6

 

Nachdem sich Leon verdrückt und die Menge sich aufgelöst hatte, kehrte ich die Scherben zusammen und ging dann endlich in die Küche, wo mir Caleb, der Koch, die beste Portion gebratenen Kabeljaus meines Lebens zubereitete. Das Einzige, was mir noch fehlte, war ein Bier, aber ich bezweifelte, dass Trinken im Dienst hier gern gesehen wurde. Auch wenn ich wahrscheinlich mit einem Mini-Schwips besser gekellnert hätte. Während ich aß, kam Gracie herein und überreichte mir graziös ein Gummiband für den Pferdeschwanz.

»Tisch vier«, sagte Egan, der Barkeeper, als ich wieder in die Gaststube kam, satt und mit vorgeschriebener Frisur und bereit zum Schichtbeginn. Inzwischen hatte er den kaputten Tisch irgendwo entsorgt, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Allerdings nicht, soweit es mich betraf. Ich fühlte mich irgendwie aufgekratzt und neben der Spur. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu diesem Ausdruck in Deacons Augen zurück. Natürlich hatte er Alice angesehen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich gesehen hatte - Lily.

»Hör endlich auf zu träumen, Mädchen!«, sagte Egan und schob ein Tablett mit zwei Pints ein paar Zentimeter über die Theke zu mir her. »An die Arbeit!«

Schnell schnappte ich mir das Tablett. Hinter der Bar hing ein laminiertes Blatt, auf dem jemand handschriftlich die Lage der einzelnen Tische aufgezeichnet hatte und anhand dessen ich mich orientierte. Tisch vier war im hinteren Bereich, gegenüber der Ecke, wo zuvor der mittlerweile zerlegte Tisch gestanden

hatte. Vorsichtig arbeitete ich mich in diese Richtung vor, um ja keinen Tropfen Bier zu verschütten, während es in meinem Kopf nur so von Fragen wimmelte, die meisten davon zu Deacon. Wer war er, dieser Mann, dessen Wut ausgebrochen war wie ein Vulkan? Trish hatte gesagt, Alice halte ihn für »nicht so übel«, eine Bewertung, die für mich überhaupt keinen Sinn ergab. Entweder hatte Alice einen völlig verkorksten Realitätssinn - eine Theorie, die ich sofort unterschreiben würde angesichts der Tatsache, dass ihre Wohnung vor Pink nur so strotzte oder mir entgingen ein paar wesentliche Punkte.

Vielleicht hatte Alice Deacon aber auch nur falsch eingeschätzt. Vielleicht war er ja wirklich so übel. Und vielleicht hatte ihre ruhige Selbstgefälligkeit in Zusammenhang mit so einem gefährlichen Kerl Alice letztlich ihr Leben gekostet.

»Du hast dir einen schlechten Tag ausgesucht, um deinen Onkel auf die Palme zu bringen«, sagte ein Biker an Tisch vier und riss mich damit aus meinen Grübeleien.

»Anscheinend«, entgegnete ich und verknüpfte im Geist die Pünktchen zu der Erkenntnis, dass Barkeeper Egan Alice’ Onkel war.

»Wo bist du eigentlich abgeblieben?«, fragte sein Kumpel, ein Typ in Jeans und Arbeitshemd aus Flanell, die Augen hinter einer Fliegerbrille verborgen. »Nachdem du am Samstag verschwunden bist, hat es eine Ewigkeit gedauert, bis ich endlich meine Würstchen mit Kartoffelbrei bekommen habe.«

»Oh. Ah, tut mir leid.«

Er hob die Arme. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich lasse es einfach an deinem Trinkgeld aus.«

»Ich…«

Er stieß ein bellendes Gelächter aus. »Drangekriegt.«

»Nun mach dich mal ein bisschen locker, Alice«, sagte der Biker. »Du gehst ja wie auf Eiern.«

»Kopfweh«, sagte ich beiläufig. »Fast schon eine Migräne.«

Ich machte kehrt, nicht sicher, ob ich noch eine weitere Runde mit den beiden durchhalten würde, und richtete meine Gedanken wieder auf wichtigere Dinge. Auf mein Leben als Alice, in das ich einfach reingerutscht war. Und darauf, dass ich hoffentlich bald Aufschluss über ihr Schicksal finden möge.

Dieser Hoffnung wirkten die banalen Pflichten meines neuen Lebens eher entgegen. Dinge, wie zu lernen, ein Guinness richtig zu zapfen. Der ständige Kampf, auf den Tisch-Nummern- Plan zu schielen, ohne dass mich jemand dabei ertappt. Selbst eine harmlose Unterhaltung mit Gracie zu führen, während wir Salzfässer nachfüllten und Ketchup Flaschen gewagt aufeinander-stapelten.

Alles Dinge, die meine volle Konzentration erforderten, wenn ich mich nicht verraten wollte.

»Und wieso hast du mich nicht zurückgerufen?«, fragte Gracie, nachdem wir mit den Salzstreuern fertig waren und mit den Pfefferstreuern weitermachten. Erst hatte sich unser Plausch darum gedreht, ob sie Calebs Angebot, ihr eine Portion mit Käse überbackene Fritten zuzubereiten, annehmen solle. Jetzt kamen wir wohl allmählich zum Kern der Sache, und ich wusste nicht genau, ob ich diese Unterredung fürchten oder furchtbar neugierig darauf sein sollte.

»Wann?«

»Vergiss es!« Sie hob ein Tablett voller Salzstreuer hoch.

»Nein, warte! Ich meine es ernst. Mein Onkel hat dir gesagt, ich sei krank geworden, stimmt s? Ich stand völlig neben mir.«

Das Tablett senkte sich wieder.

Sie überflog rasch alle Tische, ob irgendwer etwas brauchte. Offensichtlich nicht, denn sie setzte sich wieder, holte das Trinkgeld raus und ordnete es nach der Größe der Scheine. »Wirklich?« »Wirklich. Ich habe nicht einmal meine Nachrichten abgehört.« ; »So? Na gut. Aber ich war echt enttäuscht, dass du dich nicht gemeldet hast. Wir wollten am Sonntag vor der Arbeit doch ins Kino, weißt du nicht mehr?«

»Oh Mann«, sagte ich hoffentlich ausreichend zerknirscht. »Kein Wunder, dass du sauer bist!«

»So sauer auch wieder nicht.« Ihre blauen Augen schauten unter den Fransen heraus zu mir hoch. »Aber ich habe mir Sorgen gemacht. In letzter Zeit warst du so … na ja … du weißt schon.«

»Ja? Wie denn?«

»Zerstreut eben. So hast du es jedenfalls genannt.«

»Ja.« Ich stellte gefüllte Streuer auf ein weiteres Tablett. »Das trifft es schon ganz gut. Ich habe dir ja gesagt, warum, oder?« Ich lächelte, Vertrauen unter Freundinnen.

»Sehr witzig.«

Offenbar hatte ich es ihr nicht gesagt. »Entschuldige, kleiner Scherz. Aber ich hätte was sagen sollen. Ich meine, wenn man so etwas nicht einmal mit seinen Freundinnen teilt…«

»Ganz genau.« Sie beugte sich zu mir. »Willst du jetzt darüber reden?«

Ich winkte ab. »Ach was, ist keine große Sache. Nur Ärger mit Jungs.«

»Noah?«

»Wie bitte?«

»Dass er einfach so nach Los Angeles abhaut. Was für ein Arsch!«

»Ein Riesenarsch!«, pflichtete ich ihr bei und machte mir im Geist eine Notiz, Alice’ Wohnung nach Hinweisen auf Noah zu durchsuchen. Vielleicht hatte er sie umgebracht und war danach aus dem Bundesstaat geflohen.

»Das ist jetzt über einen Monat her, Alice! Wird langsam Zeit, dass du drüber wegkommst.« »Klar. Weiß ich. Du hast recht.« Streiche Noah von der Liste der Verdächtigen.

»Brian hat Interesse. Man merkt ihm an, dass er mehr als nur ein Freund sein möchte.«

»Ja, schon, äh.« Ich klang hoffentlich unverbindlich und nicht völlig ahnungslos. Ich hatte keinen Schimmer, wer Brian war.

Gracie lachte. »Versuch, nicht ganz so desinteressiert zu schauen, wenn er in der Nähe ist. Du könntest sonst seine Gefühle verletzten.«

»Tut mir leid. Es ist nur …«

»Dir spukt jemand anderes im Kopf herum.« Sie klang wie eine Frau, die ein Geheimnis kennt.

»Tatsächlich?«

Sie verdrehte die Augen. »Ich bitte dich, Alice! Glaubst du wirklich, dass Deacon Camphire Interesse an dir haben könnte?«

Ich setzte mich gerade hin und einen - hoffentlich - unschuldigen Blick auf. »Wovon redest du?«

»Ich hab doch gesehen, wie du letzte Woche mit ihm gesprochen hast.«

»Und?«

»Und?«, wiederholte sie fassungslos. »Glaubst du nicht, dass er irgendwie gefährlich ist?«

»So wie heute Abend, meinst du?«

»Ganz genau. Leon war ja schon ein größeres A-Loch als üblich, aber was Deacon sich heute geleistet hat… Brrr!«

Das fasste meine Eindrücke zu dem geheimnisvollen Mr Camphire ziemlich gut zusammen. Nicht dass die Leute, mit denen ich mich sonst abgegeben hatte, alle eine blütenweiße Weste gehabt hätten. Wenn man mit vierzehn Jahren anfangen muss, die Rechnungen zu bezahlen, klebt man entweder an seinen Prinzipien und bleibt pleite. Oder man drückt hin und wieder ein Auge zu und trifft dabei einige unappetitliche Gestalten. Ich hatte schon so oft beide Augen zugedrückt, dass es ein Wunder war, dass ich nicht über meine eigenen Füße gestolpert bin.

Ich hatte allerdings so ein Gefühl, dass Miss Hello Kitty längst nicht so knausern musste wie ich. Doch bevor ich Gracie nach weiteren Informationen über Alice’ jüngste Unterhaltungen mit dem rätselhaften Mann löchern konnte, unterbrach uns Egans dröhnende Stimme. »Wollt ihr zwei die ganze Nacht tratschen? Oder kümmert sich auch noch jemand um die Arbeit und bucht diese Kassenbelege hier aus?«

Wir fuhren von unseren Stühlen hoch, als hätte er uns einen Stromschlag durch den Hintern gejagt, sahen uns an und mussten lachen. Ein echtes Lachen, als würde es uns nicht groß kümmern, wenn die Welt um uns in Scherben fallen würde, weil irgendetwas einfach furchtbar lustig war.

Um mich wieder einzukriegen, schlang ich die Arme um mich; dabei wollte ich gar nicht, dass diese Fröhlichkeit zu Ende ging. In diesem Moment fühlte ich mich richtig lebendig, so wie früher mit Rose. Bevor Lucas Johnson alles kaputt gemacht hatte. So wie wir uns im Rhythmus mit den Hüften anstießen, wenn sie das Geschirr spülte und ich abtrocknete. So wie wir zusammen gelacht hatten. Rose war der Grund gewesen, dass ich mich wie verrückt abgerackert und Makel auf meine Seele geladen hatte. Um Rose zu behüten, ihr ein normales Leben zu ermöglichen und sie vor der dunklen Unterwelt zu bewahren, in der ich mich bewegte, um uns alle am Leben zu erhalten. Es hätte auch fast geklappt. Fast ist allerdings einen Dreck wert. Fast rettet einem nicht das Leben, zahlt keine Rechnungen und verhilft einem ganz gewiss nicht zu einem Platz im Himmel.

»Alice?« Gracie sah mich an.

Ohne nachzudenken umarmte ich sie. Ich brauchte Körperkontakt. Ausgelassen erwiderte sie die Umarmung, und die Intimität, die Verbindung zwischen uns, war so echt, dass es mir fast das Herz brach. Weil es nämlich gar nicht echt war: Ich kannte sie kaum, klammerte mich aber an das erste Anzeichen von Menschlichkeit, das ich fand.

Hinter dem Tresen blickte Alice’ Onkel finster zu uns herüber, bis wir uns schließlich wieder beruhigen mussten, um keine psychiatrische Untersuchung zu riskieren. Gracie schnappte sich ein Tablett und ging, drehte sich dann aber noch einmal um, weil ihr offenbar noch etwas eingefallen war. Sie kam zurück und beugte sich vor, sodass sie mir direkt ins Ohr flüsterte: »Man hat mich wegen der Stelle als Empfangsdame zurückgerufen. Ich habe den totalen Bammel - aber danke, dass du die Sache eingefädelt hast.«

»Gern geschehen«, sagte ich, fragte mich aber gleichzeitig, wieso Alice ihre Freundin verscheuchen sollte. Besseres Gehalt? Bessere Aufstiegschancen? Oder aus einem völlig anderen Grund?

Ich packte mein eigenes Tablett und machte mich, den Kopf voller Fragen, ebenfalls wieder an die Arbeit. Der Rest der Schicht verging wie im Flug, der Abend war schneller vorbei, als sich die Uhrzeiger normalerweise drehen. Zwischendrin stibitzte ich eine von den papiernen Speisekarten, die Egan neben der Tür ausgelegt hatte, und kritzelte die Namen von allen Leuten drauf, die ich an diesem Abend kennengelernt hatte. Später wollte ich die Liste durchgehen und mir die Namen einprägen. Hausaufgaben.

Montags schloss das Pub um neun, und als Egan schließlich verkündete, ich solle den Müll auf die Gasse rausbringen, taten mir Füße und Waden weh. Und mir wurde klar, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, ein bisschen was über Alice’ Leben herauszufinden. Noch dazu, ohne meine Tarnung auffliegen zu lassen. Alles in allem betrachtete ich den Abend als Erfolg.

Während ich den Müllsack mit fettigen Essensresten zuschnürte, schloss Egan die Eingangstür ab. Das Pub war nicht mehr die ursprünglich winzige Schänke, sondern deutlich erweitert worden. Der Teil, der sich hinter den öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten befand und zur Gasse hinausführte, war noch original erhalten geblieben; die Küche war natürlich von Grund auf erneuert worden. Aber als ich durch die Tür in den Teil trat, den die Belegschaft als »hinten« bezeichnete, tauschte ich rostfreien Stahl und helle Lampen gegen klammes Holz, alte Ziegel und matte Glühbirnen, die von der Decke baumelten.

Das trübe Licht konnte sich kaum gegen die Dunkelheit behaupten. Ich malte mir aus, dass sich in den finsteren Ecken Monster versteckten, deren Knurren nur mühsam vom Gurgeln der alten Rohre überdeckt wurde.

Ich wusste, dass die Steintreppe zum Lager und einem Kühlraum hinabführte, und ich war neugierig, was sich da unten wohl sonst noch alles verbarg. Im Moment stand Herumschnüffeln jedoch nicht auf meinem Stundenplan. Stattdessen folgte ich den unverputzten Wänden bis zu einer stählernen Feuerschutztür, die irgendwann einmal einen Eingang aus massivem Holz ersetzt hatte.

Ich drückte den Riegel mit mehr Wucht zurück, als unbedingt nötig gewesen wäre, und trat auf die Gasse hinaus, die von ein paar flackernden Straßenlampen beleuchtet wurde.

Der Müllcontainer, den sich alle Anlieger teilten, stand knapp zwanzig Meter entfernt. Ich packte meinen Sack und ging darauf zu, wenn auch mit angehaltenem Atem, um mir den unvermeidlichen Gestank zu ersparen.

Der Deckel des Containers war hochgeklappt, was ich als Segen betrachtete; das eklige Ding hätte ich nur ungern angefasst. Ich hob den Sack und warf ihn rein, überrascht, wie leicht er mir vorkam. Er landete mit einem befriedigenden Blop, und ich gratulierte mir, dass ich den Auftrag so gut erledigt hatte.

Ich löste meinen Pferdeschwanz, was zur Folge hatte, dass mir die Haare in die Augen fielen. Die Länge war für mich noch neu und ungewohnt, und so strich ich mir die Strähnen hinter die Ohren. In diesem Moment sah ich es. Das Monster von meiner Wiederauferstehung. Das Höllenvieh, das ich bloß bewusstlos geschlagen hatte, statt ihm gleich ganz den Garaus zu machen.

Und es kam schnurstracks auf mich zu.