37
Schwärze.
Stille.
Und dann irgendetwas.
Nadelstiche aus Licht.
Gemurmel.
Gebrabbel. Stimmen. Unsinn.
Beschwörungsformeln.
Mit einem Schlag kam ich wieder zu mir, und alles war wieder da. Die Dämonen. Die Zeremonie. Die Schusswaffe.
Und, natürlich, die Pforten zur Hölle.
Ich ließ die Augen geschlossen und überlegte, in welcher Situation ich mich befand. Ich lag auf etwas Hartem, Kaltem. Vermutlich der Boden, zumal ich in der Nähe meines Kopfes Füße schlurfen hörte. Auf meinem Bauch spürte ich etwas Schweres, das ich mir wahnsinnig gern angesehen hätte. Aber ich ließ es. Bevor ich handelte, musste ich erst nachdenken, denn ich war mir sicher - verdammt sicher -, dass ich nur eine einzige Chance bekommen würde, doch noch den Sieg für mein Team einzuheimsen.
Mein größter Vorteil war ganz offensichtlich, dass sie mich für tot hielten. Aber schon bald würde irgendjemand merken, dass meine Wunde verheilt war und mein Herz schlug.
Ich lauschte und war mir sicher, dass ich nach wie vor nur drei Stimmen hörte. Der verletzte Vasall stand bei meinen Füßen, sein Atem ging schwer. Der kräftige Vasall stand in der Nähe meiner rechten Hand, der Priester in der Nähe meiner linken, und sie murmelten etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand.
Mein Messer lag irgendwo auf dem Boden, aber im Knöchel-holster hatte ich ein weiteres. Und ich hatte das Überraschungsmoment auf meiner Seite.
Was ich nicht hatte, war Zeit. Und da ich nicht noch mehr davon vergeuden konnte, öffnete ich die Augen und haute mit dem rechten Arm den Vasallen zu meiner Rechten um, während ich gleichzeitig mit der anderen Hand versuchte, an meinen Knöchel zu kommen. Das gelang mir nicht. Doch stattdessen schnappte ich mir das Zeremonienmesser, das der Vasall hatte fallen lassen, und rammte es ihm in die Kehle. Blut spritzte heraus, lief über meine Hand und reizte meine Sinne.
Ich warf die Athame fort und streckte den Arm nach meinem Messer aus, wobei ich mir das Blut des Vasallen an meiner Jeans abwischte. Um die Schatulle zu zerstören, brauchte ich mein eigenes Blut, nicht das eines Dämonendieners.
Links von mir hatte sich der Priester nach vorn statt nach hinten geworfen, um die Schatulle von Shankara zu packen, die, wie mir plötzlich klar wurde, das schwere Ding auf meinem Bauch war.
Ich schnappte sie mir, rollte mich zur Seite und über den blutigen toten Dämon hinweg und sprang auf. Sofort stürzten sich sowohl der Hohepriester als auch der verletzte Vasall auf mich.
Meine Hand war bereits verheilt, und so blieb die Schatulle unbeschädigt. Ich warf sie zu Boden und jagte meine Klinge durch meine Handfläche und mitten durch die Schatulle. Der Hohepriester schrie protestierend auf.
»Tu das nicht!«, schrie der Vasall und stürzte auf mich zu, die Augen auf die Schatulle gerichtet. Ich zog das Messer aus meiner Hand, ohne auf den Schmerz zu achten, und schlug ihm mit der Schatulle den Schädel ein. Noch während ich das tat, fiel sie auseinander, als würde goldener Staub durch meine Finger rieseln - ein antikes Überbleibsel, dessen Zeit gekommen war.
Befriedigt wandte ich mich dem Hohepriester zu.
»Es ist vorbei!«, sagte ich. »Du hast verloren.«
Er starrte mich an, die Augen trüb, die Haut faltig und ledrig. Er sagte nur ein Wort, wiederholte es wieder und wieder, wobei er den Kopf von einer Seite zur anderen bewegte: Nein.
Das Messer angriffsbereit in der Hand bewegte ich mich auf ihn zu. Diese Sache war noch nicht vorbei. Ich wollte mehr. Ich wollte ihn.
»Bitte«, flüsterte er.
»Bitte?«, wiederholte ich. »Du glaubst, wenn du Bitte sagst, lasse ich dich am Leben? Du hast versucht, die Pforten zur Hölle zu öffnen!«
»Nein!« Das schien gar nicht von dem Priester selbst zu kommen, sondern überall um mich herum zu ertönen, als würden die Dämonen, die ich abgeschlachtet hatte, lauthals protestieren.
Der Priester starrte mich mit wilden, weit aufgerissenen Augen an. »Nein, nein! Du verstehst nicht! Ich werde nicht…«
»… zu Ende führen, was du angezettelt hast«, beendete ich seinen Satz, während ein letztes Nein durch den Raum hallte. Ich beachtete es nicht weiter, und meine Klinge fuhr dem Priester ins Herz und bohrte sich hinein wie in weiche Butter. Mit ungläubigem Gesichtsausdruck brach er zusammen.
Tja, glaub es ruhig, Bruder.
Mein Körper krampfte, und ich holte tief Luft. Unsägliche Trauer über einen nicht zu Ende gebrachten Auftrag erfüllte mich, und gleichzeitig hatte ich das gute, sichere Gefühl, dass - egal was passierte - am Ende das Licht die Finsternis besiegen würde. Dieses Gefühl wärmte mich, beruhigte mich und - ehrlich gesagt - verwirrte mich. Ich spürte nicht die rasende Wut, die normalerweise von mir Besitz ergriff, wenn ich einen Dämon tötete. Dieses Mal empfand ich so etwas wie Frieden. Reue, das schon auch. Aber noch etwas anderes. Das Gefühl, dass letztendlich das Gute die Oberhand behalten würde.
Dieses Gefühl konnte ich nur als Glauben bezeichnen.
Das war, da war ich mir sicher, meine Belohnung. Der Beweis, dass ich die Pforte gesichert hatte. Die Engel, dachte ich, singen.
Ich wollte dieses Gefühl genießen. Wollte mich darin sonnen wie jemand, der sich in einer Höhle verlaufen hat und schließlich ans Tageslicht zurückfindet.
Aber dazu blieb mir keine Zeit. Stattdessen sah ich ein Messer aufblitzen, das genau auf meinen Kopf zukam. Und ich sah den Mann, der es schwang. Deacon.
In diesem Moment begriff ich, von wo das letzte Nein gekommen war. Nicht von dem Dämonenpriester, sondern von Deacon. Der jetzt Rache üben wollte.
Bevor ich reagieren konnte, presste er die Spitze seines Messers gegen meine Halsschlagader, wobei er mich fest umklammert hielt. Es war fast schon eine intime, sexuelle Umarmung, und plötzlich bedauerte ich alles Mögliche, vor allem aber, dass ich so blöd gewesen war. Dass ich einem Dämon getraut hatte, noch dazu einem Tri-Jal.
»Wenigstens weiß ich jetzt, dass du nicht stirbst wie jeder andere«, flüsterte er. »Du warst das beim Rufer! Dich zurückzulassen und zu glauben, du seist tot, war eindeutig falsch. Ich hätte dir den Kopf abschneiden sollen. Diesen Fehler werde ich kein zweites Mal machen. Ich mag es nicht, wenn man mich benutzt, Lily. Und dass man mich belügt, mag ich noch viel weniger.«
Ich schloss die Augen und versuchte, tapfer zu sein. »Tus doch!«, zischte ich, als er die Klinge stärker gegen meinen Hals drückte. »Immerhin kann ich mir sicher sein, dass die Pforten zur Hölle geschlossen bleiben.«
Er hielt mich weiter fest gepackt, das Messer an meiner Kehle, sein Unterarm wie ein Schraubstock unter meinen Brüsten. Dann gab sein Arm plötzlich nach, und das Messer verschwand.
Ich schnappte nach Luft und merkte erst jetzt, dass ich den Atem angehalten hatte. Er schubste mich zu Boden. Ich blickte hoch und sah, dass er meine Armbrust auf mich gerichtet hielt.
»Wenn du dich bewegst, bist du tot«, sagte er. »Wenn mir nicht gefällt, was du sagst, schneide ich dir den Kopf ab und begrabe deine Leiche.«
Ohne mich zu rühren, beobachtete ich ihn. Sein Körper war so angespannt, dass an seinen Händen und Armen die Sehnen hervortraten. Er war die fleischgewordene Wut, und es hätte mich nicht im Geringsten überrascht, wenn er sich in ein wirbelndes Flammenmeer verwandelt hätte, bereit, alles zu zerstören, was sich ihm in den Weg stellte. Und nicht nur das: Er wollte alles zerstören.
Er atmete - mindestens drei Minuten lang tat er nicht mehr als das, und es waren die längsten Minuten meines Lebens. Er atmete, und langsam, ganz langsam, entspannten sich seine Muskeln. Er brachte seine Wut unter Kontrolle, als würde er ein wildes Pferd zähmen. Dann schauderte er, als wolle er etwas Schreckliches abschütteln.
»Rede!«, forderte er mich auf, und diesmal klang seine Stimme nicht mehr so zornig. »Was hast du gemeint, als du davon gesprochen hast, die Pforte geschlossen zu halten?«
»Was ich damit gemeint habe?«, wiederholte ich ungläubig. »Du verlogenes Arschloch, du weißt doch ganz genau, was ich damit gemeint habe! Wir haben schließlich darüber geredet. Zum Teufel, du hast doch behauptet, du hättest mich in einer Vision gesehen! Übrigens ein netter Versuch. Schmeichle dich bei dem Mädel ein und bring sie dazu, dir ihre Geheimnisse anzuvertrauen.«
»Sag es mir!«, entgegnete er mit bedrohlich tiefer Stimme. »Erklär mir genau, wieso du hier bist.«
Es war lächerlich, aber nachdem er derjenige war, der die Armbrust auf mich gerichtet hielt, gehorchte ich. »Ich bin gekommen, um genau das zu tun, was ich getan habe: Um deinen kleinen Dämonenfreund da drüben zu töten, der versucht hat, die Neunte Pforte zur Hölle zu öffnen. Du kannst mich gern umbringen, immerhin sterbe ich in dem Wissen, dass ich ihn getötet habe und die Pforte zur Hölle fest verschlossen ist, wie sich das gehört. Und dagegen kannst du nicht das Geringste tun.«
»Verschlossen«, wiederholte er und ließ die Armbrust ein wenig sinken. »Verschlossen? Hast du auch nur ansatzweise eine Ahnung, was du da getan hast? Du hast den einzigen Mann getötet, der wusste, wie man die Neunte Pforte zur Hölle schließen kann, wie man sie fest versiegelt. Die Dämonen kommen noch immer, Lily. Und das alles wegen dir.«