39
»Lily.« Als er meinen Namen flüsterte, klang das wie ein leiser Schwur.
»Ich meine es ernst«, raunte ich. »Ich schwöre es. Ich bringe diese Schweine um! Ich mache sie kalt! Die haben mich verarscht, und Rose ebenfalls. Sie sind schon so gut wie tot.«
Er sah mich an. »Ich helfe dir«, sagte er schließlich.
Unsere Blicke trafen sich. Ich nickte. »Ich weiß«, entgegnete ich und nahm seine Hand. Die Schockwelle der Berührung durchflutete meinen Körper von Kopf bis Fuß.
»Sind sie jetzt mit mir fertig?«, fragte ich, als ich mich einfach nicht länger beherrschen konnte. »Nachdem ich nun ganz allein die beste Chance zerstört habe, die Neunte Pforte zur Hölle zu schließen, werden sie da versuchen, mich umzubringen? Werden sie beschließen, sie können nicht riskieren, dass ich die Wahrheit rausfinde?«
»Das bezweifle ich.«
»Wieso?«
»Weil sie dich brauchen. Wieso sollen sie sich mit einer Pforte zufriedengeben? Sie werden versuchen, den Schlüssel zu den anderen acht zu finden.«
Ich hatte ihm von meinem Arm erzählt, und jetzt streckte ich ihn aus und betrachtete die zurzeit unbeschädigte Haut. »Glaubst du, dass Clarence dafür auch eine magische Formel hat?«
»Wenn nicht, arbeitet er sicher daran.«
»Und der Schlüssel? Die Legende, von der du gesprochen hast, über einen Schlüssel, der alle neun Pforten verschließen würde? Glaubst du, dass er dafür auch die Beschwörungsformel kennt?«
Deacon sah mich an und legte den Kopf auf die Seite. Sein Gesichtsausdruck war so verschlagen, wie ich mich fühlte. »Könnte durchaus sein.«
»Ich kann sie aus seinem Kopf holen.«
»Nein! Das ist viel zu gefährlich. Er sieht dich kommen. Und er hört dich kommen. Du hast doch gesagt, dass er deine Gedanken lesen kann, oder?«
Ich nickte. Mir wurde richtig schlecht, wenn ich mir vorstellte, dass meine kindischen Versuche, ihn aus meinem Kopf rauszuhalten, vielleicht nicht von so viel Erfolg gekrönt gewesen waren, wie ich geglaubt hatte. Clarence hatte meine Gedanken über Deacon sehen können - das wurde mir jetzt klar. Aber anstatt direkt zum Angriff überzugehen, hatte er meinen Weg mit kleinen Bomben gepflastert. Deacon war ein Dämon. Deacon hatte Alice getötet.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Clarence über die Visionen Bescheid wusste, aber er wusste auf jeden Fall mehr, als er zugab. Und wenn ich jetzt zurückkehrte, mit einem Gehirn wie ein offenes Buch, war ich so gut wie tot.
»Am Anfang wollte er dich noch nicht töten«, sagte ich. »Warum?«
»Ich weiß es nicht. Was hat er denn gesagt?«
»Dass du stark bist.«
»Das bin ich ja auch.«
»Aber später hat er dann behauptet, du hättest Alice getötet. Was hatte sich geändert?«
Ein Schatten huschte über Deacons Gesicht. »Er muss herausgefunden haben, dass ich ihn bekämpfe. Dass ich daran gearbeitet habe, die Pforte zu schließen, und dass ich dich aufgehalten hätte, wenn ich gekonnt hätte.«
Ich nickte. Das ergab durchaus Sinn. »Er wusste es. Er wusste, was ich für dich empfinde, und hat mich gegen dich ausgespielt.«
»Deshalb wird er dich auch kommen sehen«, entgegnete Deacon. »Und deshalb musst du ihn töten, nachdem du in seinem Kopf warst.«
» Oh, töten kann ich ihn. Das ist nicht das Problem.« Ich runzelte die Stirn. »Und du kannst mir vermutlich helfen, ihn nicht in meinen Kopf zu lassen. Ich muss einen Geheimnishüter finden. Einen Alashtijard. Weißt du, wie ich das am besten anstelle?«
Deacon sah mich ausdruckslos an. »Ist dir klar, wonach du da fragst?«
Ich nickte.
»Der Alashtijard sitzt nur da und meditiert. Er tut nichts, außer dass er die Geheimnisse bewahrt, die ihm von anderen Dämonen anvertraut werden. Er ist völlig passiv. Und er verlässt nie seinen Schlupfwinkel.«
»Ich weiß.«
»Er tut niemandem weh. Er tötet niemanden. Außer er wird angegriffen. Dann, Lily, wird er sich verteidigen.«
Ich stand auf und lief wieder auf und ab. Das hatte ich nicht gewusst, und mir zog sich der Magen zusammen. »Ich muss es tun. Wenn ich ihn nicht töte - wenn ich es nicht schaffe, auf die einzige mögliche Art mein Gehirn vor Clarence zu verschließen -, dann sind wir am Ende, bevor wir überhaupt angefangen haben.«
»Lily …«
»Nein. Die Liste meiner Sünden ist sowieso schon endlos lang, Deacon. Wenn ich dieses Wesen töte, ja, dann wird sie noch länger. Aber ich muss es tun. Ich muss Johnson umbringen. Ich muss Rose retten. Ich muss herausfinden, wer Alice das angetan hat. Und vor allem muss ich die Pforte schließen. Ich muss alles wiedergutmachen, was ich falsch gemacht habe, Deacon, muss wieder in Ordnung bringen, was ich verbockt habe. Und wenn ich dafür das Werkzeug eines Dämons töten muss, dann, glaub mir, werde ich nicht eine Sekunde zögern.« Ich holte tief Luft. »Ich werde ihn finden. Auch ohne deine Hilfe. Aber mit deiner Hilfe geht es schneller.«
Er schwieg einen Moment lang, dann sagte er: »Na gut. Gehen wir.«
»Es reicht, wenn du mir sagst, wo ich ihn finde.«
»Ich komme mit.« Er sprach es nicht aus, aber ich verstand es auch so: Auch er würde sein Gewissen mit diesem Mord belasten. Wir waren jetzt Partner, auf Gedeih und Verderb.
»Glaubst du, Alice hat gemerkt, dass die Frau in der Vision nicht sie war?«, fragte ich, als Deacon mich aus dem heruntergekommenen Gebäude herausführte. »Ob sie geahnt hat, dass jemand sich ihren Körper unter den Nagel reißen würde?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht war es das, was ihr Angst gemacht hat.«
»Sie hatte eine Datei auf ihrem Computer«, sagte ich und spürte, wie mein Schuldgefühl wuchs. »Ein Foto, und dein Name war das Passwort für die Datei. Die Datei selbst heißt >Für Samstag<. Das war der Tag, an dem sie dich versetzt hat.«
Er runzelte die Stirn. »Wirklich?«
»Willst du dir das Foto mal ansehen? Vielleicht weißt du ja, wer darauf zu sehen ist. Und was es bedeutet.«
»Natürlich.«
Ich versuchte, mich auf den Mann auf dem Foto zu konzentrieren. Die narbige Haut. Diese schweren Augenlider. Irgendwo hatte ich ihn gesehen …
»Tank.« Endlich war der Groschen gefallen. »Tank ist der Mann auf dem Foto. Ich wusste doch, dass er mir irgendwie bekannt vorkam. Das lag daran, dass ich ihn ein paar Tage vorher auf dem Foto gesehen hatte.«
»Tank«, wiederholte Deacon nachdenklich.
»Kennst du ihn?«
»Ich habe ihn im Pub gesehen und so einiges über ihn gehört.«
»Mein erster Eindruck von ihm war nicht unbedingt der beste.«
»Meiner auch nicht«, stimmte Deacon zu. »Er ist auch kein guter Mensch. Er hat überall seine Finger drin, von Zauberformeln bis zu Drogen. Ein rundum übler Typ.«
»Ich glaube, er hat Egan in irgendwas Schlimmes mit reingezogen. An Drogen habe ich übrigens zuerst gedacht.«
»Warum? Was war los?«
»Ich habe sie streiten hören. Dass Egan ihm was schuldet und dass er ihm die Hölle heiß machen wird, wenn Egan keine bessere Ware liefert.«
»Um Drogen geht es nicht«, entgegnete Deacon. »Obwohl das auch passen würde. Vielleicht Kräuter.«
»Kräuter? Wie Oregano und Basilikum?«
»Schon etwas Spezielleres. Für zeremonielle Zwecke.«
Ich runzelte die Stirn. »Ich dachte, Egan hätte nichts mit schwarzer Magie zu tun. Ich dachte, darüber hätten er und Alice’ Mom sich gestritten.«
»Ich glaube, das haben sie auch. Aber ich glaube auch, dass Egan gern sein Fähnchen nach dem Wind hängt, und das Pub ist öfter mal in Geldnot. Er ist sich nicht zu fein, die Dämonentruppe zu beliefern. Er besorgt gewisse Kräuter und verkauft sie seiner Kundschaft unter dem Tresen für rituelle Zwecke.«
Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Hast du auch welche bei ihm gekauft?«
»Nein. Aber ich halte immer die Ohren offen.«
»Wieso, denkst du, wollte Alice wohl mit dir über Tank reden?«
Deacon schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber sobald wir uns um Clarence gekümmert haben, statten wir Tank einen Besuch ab und fragen ihn.«
Ich nickte. Ich fühlte mich, als hätte man mich durch den Reißwolf gedreht. »Die Ärmste!« Ich rieb mir den Nasenrücken und versuchte, mich nicht von der Traurigkeit überwältigen zu lassen. »Sie wollte genau das Gleiche tun wie ich jetzt - sie wollte die Bösen aufhalten und diese blöde Pforte schließen. Und deshalb ist sie gestorben. Sie ist gestorben, damit sie mich erschaffen konnten. Und jetzt steht die Pforte noch immer sperrangelweit offen, und das ist alles meine Schuld.«
Die Tränen waren wieder da. Deacon schlang seinen Arm um meine Taille, gab mir das Gefühl, in Sicherheit und gewollt zu sein. Ich schmiegte mich an ihn und versuchte, mich dem Horror zu stellen, was aus mir geworden und wie es dazu gekommen war. Und wen man geopfert hatte, damit ich leben konnte.
»Diese schleimigen, dreckigen, widerlichen Arschlöcher!« Ehrlich gesagt gab es keinen Fluch, der die Abscheulichkeit meiner Peiniger auch nur ansatzweise hätte ausdrücken können. »Sie war doch erst zweiundzwanzig! Sie hatte einen Studienplatz in Harvard bekommen. Wusstest du das?«
Er schüttelte den Kopf und sah mich hilflos an.
»Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, und sie haben es ihr einfach genommen.«
»So sind sie eben. Selbst wenn sie nicht töten, sind sie so.«
»Das werden sie mir büßen! Ich werde herausfinden, wer von denen sie getötet hat, und wer auch immer es war: Er wird mir das gnadenlos büßen.«
Nachdem wir etwa eine Stunde gelaufen waren, nahmen wir einen Zug der T-Linie und fuhren in eine Gegend von Boston, die ich nicht kannte. Wir stiegen aus und ignorierten die Blicke der Leute, die uns anstarrten, weil wir beide zerrissene und dreckige Klamotten trugen und völlig erschöpft aussahen.
Wir überquerten ein paar größere Straßen und durchschritten einen Park, in dem Paare spazieren gingen und Jogger ihre Runden drehten.
Dann kamen wir zu einer Überführung, unter der ein Fußgängerweg hindurchführte. Wir ließen den hellen Tag hinter uns und traten in die Dunkelheit. Über uns donnerten die Autos hinweg. Ich hatte erwartet, dass wir weitergehen würden, aber Deacon blieb mitten unter der Brücke stehen.
»Hier«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Beton, der die Straße über uns abstützte.
Ich konnte keinen Dämon erkennen. »Wo?«
»Hinter der Einstiegsklappe«, antwortete er und deutete, diesmal mit dem Finger, nach oben. Jetzt sah auch ich es: eine viereckige Metalltür, etwa ein Viertel so groß wie eine normale Tür. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich den Warnhinweis lesen, mit dem allen Unbefugten der Zutritt untersagt wurde.
»Da drin?«, fragte ich zweifelnd.
»Das ist ein Raum, in dem das Zubehör für die Straßenlaternen gelagert wird. Er hat eine Verbindung zur Kanalisation. Dazwischen ist eine Nische, und dort finden wir den Geheimnishüter.«
Ich nickte und kletterte den steilen Abhang hoch. An der Metalltür angekommen stellte ich fest, dass sie keinen Griff hatte. Praktischerweise hatte jemand in der Nähe eine Brechstange liegen lassen, mit der ich die Tür aufstemmte. Das Kreischen des Metalls ließ mich schaudern.
Ich beugte mich hinunter, doch bevor ich hineinkletterte, drehte ich mich noch einmal zu Deacon um. »Tun wir das Richtige?«, fragte ich.
»Egal, ob es richtig oder falsch ist - wenn du dich rächen willst, bleibt dir nichts anderes übrig.«