26
Gedankenverloren, aber mit geschärften Sinnen lief ich weiter durch die Straßen. Bis jetzt hatte ich nicht den Eindruck, dass mir jemand folgte. Vielleicht glaubten die Dämonen, ich sei tot.
Oder vielleicht formierten sie sich auch nur neu und planten den Angriff, der mich endgültig ins Jenseits befördern würde. Ich schauderte, denn allmählich mochte ich Alice’ Kopf recht gern, ganz zu schweigen vom regelmäßigen Schlag ihres Herzens. Eine unangenehme Richtung, die meine Gedanken da nahmen, aber dies war nun mal mein Leben. Ich war eine Kämpferin. Ein Schatten. Und ja, vielleicht war ich auch die, die das Gesamtbild ein bisschen verändern konnte. Ich war eine Waffe, hatte Clarence gesagt, und die Verantwortung, die mit dieser Aussage einherging, machte mir fürchterlich Angst. Vor allem jetzt, wo ich wusste, dass ich, je besser ich meine Aufgabe erledigte, umso mehr an Menschlichkeit verlor.
Nicht gerade eine ideale Situation, aber was war das schon? Lucas Johnson und Rose waren es nicht gewesen, und der Tod meiner Mom genauso wenig. Auch nicht, von einem durchgeknallten Arschloch in den Bauch gestochen zu werden. Nicht mal, ins Leben zurückgerufen zu werden, um Dämonen zu jagen.
Wie meine Großmutter zu sagen pflegte: Niemand hat je behauptet, das Leben sei gerecht. Und wenn Anpassung bedeutete, Dinge zu verdrängen - nun, das würde ich schon hinkriegen. Ich konnte den ganzen Mist beiseiteschieben, der nach jedem Mord in mich eindrang. Ich konnte ihn verbergen. Ihn wegsperren. Ihn einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Ich würde mich auf Lily konzentrieren. Nicht die, die ich einmal gewesen war, sondern die, die ich jetzt war. Auf sie würde ich mich konzentrieren, und den Rest würde ich bekämpfen.
Und ich wusste, dass ich das konnte. Hatte ich das nicht mein ganzes beschissenes Leben lang getan? Ein Schattendasein voller Verluste, und jeden Cent hatte ich auch dreimal umdrehen müssen. Aber ich hatte mich nie aufgegeben. Und immer hatte ich Rose gehabt, die mir wie ein helles Licht den Weg gewiesen hatte.
Ich hatte sie immer noch. Es ging doch darum, die Welt zu retten, nicht wahr? Die Welt und alle ihre Bewohner.
Inzwischen war es helllichter Tag, und die Sonne bildete einen krassen Gegensatz zu meinen trüben Gedanken. Ich hatte das Geschäftsviertel hinter mir gelassen und wanderte durch Seitenstraßen, bis ich eine Gegend der Stadt erreicht hatte, wo selbst die hellsten Sonnenstrahlen die Dunkelheit nicht vertreiben konnten. Hier hingen die Entrechteten rum, jene Menschen, die reif dafür waren, sich vom Bösen anwerben zu lassen, so wie der Mensch, den ich in der Gasse getötet hatte, weil er zu spät um Hilfe gebeten hatte. Hier waren die Obdachlosen, die Verlorenen. Männer und Frauen, die die Gesellschaft aufgegeben hatte. Sie drückten sich in den Eingängen der Läden herum, in denen Alkohol verkauft wurde, schlichen sich in Sexshops und machten durch halb offene Wagenfenster Geschäfte.
Ich hätte ihnen am liebsten zugerufen, sie sollten ja ihre Mitte nicht verlieren. Ja nicht den einfachen Weg wählen, niemandem vertrauen, der behauptete, er könne ihnen helfen. Aber ich tat es nicht. Ich sagte kein Wort. Wer war ich denn schon, dass ich den Verdammten einen Rat hätte erteilen können?
Im Vorbeigehen nahm ich das Schild über einem Laden wahr, dessen farbige Buchstaben eine Botschaft aussandten, die ich nicht gleich kapierte. Als es endlich Klick machte, blieb ich stehen. Ich wandte mich um und suchte nach dem Geschäft, dessen Bedeutung schließlich doch noch in mein umnebeltes Gehirn eingedrungen war.
Etwa zwanzig Meter die Straße hinunter wurde ich fündig. Ein rotes Neonschild verkündete Tattoos, und ein kleineres, handgeschriebenes Schild darunter informierte den werten Kunden, dass der Künstler vor Ort sei. Als weiteren Pluspunkt teilte sich Madame Parrish, Medium, den Laden mit dem Tätowierer. Vermutlich bot sie ihre Dienste all jenen an, die wissen wollten, wie ihre Mutter, ihr Vater, ihr Liebhaber oder ihr Freund auf das Ergebnis künstlerischen Schaffens reagieren würden, das unser furchtloser Kunde mit nach Hause bringen würde.
Eine halbe Minute blieb ich unentschlossen vor der Tür stehen und rief mir in Erinnerung, dass dreckige Nadeln Infektionen verursachten, die Tinte vermutlich von schlechter Qualität und die Entfernung von Tätowierungen ein verdammt schmerzhafter Prozess war. Ich musste es schließlich wissen. Ich hatte mir »Jimmy« und ein Herz entfernen lassen, und das im reifen Alter von neunzehn Jahren.
Ungeachtet dieser Erfahrung zog ich die Tür auf und trat ein.
Die Dunkelheit im Inneren des Ladens war ein Schock, und es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Lichtverhältnisse angepasst hatten. Doch dann sah ich, dass der hintere Teil des Ladens heller erleuchtet war. Dort beugte sich hinter einem Perlenvorhang ein Typ mit langem Pferdeschwanz über die halbnackte Brust einer Frau. Er wandte die Aufmerksamkeit nicht von seiner Kundin ab, ehe er die Nadel ausgeschaltet hatte. Erst dann blickte er in meine Richtung.
»Hallo. Ich brauche noch etwa fünf Minuten. Willst du ‘n Tattoo?«
»Ja«, erwiderte ich, ohne zu zögern. »Genau.«
»Cool! Hast du schon ‘ne Vorstellung, wie’s aussehen soll?«
»Ich will einen Namen. Vielleicht auch ein Bild. Was, weiß ich noch nicht.«
»Sieh dich um. Alles in den Büchern da beim Fenster kann ich dir machen. Der Preis steht dabei.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder dem Mädchen zu, also blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit den Büchern zu beschäftigen. Ich sah mir gerade komplizierte Engelentwürfe an, als ich hinter mir eine Bewegung spürte.
Ich drehte mich um in der Überzeugung, es sei der Typ oder seine Kundin. Stattdessen stand mir eine Frau gegenüber, die weit über achtzig sein musste.
»49«, sagte sie. »Aber Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, fügte sie hinzu, bevor mir überhaupt klar wurde, dass ich meine Bemerkung doch gar nicht laut ausgesprochen hatte.
»Noch eine«, murmelte ich und überlegte bereits, ob ich nicht lieber zum nächsten Tätowierstudio gehen sollte.
»Er würde mir nie verzeihen, wenn ich Sie verscheucht hätte«, sagte die Frau. Sie ging in eine dunkle Ecke und ließ sich auf einem fleckigen Samtsessel nieder. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
Ich beäugte den harten Klappstuhl ihr gegenüber und hörte sie auflachen.
»Ich bin diejenige, die auf neunzig zugeht. Meine Knochen brauchen die Kissen.«
»Es tut mir wirklich leid«, murmelte ich, angezogen von ihrer lässigen Art, bei der ich mich fast schon wie zu Hause fühlte. »Ich hätte das niemals laut gesagt.«
»Natürlich nicht. Sie sind ein braves Mädchen.« Sie beugte sich vor, um mir die Hand zu streicheln, und als sie lächelte, sah ich, dass ihre Zähne braun verfärbt und ihr Zahnfleisch rot und geschwollen war. Ich wollte schon fragen, woher das kam - welche Krankheit das verursacht hatte. Aber trotz ihrer Liebenswürdigkeit und meiner blank liegenden Nerven brachte ich es nicht über mich, derart unhöflich zu sein.
»Eine Krankheit wäre die einfache Antwort«, sagte sie und lächelte, was mir ein wenig meine Verlegenheit nahm. »Nein, es ist meine Gabe. Sie zehrt mich auf.«
»Sie sind Madame Parrish.«
»Die bin ich.«
»Was können Sie denn alles? Ihre Gaben, meine ich. Offensichtlich können Sie Gedanken lesen. Können Sie auch die Zukunft vorhersagen?«
Sie starrte mich an und hob langsam die Augenbraue. »Sie klingen so zweifelnd. Sie, die Sie bestimmt schon sehr viel Seltsameres gesehen haben.« Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte mich prüfend. »Sie werden lernen, es unter Kontrolle zu halten.«
» Wie bitte? «
»Das, was Sie sehen. Es war ein unerwartetes Geschenk. Selbst der Schenkende wusste davon nichts. Ein Erbe Ihres Vorgängers. Aber Sie werden es lernen, meine Liebe. Es erfordert viel Übung und Konzentration und große Anstrengung, aber es ist möglich. Ich verspreche Ihnen, Sie werden es lernen.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich überhaupt hier sein und mit dieser Frau reden sollte, die genauso leicht wie Clarence Gedanken aus meinem Hirn herausgreifen konnte. Auch über meine Visionen wusste sie Bescheid und schien sie auch noch besser zu verstehen als ich selbst.
»Nicht besser. Ich sehe sie nur aus einer anderen Perspektive. Und vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
Sie lächelte mich sanft und großmütterlich an. »Sie wüssten zu gern, wie Sie Ihre Gedanken wegsperren könnten. Selbst jetzt wünschen Sie sich das.«
»Ich weiß, wie es geht«, erwiderte ich sturköpfig. »Kinderlieder. Wirken wie ein Zauber.«
»Manchmal. Vielleicht. Aber es gibt noch eine bessere Methode.«
Ich neigte den Kopf, unsicher, ob ich ihr trauen sollte, aber äußerst neugierig, was sie zu sagen hatte.
»Ein Geheimnishüter. Um Ihre Gedanken abzuschirmen, brauchen Sie einen Geheimnishüter.«
»Einen was?«
Aber sie lächelte nur. »Es ist schwierig, was Sie tun. Zwei Leute gleichzeitig sein.« Ich schnappte nach Luft, aber sie sprach unbeirrt weiter. »Das wird sich ebenfalls mit der Zeit ändern, und Sie werden nur noch eine Person sein.«
Ich sprang vom Stuhl hoch. »Tut mir leid, ich muss los.« Ich stürmte an ihr vorbei. »Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich gekommen bin.«
»Oh, aber ich. Sie wollen wissen, ob Sie das Richtige tun. Das Richtige und aus dem richtigen Grund.«
Mit der Hand auf der Türklinke blieb ich stehen, dann drehte ich mich zu ihr um. »Tue ich das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Diese Fragen nach richtig und falsch, nach gut und böse … Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Manchmal treffen wir die falsche Entscheidung, wenn auch aus den richtigen Gründen.«
»Und meine Entscheidung? Ist die falsch?«
Sie lächelte, und die Falten in ihrem Gesicht wurden noch tiefer. »Meine Liebe. Darauf kann Ihnen nur die Zeit eine Antwort geben.«