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»Na schön«, sagte ich. Langsam gewöhnte ich mich an die Vorstellung vom Supergirl. »Nehmen wir mal an, ich ziehe die Sache durch. Was heißt das jetzt genau?«
»Gute Frage, Kleine! Freut mich, dass du die Sache so entschlossen angehst.«
»Clarence…«
»Als Erstes suchst du die Typen, die die Pforte öffnen wollen, dann hältst du sie auf. Du tötest den Dämonenpriester, und mit dem Schlüssel sperrst du die Pforte ab, sodass sie die Öffnungszeremonie nicht durchführen können. Ach, darauf freue ich mich jetzt schon!«
»Was für eine Zeremonie?«
»Ein düsteres Ritual. Man hat es erst kürzlich entdeckt, in einer Schriftrolle, die tief in einem Berg in der Türkei vergraben lag. Eine komplette Darstellung … Das Ritual. Die Talismane. Wenn sie damit erst mal angefangen haben, dann gute Nacht. Dann werden wir hier niedergewalzt.«
Ich schluckte. »Wann? Wann soll das stattfinden?«
»Bald. Wir haben erfahren, dass sie noch einen Gegenstand benötigen: die Schatulle von Shankara. Wenn man diese Schatulle während der Zeremonie öffnet, verwandelt sie sich in einen Durchgang und erschafft ein Portal zur Hölle.«
»Oh, Mann!« Ziemlich überwältigend, oder? »Das ist ja eine Riesenscheiße!«
»Das kannst du laut sagen.«
»Und ich soll ihnen diese Zeremonie vermasseln?«
»So weit wollen wir es eigentlich gar nicht kommen lassen. Unsere erste Verteidigungslinie ist die Schatulle. Genauer gesagt: der Rufer.«
»Oh. Und was ist ein Rufer?«
»Ein Dämon mit der Macht, die Schatulle von einem x-beliebigen Ort zu sich zu rufen. Sogar aus einer anderen Dimension. Alten Sagen zufolge wurde die Schatulle vor Tausenden von Jahren versteckt. Ein Rufer kann sie zurückholen.«
»Ach so? Das schafft also nicht jeder dahergelaufene Dämon?«
»Dämonen haben ganz unterschiedliche Fähigkeiten.«
Das brachte mich ins Grübeln. Arbeitsteilung bei Dämonen. Wer hätte das gedacht?
»Und wie finde ich diesen Rufer?«
»Tja, das ist das Problem, Kleine. Es gibt keinen Weg, den Rufer zu finden. Deshalb kümmern wir uns um das, was er sucht.«
»Die Schatulle«, sagte ich. Ich war schließlich voll bei der Sache.
»Eine Eins mit Stern für dich.« Er grinste mich an. »Gib mir deinen Arm, dann schauen wir mal, ob dieser Drecksack die Schatulle schon gerufen hat.«
»Wie bitte?« Ich protestierte, als er meine Hand nahm, sie zu sich zog und dabei meinen Arm streckte. »Hey!«
Er hatte ein Messer aus der Tasche gezogen und murmelte etwas vor sich hin in einer Sprache, die ich nicht verstand.
»Hallo! Was tust du da?« Ich versuchte, die Hand loszureißen, aber er hatte mich fest im Griff.
»Lily«, schnauzte er mich an. »Sei still!«
Und während ich nach dieser verbalen Ohrfeige um Fassung rang, schlitzte er meinen Arm direkt unter dem Ellbogen waagrecht auf.
Und das Merkwürdige daran? Es tat nicht weh.
Aus der Wunde drang ein Rinnsal Blut, gegen das er den Rand der Klinge presste und über meinen Unterarm schmierte. Ein Teil des Bluts blieb, wo das Messer es hingedrückt hatte, ein anderer Teil aber schien sich aus eigenem Antrieb zu bewegen und formte ein seltsames Muster auf meiner Haut.
Verwirrt starrte ich darauf, dann schnappte ich nach Luft. Denn jetzt setzte der Schmerz ein, wenn auch nicht von der Wunde, sondern von dem Blut, das sich in meine Haut einbrannte. «Clarence! Scheiße! Da ist ja wie Säure! Mach es weg!« Ich versuchte, meinen Arm auszuschütteln, aber er ließ mich nicht los.
»Noch einen Moment, Lily. Nur noch einen Moment… Da!«
Erneut zog er das Messer nach unten und bedeckte den verbrannten Bereich mit Blutschlieren. Schlagartig ließ der Schmerz nach und er meinen Arm los. Ich fiel auf meinen Hintern, den Arm an den Bauch gepresst. »Was sollte denn der Scheiß?«
»Sieh auf deinen Arm, Lily!«?
»Was? Ich soll mein frisch verstümmeltes Fleisch ansehen? Leck mich!«
»Schau hin!«
Verdammt, ich tat es. Und was ich erblickte, war ganz erstaunlich: ein Kreis mit seltsamen Symbolen, irgendwie aztekisch. Oder, keine Ahnung, was ähnlich Altes. »Was ist das?«
»Ein Sucher.«
»Und was macht er auf mir?«
»Die Prophezeiung«, sagte er lächelnd. »Du bist die Richtige, Kleine. Und das ist ein weiterer Beweis.«
«Irgendeine bescheuerte Prophezeiung hat mich in eine Landkarte verwandelt?«
»In einen Zielsucher, aber das läuft so ziemlich auf das Gleiche raus.«
»Scheiße«, sagte ich leise. »Scheiße. Gut. Schön. Fein. Wie funktioniert das Ding?«
Er tippte in die Mitte des Kreises, die einzige Stelle, die nicht von Abbildungen bedeckt war. »Wenn der Rufer die Schatulle bereits hätte, wäre sein Symbol hier.«
»Ist es aber nicht. Und was bedeutet das?«
»Die Schatulle befindet sich immer noch in einer tiefen Schicht.« Clarence runzelte die Stirn. »Sie werden sie sich erst besorgen, wenn die Zeremonie unmittelbar bevorsteht. So ist das Risiko geringer.«
»Welches Risiko?«
Er blickte mich ernst an. »Du.«
»Oh.« Im Moment kam ich mir nicht wie eine allzu große Bedrohung vor. »Klar.« Ich schaute kurz auf meinen Arm. »Was ist mit den anderen Symbolen?«
»Einige werden sich hervorheben, und die benutzt du dann, um das Versteck der Schatulle aufzuspüren.«
»Tatsächlich?« Allmählich musste ich - wenn auch widerwillig - zugeben, dass mich das Ganze faszinierte. Erschreckte, aber faszinierte.
»Wenn die Zeit reif ist, ja.«
Ich beschloss, mit der Frage, wie ich das im Einzelnen bewerkstelligen sollte, noch zu warten. Gegenwärtig war ich einfach überwältigt von der Tatsache, dass mein Arm im Prinzip eine Shankara-Schatullen-Diebstahlsicherung geworden war. »Und wenn sich herausstellt, dass die Schatulle in Tokio ist?«
»Die Brücke wird dich dorthin führen«, erklärte Clarence.
»Die Brücke?«
Er winkte ab. »Keine Angst.«
»Aber …«
»Die Chancen, dass die Schatulle woanders auftaucht, sind gering.«
»Warum?«
»Weil die Pforte hier ist. Bei der Konvergenz wird sich der Durchgang zwischen den Welten genau hier in Boston öffnen.«
»Ohne Scheiß?« So viel zu dem ganzen Zirkus in Nahost. »Dann kann ich ja froh sein, dass ich mir nie Immobilien zugelegt habe.«
Er warf mir einen bösen Blick zu, ich zuckte mit den Schultern. »Ein kleiner Scherz zum Auflockern.« Ich räusperte mich. »Tja also, und was jetzt? Ich meine, nachdem in der Mitte meines entzückenden neuen Körperkunstwerks nichts ist?«
»Der Kreis wird verblassen«, erklärte Clarence, und tatsächlich verschwand er bereits langsam. »Aber wenn der Rufer seine Fähigkeiten einsetzt und die Schatulle erscheinen lässt, wird das Mal brennen. Dann wissen wir, dass er sie gerufen hat.« Er blickte mir in die Augen. »Also gib acht.«
»Wird gemacht. Und bis dahin, was mache ich da? Rumsitzen und meinen Arm beobachten?«
»In der Zwischenzeit trainierst du.«
»Ach, stimmt ja«, sagte ich, weil mir klar wurde, dass mir am Ende des Armbeobachtens ja eine große Schlacht gegen Dämonen ins Haus stand. Logisch, Training war genau das, was ich dringend brauchte. »Schön, ich trainiere also mit einem Team, oder? Und wenn mein Arm brennt, rücken wir alle zusammen aus?«
»Tut mir leid. Kleine, aber das hier ist eine Solovorstellung.«
»Wie bitte? « Ich wiederholte: »Wie bitte? Spinnst du? Was soll das? Wird das eine Selbstmordmission? Das glaube ich kaum …«
Er schnaubte wütend. »So stark, wie du bist? Da kann von Selbstmord keine Rede sein.«
»Aber … aber … ein Team. Wieso kann ich keine Verstärkung kriegen?«
»Weil es so und nicht anders sein muss, Kleine.«
»Was? Warum? War bei der Prophezeiung eine Bedienungsanleitung dabei?« Funktionieren Prophezeiungen so? Mein Wissen beschränkte sich auf Filme und Fernsehen, wahrscheinlich nicht die zuverlässigsten aller Quellen.
Er gluckste. »Nein, auf Geheiß unseres Chefs. Denn was würde passieren, wenn wir dich mit einem Team losschicken - und einer von ihnen wäre ein Spitzel der Mächte der Finsternis? Ein ziemlich unangenehmes Ergebnis durch und durch.«
»Ein Maulwurf im Himmel?«
»Ich weiß, Kleine. Es ist schwer, so eine Möglichkeit auch nur ins Auge zu fassen. Aber wir befinden uns im Krieg. Und wir müssen auf der Hut sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Also, das Ganze läuft auf Folgendes hinaus: Du suchst und vernichtest den Rufer und die Schatulle.«
»Ach, und wie?«
»Dein Blut zerstört die Schatulle.«
»Ehrlich?«
»So lautet die Prophezeiung. Was den Rufer betrifft …« Er zuckte erneut mit den Schultern und wurde etwas kleinlaut. »Den Rufer bringst du einfach um.«
Ich holte tief Luft. Mein Hochmut als ultracoole Superbraut schmolz im kalten Licht der Wirklichkeit dahin. Loszuziehen, das Böse zu bekämpfen und dicke Bonuspunkte auf der Seite der Guten einzuheimsen war das eine. Etwas ganz anderes war es zu erkennen, wie viel davon abhing, dass ich die Sache nicht vermasselte. Praktisch das Schicksal der ganzen Welt.
»Du hast Kraft verliehen bekommen, Lily, Schnelligkeit und alle möglichen nützlichen Fähigkeiten. Alles dank der Prophezeiung. Glaub mir - du bist gut! Und mit entsprechendem Training wirst du noch besser.«
»Training«, wiederholte ich und atmete tief ein. Na gut. Training war etwas Greifbares. Etwas, an dem ich mich festhalten konnte.
Ich blickte auf meinen Arm, auf dieses geile Symbol, das sich schon wieder verflüchtigte, und erschauderte. Welchen Nutzen hatte Training gegen Dämonen, die Mächte der Finsternis und der Apokalypse? Das Ganze jagte mir einen Heidenbammel ein - schließlich war ich nur ein Mädchen. Ein Mädchen, dem keine Verstärkung zustand. Mit peinlicherweise weinerlicher Stimme wies ich Clarence auf diesen Punkt noch einmal hin.
»Unterschätz dich nicht, Lily! Du kannst es schaffen.« Er sah mich ernst an. »Tatsächlich bist du die Einzige, die das schaffen kann.«
Ich fing an, auf und ab zu gehen. Meine Gedanken rasten wie wild hin und her. Auf der einen Seite stellte ich mir vor, die Welt zu retten - auf der anderen fragte ich mich, wie ich bloß bei dem Versuch, Rose zu retten, in so eine Lage hatte kommen können.
»Ich will sie sehen!«, verlangte ich. »Ich will Rose sehen.«
»Da kann ich dir leider nicht helfen, Kleine. Vergiss nicht: Du bist tot. Du kannst nicht rumlaufen und den Leuten erzählen, du wärst in Wirklichkeit gar nicht Alice. Das siehst du doch ein, nicht wahr? Du darfst es niemandem verraten, nicht deinem Stiefvater, nicht Rose. Keinem Menschen.«
»Aber er ist noch da draußen! Er wird von Neuem anfangen, Clarence. Ich weiß, dass er das tun wird. Und ich werde nicht tatenlos zusehen, wie er meine Schwester quält.« Ich starrte ihm kerzengerade in die Augen. »Niemals! Für niemanden.«
»Ja, Kleine, ich verstehe dich schon, aber das Problem hat sich doch erledigt. Deine Schwester ist in Sicherheit. Dafür hast du gesorgt.«
Ich blinzelte ihn an. »Was?«
»Johnson«, sagte er. »Diese Plage der Menschheit ist tot.«
Ich ließ mich auf das Sofa plumpsen. »Nein. Nein, ich habe zwar auf ihn geschossen, aber er ist trotzdem weiter auf mich zugekommen.«
»Vielleicht sind seine Kräfte noch einmal zurückgekehrt, aber die sind ihm endgültig ausgegangen. Glaub mir: Diese elende Kreatur ist tot!« »Wirklich?« Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete mich, zusammen mit einem verstörenden Anflug von Enttäuschung. Ich erkannte, dass ich mich tatsächlich darauf gefreut hatte, dem Dreckskerl noch einmal zu begegnen. »Und du verarschst mich nicht?«
Er legte die Hand aufs Herz. »Könnte ich jemals lügen?«
Ich befeuchtete die Lippen und versuchte, diese Information zu verarbeiten. Johnson ist tot. Rose ist in Sicherheit.
Sie hatte ihre große Schwester verloren - was mir wirklich das Herz brach aber ich war nicht so naiv gewesen zu glauben, ich käme ungeschoren davon. Das Risiko war mir stets bewusst gewesen. Doch Johnson mit ins Grab zu nehmen hätte ich als Sieg verbucht.
Demnach hatte ich gewonnen. Rose war in Sicherheit.
Ich hatte tatsächlich, wirklich, richtig gewonnen.
»Weißt du was, Clarence?« Ich lächelte so breit, dass es schon wehtat. »Letztlich war mein beschissener Tag gar nicht so übel.«
Kichernd ließ er sich auf das Sofa neben mich fallen. »Das höre ich gern. Kleine. Wir sind uns also einig?«
»Völlig. Rose wird nie erfahren, dass ihre Schwester noch am Leben ist.«
»Das ist sie auch nicht«, sagte er mit ernster Miene.
»Nicht?«, fragte ich in der Annahme, er redete von Rose.
»Am Leben. Rose’ Schwester ist nicht mehr am Leben. Du bist nicht mehr dieselbe Lily, die du einmal warst. Du wurdest wiedergeboren.« Er tätschelte mein Knie. »Das mag dir vielleicht nebensächlich erscheinen, aber glaub mir, das ist der Schlüssel, dich deinem neuen Leben anzupassen.«
»Ich passe mich doch prima an.« Ich drückte mich vom Sofa hoch. »Ich bin eine prophezeite Superbraut, oder? Na bitte. Dann stell mich doch einfach mal auf die Probe!«
Clarence starrte mich einen Moment lang an. Ich wünschte, ich könnte seine Gedanken lesen, so wie er meine.
»Weißt du was? Du hast recht. Es wird Zeit, dass du dich an die Arbeit machst.«
»Ja?« Ich schaffte es nicht, meinen Eifer zu unterdrücken. »Und was heißt das jetzt genau? Bekomme ich ein Schwert? Einen geheimen Entschlüsselungsring? Fechtunterricht?«
Er schaute mich schief an. »Da ist einmal deine Arbeit und dann auch noch die von Alice. Und dafür bist du schon spät dran.«
»Oh.« Meine Begeisterung sauste in den Keller. Argwöhnisch fragte ich: »Und was muss ich da tun?«
»Du bist Kellnerin«, antwortete er grinsend. »Zieh dir bequeme Schuhe an.«