11
»Ein Dämon!«, wiederholte ich. Säure versetzte meinen Magen in Aufruhr. Ich unterdrückte ein Schaudern und zwang mich, meine Kinderliederserenade nicht zu unterbrechen; sonst hätte ich meine Gedanken bestimmt hell und klar ausgestrahlt. Dea-con ist ein Dämon. Ich wollte es nicht glauben, konnte es nicht fassen. Gleichzeitig war ich mir absolut sicher, dass es so war. Dieses Aufblitzen von Wut. Das unheimliche, gruselige Gefühl, als würde etwas Finsteres und Bedrohliches heraufbeschworen. Eine sinnliche Herausforderung, aber sehr gefährlich.
»Was hast du? Nicht damit gerechnet, dass dieser Schönling einer von den Bösen sein könnte?«
Ich schwieg. Diese Bemerkung hatte den Nagel zu genau auf den Kopf getroffen.
Clarence schnaubte. »Deine überkommenen Erwartungen musst du schnell über Bord werfen, Lily. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Kleine.«
»So wie du?«, fauche ich. Ich wollte ihm wehtun. Denn so unerklärlich es auch sein mochte, seine Neuigkeiten über Deacon hatten mich tief getroffen. Ich hatte mich wie eine Idiotin benommen und mich in eine Gefühlsfalle locken lassen. Für diese Schwäche verachtete ich mich.
: »Ich?«, fragte er. Mein inneres Tohuwabohu war ihm Gott und Schoolhouse Rock sei Dank offenbar entgangen. »Bei mir stimmen Schein und Sein perfekt überein.«
»So? Versteh mich bitte nicht falsch, aber du entsprichst nicht unbedingt meiner Vorstellung von einem Himmelsboten.«
»Wie sähe die denn aus?«
»Keine Ahnung. Gute Manieren schon mal. Eher väterlicher Typ. Sanfter irgendwie. Und ein Hauch von Heiligkeit würde auch nicht schaden.«
Belustigt verzog er den Mund. »Ist dir noch nicht in den Sinn gekommen, ich könnte deinetwegen hier sein?«
»Was soll das heißen?«
»Ich bitte dich! Du würdest doch den Heiligenschein jedes Engels innerhalb von zehn Minuten einschwärzen. Würdest du wirklich auf einen Priester hören? Würdest du ihnen Fragen stellen und sie piesacken, bis du wirklich kapierst, was hier vor sich geht? Nein, Kindchen. Ich bin hier, weil der oberste Boss glaubt, ich wäre der Einzige, auf den hörst.«
Bestürzt runzelte ich die Stirn. Denn die Wahrheit war: Er hatte recht. Clarence reizte mich ohne Ende, aber auf eine vertraute, tröstliche Art. Vergleichbar dem Umgang mit Jeremy und Konsorten.
»Wie ich schon sagte: Du musst hinter die Fassade blicken. Streng dich an!«
Widerwillig musste ich ihm zustimmen. Meine Gedanken wanderten zurück zur Bar, wie nahtlos ich in Alice’ Leben geschlüpft war, nur dass es eben keineswegs so nahtlos gewesen war. Ich war in meine Pflichten hineingestolpert. Ich hatte Leon dank gewisser Erste-Hilfe-Kenntnisse versorgt, die Alice höchstwahrscheinlich nicht hatte. Und niemand hatte etwas bemerkt.
»Da bin ich aber nicht die Einzige, oder? Ich meine, heutzutage blickt doch keiner mehr hinter die Fassade, stimmt’s?«
Er antwortete nicht. Sein Schweigen fasste ich als Einladung auf fortzufahren.
»Ich bin einfach in ihr Leben spaziert. Niemand hat überhaupt bemerkt, dass sie gestorben ist! Kein Mensch hat um sie getrauert, ihr das letzte Geleit gegeben. Sie haben einfach die nächste
Runde bestellt und weiter auf ihren Arsch geglotzt. Und nicht einer hatte auch nur den Schimmer einer Ahnung.« Ich presste die Zähne aufeinander und zwinkerte die Tränen für diese Frau weg, die ich kaum kannte. Eine Frau, die die Leute kaum kannten, mit denen sie jeden Tag ihres Lebens verbracht hatte. K »Du verstehst also.«
Ich nickte. So traurig das auch war.
Mir fiel ein, wie zerknautscht Leon auf dem Boden gelegen hatte, und ich dachte an den Mann, der ihn dahin befördert hatte. Ich runzelte die Stirn. Trotz dieses Gewaltausbruchs hatte nichts darauf hingedeutet, dass Deacon mehr als ein normaler Mensch sein könnte. Bestimmt kein Dämon. Bestimmt nicht die Verkörperung des Bösen.
Als er in dieser Gasse mit mir gesprochen hatte, lag in seiner Stimme echte Sorge, und er hatte mir gegen den Giykon geholfen. Nur weil ich in seinen Verstand hatte sehen können, glaubte ich Clarence. Ich glaubte ihm wirklich.
»Warum?«, fragte ich ihn. »Warum sollte er mir helfen?«
»Ich bitte dich, Lily! Du bist doch nicht blöd. Weshalb glaubst du wohl?«
»Er hat mich für dumm verkauft«, sagte ich und ballte die Hände zu Fäusten. Ich wusste nicht so recht, ob ich Deacon am liebsten ein Messer ins Herz stoßen oder ihn einfach nur nie wieder sehen wollte. »Dieser Drecksack …«
»Genau so gehen sie vor, Kindchen. Sei nicht zu streng mit dir.«
»Bist du nicht sauer? Wirst du nicht … du weißt schon.« Ich warf einen Blick auf seine Taille, wo er unter dem Mantel das Messer in der Scheide stecken hatte.
»Nicht, wenn du aufrichtig zu mir bist. Er weiß nicht, wer du bist? Was du bist?«
»Nein. Ich schwöre es. Aber …« Deacons Bemerkung, ich solle seinen Kopf in Ruhe lassen, kam mir in den Sinn, ehe ich es noch verhindern konnte. Ich sah, wie Clarence das Gesicht zusammenkniff; sein Ausdruck wechselte von Wut über Angst zurück zur anfänglichen Mischung aus Langeweile und nichts - sehr ähnlich der von mir einstudierten Miene. Und einen kurzen, eigenartigen Moment lang fragte ich mich, was erwohl zu verbergen hatte.
»Was genau hat er gesagt?«, fragte Clarence. Seine starre Maske war wieder von ihm gewichen. Er war wieder ganz der Alte.
»Nur, dass ich aus seinem Kopf wegbleiben soll«, antwortete ich und stimmte innerlich ein Lied in voller Lautstärke an, nur um auf der sicheren Seite zu sein.
»Was hat er damit gemeint?«
»Keine Ahnung. Ich habe mir irgendwie gedacht, dass Alice vielleicht wie du war.«
Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Wie sollte er denn auf die Idee kommen? Bist du etwa jemandem in den Kopf gekrochen, Kleine?«
»Er dachte, Alice sei wie du. Ich bin ja nicht sie, oder hast du das vergessen?« Ich sprach vor dem geistigen Hintergrund von Conjunction Junction, einem Lied aus Schoolliouse Rock. Und ich sprach mit fester Stimme, so wie ich zu lügen gelernt hatte.
Ich sprach aber auch vor einem Hintergrund aus Schuldgefühlen, weil ich die Wahrheit schon wieder verdreht hatte. Was alles nur noch schlimmer machte; schließlich log ich quasi Gottes rechter Hand die Hucke voll. Aber ich konnte nicht anders. Seit noch nicht einmal einem ganzen Tag steckte ich in diesem neuen, irren Leben, und ich wollte unbedingt am selbigen bleiben. Ich wollte eine Superbraut sein. Ich wollte die Dämonen bekämpfen. Ich wollte die Chance bekommen, mein Karmakonto auszugleichen.
Und etwas in Clarence’ Augen sagte mir, wenn ich ihm die Wahrheit erzählen würde, was in meinem Kopf ablief, dann wären alle Abkommen null und nichtig.
Diesen Gedanken drängte ich weiter hinter den Schleier aus Kinderliedern zurück. Clarence sah mich nachdenklich an. Meine Hoffnung wuchs, dass er nicht in meinen Verstand spähen konnte.
»Glaubst du, er hat dich verscheißert?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Möglich. Wir wissen, dass er mich aufziehen wollte. Aber es spielt keine Rolle, weil Alice tot ist. Und in meinem Kopf spielt sich nichts Abgefahrenes ab.«
»Dann bist du aus dem Schneider, Kindchen. Aber falls irgendetwas auftauchen sollte, lässt du es mich wissen, ja? Unfassbar, dass wir diese Seite von Alice nicht kannten! Aber wenn sie wirklich Dämonen im Kopf rumgestochert hat, wäre das verdammt praktisch gewesen.« H »Kannst du das etwa nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Zum einen stehe ich nicht an vorderster Front. Und zum anderen: Ich kann nur menschliche Gedanken lesen. Meine Fähigkeiten sind begrenzt.«
»Ach.« Das war ja mal interessant. Ein schickes kleines Fitzelchen Information, das ich für schlechte Zeiten aufbewahren würde.
Ich dachte über meine Mission und Deacons Rolle nach. »Also, äh, dann soll ich ihn umbringen?« ; »Deacon?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein.«
Nur mit großer Mühe erstickte ich einen Seufzer der Erleichterung. »Wieso nicht? Er ist ein Dämon. Ich töte Dämonen.«
»Ist er und tust du. Aber mit ihm ist nicht gut Kirschen essen. Er ist stark, Lily, sehr stark. Und ehe du dir nicht noch ein paar Fähigkeiten antrainiert hast, kann man sicherlich problemlos behaupten, er ist dir bei Weitem überlegen. Er hat schon zu viele von uns ausgeschaltet, als dass ich dich so locker auf ihn ansetzen würde. Das Endspiel ist zu wichtig, um unsere Kräfte zu riskieren, indem wir sie Abschaum wie Deacon Camphire auf den Hals hetzen. Hast du verstanden?«
Ich nickte als Zeichen, dass ich sehr wohl verstand, und überschwemmte meinen Kopf mit Kinderliedern, damit er nicht sehen konnte, wie erleichtert ich war.
In Wahrheit hatte mich die Enthüllung über Deacon verblüfft. Dass er ein Dämon war, glaubte ich. Dass eine böse Seite in ihm steckte, glaubte ich. Und vielleicht war ich ja naiv, aber ich wollte einfach nicht glauben, dass das schon alles war. Ich hatte gesehen, welchen Kampf er mit sich führte, den Kampf für das Gute. Mehr noch: Ich wusste, dass Alice zu ihm gegangen war. Ihm vertraut hatte. Geglaubt hatte, dass er ihr helfen konnte - und würde.
Vielleicht hatte er Alice auch für dumm verkauft. Vielleicht hatte er sich künstlich Bilder ins Gehirn gepflanzt, um mir vorzugaukeln, er kämpfe gegen das Böse, während er in Wirklichkeit dessen Inbegriff war.
Vielleicht war Alice deshalb nicht aufgetaucht.
Vielleicht hatte sie herausgefunden, dass er sie für dumm verkauft hatte. Ich wusste es nicht.
Aber ich konnte ihn nicht so einfach abschreiben, wie Clarence das getan hatte.
Ich musste nachhaken, herumbohren, lernen, weitersehen.
Ich musste wissen, wie Deacon Camphire tickte.