8

 

Wahrscheinlich hätte ich nicht wegrennen sollen.

Das erweckte den Eindruck, ich hätte Angst gehabt. Was stimmte. Aber das brauchte Deacon nicht unbedingt zu wissen.

Nein, ich hätte bleiben sollen. Hätte so tun sollen, als wüsste ich nicht, wovon er redete. Hätte behaupten sollen, ich sei nie in seinem Kopf gewesen, hätte nie dieses Brennen der Gefühle gespürt, nie diesen Schimmer des Bösen gesehen.

Aber, Gott stehe mir bei, ich hatte das alles nun einmal getan und erlebt. Also entwand ich mich seinem Griff und lief davon, ohne mich umzudrehen, obwohl ich ihn meinen Namen rufen hörte. Ich riss die Tür auf und stolperte ins Pub. Dann knallte ich die Tür zu und schob den schweren Riegel vor.

Schwer atmend und mit pochendem Herzen lehnte ich mich an das Metall.

Die Höllenbestie mochte ja ein Super-Mega-Giga-Monster sein. Aber verglichen mit dem, was ich in Deacons Kopf gesehen, in seiner Stimme gehört hatte - finstere Dinge, furchterregende Dinge war sie nur ein Schmusekätzchen.

Selbst Lucas Johnson schien im Verhältnis dazu noch eine erstklassige Wahl als Babysitter zu sein.

In Deacon steckte das Böse, da hatte ich keinen Zweifel. Aber verdammt, da war auch noch mehr. Er kämpfte gegen das Furchtbare an und für das Gute.

Ob er allerdings gewann … Tja, das wusste ich nicht.

Aus seinen Worten schloss ich, dass Alice ihn ebenfalls gesehen hatte, diesen Makel des Bösen in ihm. Und dass ihr Ausflug in seinen Verstand den Mann ziemlich aufgebracht hatte - und sie vermutlich entsetzt hatte. Dennoch war sie wieder zu ihm gegangen und hatte ihn um Hilfe gebeten.

Dann war sie nicht wieder aufgetaucht, um sie sich zu holen.

Stattdessen hatte man sie ermordet.

Aber Alice hatte geglaubt, dass Deacon ihr würde helfen können, und ich stellte mir jetzt die Frage, ob er auch mir helfen könnte. Vielleicht hatte sie Deacon ja etwas anvertraut, irgendeinen Hinweis, der zu ihrem Mörder führen konnte. Und das wollte ich unbedingt in Erfahrung bringen trotz Clarence’ Warnung. Ich musste es wissen. Einmal, um meinen neuen Körper zu schützen. Zum anderen, um die Frau zu rächen, deren Leben ich mir angeeignet hatte. Clarence mochte ja der Auffassung sein, man lasse die Vergangenheit besser ruhen, aber das konnte ich nicht. Ich würde Alice’ Mörder finden. Und bisher war Deacon die einzige Spur, die ich hatte.

Was bedeutete, dass ich früher oder später nicht mehr weglaufen konnte, sondern mich dem Mann stellen musste. Eine Kleinigkeit, die mich eigentlich zu Tode hätte ängstigen sollen. Es aber nicht tat.

Deacon stellte eine Herausforderung dar. Er erregte mich. Dieser Mann, der Dämonen als das erkannte, was sie waren. Der seine Wut hinter einer hauchdünnen Barriere in Schach hielt. Dieser Mann, der schon mit einer leichten Berührung meinen ganzen Körper entflammen konnte.

Ein Mann, der einer verängstigten Frau Hilfe versprochen hatte. Der sich Sorgen machte, als sie nicht kam.

Ein finsterer Mann, sicher, aber es war auch Licht in ihm.

Und ein verdammt sinnlicher Mann dazu.

Spontan empfundene Lust war mir keineswegs fremd - etwa das innere Dröhnen, wenn sich ein scharfer Typ auf einer dunklen, verschwitzten Tanzfläche eng an einen drängt. Dies hier war jedoch anders. Dies war tiefgehend, pochend, fast schon unheimlich.

Ich wollte die Hitze seiner Berührung spüren, seine salzige Haut schmecken. Ich wollte ihn verzehren. Und verzehrt werden.

Selbst jetzt noch hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. Du gehörst mir, hatte er gesagt. Du gehörst mir.

Irgendetwas war da, etwas zwischen Deacon und mir. Doch ob dies zwischen Deacon und Alice oder zwischen Deacon und Lily war, wusste ich noch nicht.

Zu dem Zeitpunkt war es mir auch egal.

Nein. Ich schloss die Augen und hielt mir geistig selbst eine Standpauke. Bau keinen Mist! Diese zweite Chance war buchstäblich die Reaktion auf meine Gebete. Ich hatte wirklich die Gelegenheit, etwas Gutes zu tun, einen Ausgleich für ein Leben zu schaffen, das eine falsche Wendung genommen hatte. Und diese Gelegenheit würde ich mir nicht dadurch vermasseln, dass ich Deacon bumste.

Ich würde meine Aufgabe erfüllen. Ich würde alle Fragen stellen, deren Antworten ich brauchte. Ich würde die alles in den Schatten stellende Superbraut und Weltenretterin werden.

Ich war mir nur nicht ganz sicher, wie.

»Alice!« Egans laute Stimmte donnerte aus dem vorderen Teil des Pubs und rettete mich aus dem Morast meiner Gedanken. »Was zum Teufel ist los mit dir, Mädchen? Hast du dich schon wieder verlaufen?«

Ich schloss die Augen und atmete tief durch, während ich versuchte, mich in meinem geistigen Nebel zurechtzufinden. Einigermaßen erleichtert zog ich Bilanz. Zum ersten Mal, seit ich den Dämon kaltgemacht hatte, fühlte ich mich wieder wie ich selbst.

Ich stieß mich von der Wand ab und schob geistig damit auch Deacon zur Seite. Es war Zeit, sich von den Geheimnissen dieses Mannes und meiner Reaktion auf ihn zu lösen und sich dem aktuelleren Problem zuzuwenden, nahtlos in Alice’ richtiges Leben zu schlüpfen.

Ich streifte das Sweatshirt über, das ich vorher ausgezogen hatte, um den langen Schnitt an meinem Arm zu verstecken. Dann versicherte ich Egan, dass ich mich weder verirrt noch meine Pflichten vergessen hätte, und sauste los, um die letzten Arbeiten zu erledigen, damit wir schließen konnten. Alle anderen hatte er bereits nach Hause geschickt, und wir erledigten die Routineaufgaben in kameradschaftlichem Schweigen. Wenn ihm mein Zögern auffiel, wenn ich kurz überlegen musste, wie man die Dinge ordentlich anpackte, so sagte er zumindest nichts.

Als wir fertig waren, stand ich unbeholfen und unsicher da. Wie würde er mich verabschieden? Mit einem Küsschen auf die Wange oder einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter?

Solange ich die Gäste bedient hatte, war alles rund gelaufen. Wenigstens so rund, dass ich mich überzeugen konnte, Alice’ Rolle glaubwürdig gespielt zu haben. Jetzt gab es keine gerufenen Bestellungen mehr, keine verschütteten Getränke. Nur noch mich und diesen Mann, angeblich mein Onkel. Ein Mann, der Alice von Geburt an gekannt hatte. Bemerkte er nichts? Fiel ihm wirklich nichts auf?

Egan räumte hinter dem Tresen ein paar Dinge zusammen. Als würde er mein Unbehagen spüren, schaute er hoch. Er stützte sich mit einem muskulösen Arm auf die polierte Eichenholzplatte, dann blickte er mir direkt in die Augen. »Hast du irgendwelchen Ärger, Mädchen?«

»Ich … nein. Nichts.«

Er rieb sich mit der schwieligen Hand über die Bartstoppeln, musterte mich weiter so eindringlich, dass ich alle Mühe hatte, unter seiner gründlichen Prüfung nicht zusammenzuzucken. »Konfus«, sagte er schließlich.

»Wie bitte?«

»Den ganzen Abend stehst du schon irgendwie neben dir. Und so wie du am Samstag einfach abgehauen bist, muss ich mich schon allmählich fragen, ob dir nicht irgendwas im Magen liegt, worüber du mit mir reden möchtest. Beispielsweise, dass du in Wirklichkeit gar nicht krank warst. Dass dir am Samstag irgendwas zugestoßen ist.«

Ich schluckte und schüttelte fast unmerklich den Kopf.

Er atmete laut durch die Nase aus. »Wie du willst. Ich lasse die Töchter meiner Schwester nicht im Stich. Wenn du also etwas auf dem Herzen hast …«

Ich zögerte, kämpfte den unerwarteten Drang nieder, diesen Mann als Verbündeten zu gewinnen. Immerhin war er Alice’ Onkel. Wer wäre als Unterstützung geeigneter, mich mit Alice’ Leben vertraut zu machen? Die entsprechenden Worte wollten jedoch ebenso wenig kommen wie das nötige Vertrauen. Ich war nicht Alice; er war nicht mein Onkel. Und den Job, den ich jetzt hatte, musste ich allein erledigen.

Ich zuckte mit den Schultern, versuchte, gelangweilt und unbesorgt dreinzublicken. »Da ist nichts. Ehrlich. Ich war todkrank. So krank, dass das ganze Wochenende wie verschwommen ist. Ich habe kaum was gegessen, nichts als geschlafen, und jetzt bin ich einfach stehend k. o. Ich bin müde, Onkel Egan. Das ist alles.«

»Verlorenes Wochenende, was?«

Ich presste die Lippen zusammen und nickte.

Seine Augen verengten sich. »Ist das zweite Gesicht wieder da?«

»Was?« Ich schluckte und hoffte, er konnte mir den Schock nicht ansehen.

»Seit du ein Kind warst, hast du keine Visionen mehr gehabt. Das war noch, bevor deine Mutter starb. Wenn das jetzt wieder losgeht, musst du mit jemandem darüber reden. Versuch gar nicht erst, allein damit fertigzuwerden.« - »Werde ich nicht«, sagte ich. »Ich meine, würde ich nicht.« Aber mein Verstand raste. Alice musste wieder Visionen bekommen haben. Immerhin hatte Deacon davon gewusst. Doch vor ihrer Familie hatte sie dies geheim gehalten. Wieso? Und: Hatte Alice Deacon davon erzählt? Oder hatte er es selbst erraten? Vielleicht sogar, als Alice in seinem Kopf herumgespukt war?

Nicht eine dieser Fragen konnte ich beantworten, also verlegte ich mich auf die bewährte Taktik. Leugnen. »Ich habe nichts gesehen«, sagte ich und schaute Egan dabei in die Augen. »Ich schwöre. Und wenn, würdest du als Erster davon erfahren.«

Einen Moment lang glaubte ich schon, er würde einen Streit anfangen. Aber dann nickte er nur kurz. »Was gammelst du dann hier rum? Mach zu. Ich will endlich rauf und mich in die Falle hauen.« Er lebte in der Wohnung über dem Pub. »Geh nach Hause. Und komm morgen ja pünktlich!«

»In Ordnung. Du kannst dich drauf verlassen.« Ich eilte zur Tür, wollte nichts lieber als raus hier, selbst wenn ich dann fünf Blocks weit laufen musste, ehe ich zu einem Taxistand kam.

Ich machte mich auf den Weg, warm eingehüllt in den roten Ledermantel, den ich zwischen all den pinkfarbenen Sachen in Alice’ Schrank gefunden hatte. Ich hielt die Augen offen, suchte die schattigen Ecken ab. Jetzt wusste ich, was sich im Dunkeln verbergen konnte.

Die samtene Schwärze schien zu schimmern, während ich so dahinging. Ich stellte mir vor, dass Dutzende gelber Augen mich anlinsten, mich beobachteten, abwarteten. Ich wurde immer schneller, die Stiefel klackerten auf dem Bürgersteig. Vor meinem geistigen Auge sah ich Kobolde, die sich im Dunst zusammenrotteten, aus den Abwasserkanälen krochen, auf den Rücken von Geiern auf mich niederstießen. Sie kamen meinetwegen, und ich war nicht bereit. Gott schütze mich, ich war nicht bereit.

Weiter vorn bog ein Taxi in die Straße ein. Ich sprang auf die

Fahrbahn und hob einen Arm. So blieb ich stehen, damit der Fahrer mich auch bestimmt sah. Ich fühlte mich nackt und wie auf dem Präsentierteller, während die Schergen des Teufels mich aus den Schatten heraus beobachteten.

Gott sei Dank hielt das Taxi neben mir. Ich stieg ein und umhüllte mich mit der Illusion von Sicherheit.

Denn in Wahrheit würde ich mich nie wieder sicher fühlen können