute, erkannte ich, dass die Tätowierung ein kleiner Dolch war. Nicht gerade das, was ich von einer Frau erwartet hätte, die Hello-Kitty-Schlafanzüge trug und offenbar auf Schaumbäder stand, aber kaum eine Schandtat.

Tatsächlich zeigte der ganze Körper nicht eine Spur von Gewaltanwendung. Ganz bestimmt nichts, das darauf schließen ließ, dass die Frau erst kürzlich mit einem Messer oder Dolch angegriffen worden wäre. Aber wie war das möglich? Sie war von oben bis unten mit Blut bedeckt gewesen. Beziehungsweise ich. Ein Opferlamm, das man an eine kalte Steinplatte gefesselt hatte. Ein Festbraten für ein Ungeheuer.

Da musste doch ein Schnitt sein! Ein Stich. Irgendwas.

Aber da war nichts. Nur meine Erinnerungen, und die waren voller Lücken und verblassten zusehends.

Ich ließ mich auf die Knie sinken, lehnte die Stirn an die kühlen Fliesen und umklammerte das Opfergewand. Ich bemühte mich verzweifelt, mich zu erinnern, meine Gedanken zu ordnen. Und wenigstens einen Hauch von Normalität in eine vollkommen unnormale Situation zu bringen.

Meine Erinnerungen. Mein Leben. Mein ganz persönlicher Albtraum.

Lucas Johnson. Rose. Das Entsetzen in ihren Augen. Meine Wut. Mein Versprechen, sie zu beschützen.

Sein spöttisches Knurren, bevor ich den Abzug drückte, um ihn ins Jenseits zu schicken. Und das eisige Glitzern des Stahls, bevor er mir das Messer tief in den Leib stieß. Die schreckliche Gewissheit, dass ich im Sterben lag, während er, trotz all meiner Bemühungen, am Leben blieb.

Etwas Neues drängte sich in mein Gedächtnis - das Gefühl zu fallen, das Schlagen von Flügeln, die gegen die abgestandene Luft ankämpften, ein strahlend helles Licht, das mich zugleich wärmte und blendete. Eine sanfte Stimme stieg aus diesem Licht empor. Eine Stimme, die zu einem wunderschönen Gesicht und zarten Flügeln gehörte. Ein Engel. Er bot mir an, mich am Leben zu lassen, mich den leckenden Flammen der Hölle zu entreißen.

Er bot mir eine Zukunft und eine Gelegenheit, meine zahlreichen Sünden zu sühnen. Lüge, Diebstahl, Drogenmissbrauch.

Ach ja - und ein vorsätzlicher Mordversuch.

So ganz verstand ich zu diesem Zeitpunkt nicht, welche Vereinbarung ich getroffen hatte. Aber ich entschied mich für das einzig Mögliche.

Ich entschied mich für das Leben. Doch als ich mich wieder erhob und erneut das Gesicht im Spiegel betrachtete, musste ich zugeben, dass das nicht unbedingt dem entsprach, was ich erwartet hatte