10

 

»Sieht aus, als müssten wir ein paar Dinge besprechen«, sagte Clarence, sobald ich an den Straßenrand gefahren war und den Motor ausgestellt hatte.

»Ich habe mich an die Regeln gehalten.«

»Du solltest dich von deiner Schwester fernhalten!«

Ich schüttelte den Kopf. »Von wegen! Ich habe versprochen, ich würde ihr nicht die Wahrheit sagen. Und überhaupt: Wie kommst du eigentlich dazu, mir nachzuspionieren?«

»Ich betrachte das lieber als Schutz unserer Investition. Ich will mich überzeugen, dass das Abkommen, das wir getroffen haben, Hand und Fuß hat.«

Ich hob die Arme. »Ich habe mich buchstabengetreu an die Gesetze gehalten und bin nicht einen Millimeter vom rechten Pfad abgewichen. Das weißt du ganz genau!«

Er presste die Lippen aufeinander. Offensichtlich wägte er meine Worte ab. Langsam kochte Zorn in ihm hoch. Ich hatte recht. Formal gesehen hatte ich vollkommen recht. Wenn man das Ganze jedoch sinngemäß betrachtete …

Nun, vielleicht bin ich einen Mikromillimeter abgewichen.

»Schön, dass du es zugibst«, sagte er.

»Ich musste sie sehen!«, verteidigte ich mich. Das war die Wahrheit, und ich hoffte, sie reichte ihm.

Nachdenklich legte Clarence eine Hand auf den Mund und betrachtete mich so lange, dass ich schon ganz kribblig wurde. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Du musst dich klüger anstellen, Kleine. Du bist unser Ass im Ärmel, vergiss das nicht.«

Ich nickte, fragte mich allerdings, was das eine mit dem anderen zu tun hatte.

Er stieß einen lang anhaltenden Seufzer aus. »Was glaubst du eigentlich, was der kleinen Rosie passiert, wenn irgendein hundsgemeiner Dämon herausfindet, wer du bist? Glaubst du, er wird auf dich losgehen?«

»Vielleicht«, erwiderte ich, aber meine Stimme hatte einiges von ihrer Überzeugungskraft verloren. Ich hatte so eine Vorahnung, worauf das Ganze hinauslaufen würde.

»Vielleicht ist das genau richtige Wort. Aber wenn der Dämon clever ist - und wenn er weiß, dass du eine kleine Schwester hast, an der du hängst, die du liebst -, was glaubst du wohl, wird er tun?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte gar nicht wissen, in welche Richtung das führte.

Er fuhr sich mit der Hand quer über die Kehle. »Nicht dich, Kleine. Sie. Wenn du sie besuchst, mit ihr redest, dieses Mädchen Teil deines Lebens werden lässt, dann bringst du ihres in Gefahr.« Er breitete die Arme aus und zuckte mit den Schultern. »So läuft es nun mal. Denk nach! Du weißt, dass ich recht habe.« Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe und sah mich ernst an.

Nach kurzer Bedenkzeit nickte ich; dagegen konnte ich nichts einwenden. Rose war schon einmal durch die Hölle gegangen. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass sie so etwas erneut erleben musste.

Aber mein Job würde ja nicht ewig dauern. Ich würde gegen die Dämonen kämpfen. Ich würde dafür sorgen, dass die Pforte geschlossen blieb. Und dann, bei Gott, dann würde ich mir meine Schwester zurückholen.

Vorerst hatte ich aber einen angefressenen Frosch an der Backe, der mich in Grund und Boden starrte. »Stecke ich tief in der Scheiße?«

Er ließ den Ansatz eines Lächelns erkennen. »Nein, Kindchen. Ich hätte mir von vorneherein denken müssen, dass du dich nicht von ihr fernhalten würdest. So bist du eben. Ein richtiges Kuscheltier.«

Ich hob die Augenbrauen. »Genau.«

Er schnaubte, griff dann aber tief in eine Manteltasche. »Ich habe da eine Kleinigkeit für dich. Vielleicht besänftigt es dich ein wenig.«

»Ach ja?«

Er reichte mir ein kleines Päckchen. »Mach es auf«, befahl er.

Ich riss das Papier auf und hielt eine schlichte weiße Schachtel in den Händen. Neugierig sah ich Clarence an, dann öffnete ich den Deckel und schnappte nach Luft, als ich das goldene Kettchen mit dem herzförmigen Medaillon entdeckte.

»Ich habe es deiner Leiche abgenommen«, nuschelte er. »Ich dachte mir, du würdest es vielleicht gerne wiederhaben.«

Ich nickte, unfähig, ein Wort aus meinem ausgetrockneten Hals zu krächzen. Die Halskette hatte ich an dem Samstag getragen, als ich mich aufmachte, Lucas Johnson zu töten. Sie war ein Stück meiner Vergangenheit, ein Teil meiner persönlichen Geschichte und etwas, das ich für immer verloren geglaubt hatte.

Ich klappte den Deckel mit einem meiner manikürten Fingernägel auf und sali das altvertraute Bildchen von Rose und mir, wie wir Arm in Arm auf der Schaukel auf unserer Veranda sitzen. »Danke«, sagte ich, legte mir die Kette um den Hals und steckte das Medaillon unter mein Hemd, nah an mein Herz. »Das bedeutet mir … alles.«

»Ja, äh, schon gut.«

»Aber die Polizei wird es doch vermissen, oder? Immerhin bin ich ein Mordopfer.«

»Kann schon sein«, entgegnete Clarence. »Aber das ist ja nicht unser Problem.«

Ich grinste unwillkürlich. »Hey, Clarence, du Teufel! Du hältst dich also nicht immer an die Regeln.«

Er schnaubte und scharrte mit den Füßen. »Das bleibt aber unter uns, klar?« Ob er damit seine kleinkriminellen Neigungen oder das Medaillon an sich meinte, konnte ich ihn nicht mehr fragen, denn schon richtete er sich zu seiner vollen - wenn auch bescheidenen - Größe auf und räusperte sich. »Es gibt ein paar unumstößliche Regeln, aber weil wir dazu noch nicht gekommen sind, will ich ein Auge zudrücken. Dieses eine Mal.«

»Und welche wären das?«, fragte ich möglichst unschuldig. Weil ich heute Abend zwei Regeln umgangen hatte. Und ich hatte das Gefühl, Deacon zu erzählen, dass Alice jetzt Dämonen tötete, war möglicherweise ein noch größeres Vergehen als der Besuch bei meiner Schwester.

»Der Dämon«, sagte er. »Ich habe meine Informanten, Kleine, und von denen habe ich erfahren, dass du den Grykon fein säuberlich aus dem Weg geräumt hast.«

Ich war vollkommen verwirrt. »Den Grykon? Meinst du die Höllenbestie in der Gasse? Da habe ich eine Regel gebrochen? Hast du sie noch alle? Genau das sollte ich doch tun! Bring das Vieh um, belass es nicht bei Kopfschmerzen - das hast du doch gesagt, oder etwa nicht?«

»Dass du den Grykon getötet hast, gibt einen fetten Pluspunkt auf der Habenseite, keine Frage. Ein Problem haben wir nur mit den Begleitumständen.«

»Aha.« Wie befürchtet kam das dicke Ende noch. Offenbar war ihm Deacon doch nicht entgangen.

»Du solltest allein arbeiten, Kleine. Und was muss ich da stattdessen hören? Es war jemand dabei, als du das Untier umgelegt hast.« Er machte eine Pause, und obwohl er einen Kopf kleiner war als ich, schien er in diesem Moment auf mich herabzuschauen. »Wer war das? Wer war bei dir?«

»Das weißt du nicht?« Diese Möglichkeit war so verblüffend, dass ich den Umstand, dass mein Froschfreund majestätisch angefressen war, völlig aus den Augen verlor. »Du hast also kein perfektes Überwachungssystem? Zum Beispiel Gott, der vom Himmel aus alles sieht? Oder eine handliche Videokamera, die von früh bis spät auf mich gerichtet ist? Nein?«

Er schnaubte. »Das wäre zwar praktisch, habe ich aber nicht. Du bist im Großen und Ganzen allein auf dich gestellt, außer ich verfalle auf die wunderliche Idee, dir quer durch die Stadt zu folgen.«

»Aber du hast doch gerade gesagt…«

»Informanten, Kleine! Ich habe gesagt, ich habe Informanten. Und von denen erfahre ich so im Groben, was vor sich geht. Von dir will ich jetzt all die schmutzigen Details wissen. Deshalb frage ich noch einmal: Wer hat den Dämon tatsächlich getötet?«

»Vielleicht ich.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Dagegen konnte ich nichts einwenden. »Es war noch jemand dabei, aber meine wahre Identität habe ich nicht preisgegeben. Ehrlich.« Ich blickte ausdruckslos drein und summte Row, row, row a boat in meinem Kopf, um hoffentlich jeden noch herumschwirrenden Gedanken zu ersticken. Deacon wusste, welche Knöpfe er bei mir drücken musste.

Das Lied war ein Trick, den ich dank meines Stiefvaters gelernt hatte. Denn Joe war ein Experte darin, jemanden zu durchschauen. Früher sah er mir immer an der Nasenspitze an, wenn ich mich auf etwas einließ, aus dem ich mich lieber raushalten sollte. Und dann setzte es unweigerlich einen Klaps auf den Hintern.

Aber nachdem ich dann gelernt hatte, meinen Kopf mit banalem Zeug vollzustopfen - Kinderlieder, Abzählreime, Melodien aus Schoolhouse Rock wurden die Klapse seltener und seltener. Ein prüfender Blick in den Spiegel verriet mir den Grund: Wenn ich meinen Verstand mit sinnlosem Gedudel ausblendete, wurde auch mein Gesicht völlig ausdruckslos.

Mit ein bisschen Glück klappte der kleine Trick auch bei dem Himmelsboten. »Lily…«

»Was hätte ich denn tun sollen?«, schnauzte ich ihn an. »Das Ding hockte auf mir drauf, und er hat es runtergezerrt, dann haben wir zusammen dagegen gekämpft. Ich habe es aufgespießt und geglaubt, es sei tot. Dann hat er es noch erstochen, und wusch, da war nur noch eine große Dämonenpfütze.«

»Er? Wer?«

»Deacon Camphire.«

Seine Augen wurden ganz schmal, und ich schwöre, wäre mein Leben ein Film gewesen, dann hätte jetzt die unheimliche Musik eingesetzt. Ich schluckte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Die düsteren Bilder, die ich in Deacons Kopf gesehen hatte, schwirrten nun in meinem umher.

»Er hat mir geholfen, Clarence. Was soll daran falsch sein? Warum ist das schlecht?« Ich hörte, wie schrill sich meine Stimme inzwischen anhörte, und hasste mich deswegen.

»Geholfen? Oh nein, Kleine. Deacon Camphire war nicht da, um dir zu helfen. Ich weiß nicht, was er tatsächlich im Sinn hatte, aber unser Verbündeter ist er ganz gewiss nicht.«

»Was soll das heißen?«, fragte ich. Er sah mich bloß sonderbar an. »Verdammt, Clarence!«, setzte ich nach, als er weiter hartnäckig schwieg. »Baus damit! Was ist mit Deacon?«

»Alles«, verkündete er rundweg. »Er ist ein Dämon, Lily, ein dreckiger, verlogener, stinkender Dämon! Er hat im Höllenfeuer gebadet, und der Geruch des Bösen haftet an ihm, beißend wie fauliges Fleisch. Ein Dämon«, wiederholte er. »Genau die Sorte Subjekt, die zu vernichten deine Bestimmung ist.«