31
Als ich ein paar Minuten vor eins zu Hause eintraf, war ich nicht im Geringsten überrascht, dass Clarence wieder auf seinem kleinen Stuhl vor meiner Wohnungstür saß. Was mich hingegen schon überraschte, war das Geschenk, das er mir in die Hand drückte, eine kleine, in violettes Papier eingewickelte Schachtel. Verwirrt nahm ich sie.
»Nur eine Kleinigkeit«, sagte er.
Ich runzelte die Stirn, wickelte das Papier ab und hob den Deckel hoch. Auf zerknülltem Packpapier gebettet lag ein Handy. Pink. Mit Sprenkeln. Ich starrte Clarence an. »Das wäre vorhin praktisch gewesen - oder auch nicht. Da ich ja meine Scheißfinger nicht mehr bewegen konnte.«
»Firmenpolitik«, sagte er. »Unbegrenztes Telefonieren innerhalb des Netzwerks, unbegrenztes Simsen, unbegrenzte E-Mails. Technologie ist doch was Schönes.«
Ich musste beinahe lächeln, als ich den Schlüssel ins Türschloss steckte und uns beide in die Wohnung ließ. »Ein netter Gedanke, gefällt mir. Ob es mir heute was gebracht hätte, weiß ich nicht - wahrscheinlich hätte ich es beim Kampf verloren … Es ist nämlich so: Ich habe versagt.« Ich schaute ihn an und erwartete eigentlich ein paar aufmunternde Worte. Aber nichts. »Na schön.« Plötzlich fühlte ich mich unwohl. »Egal.«
»Keine Bange!« Er klopfte auf die Tasche mit dem Messer. »Deswegen bin ich nicht hier.«
»Schön für mich.«
»Aber mit Allgemeinplätzen werde ich dich auch nicht lang-
weilen. Kleine. Dein Versagen kostet uns vielleicht nicht den Sieg, aber es steht nur noch eine Schlacht aus, die alles entscheidende. Und jetzt hängt alles von dir ab.«
»Hauptsache, kein Druck«, murmelte ich.
»Hey!«, rief er überschwänglich. »Du kannst es schaffen, oder? Sonst wäre ich gar nicht hier. Du brauchst lediglich Selbstvertrauen.«
»Hab ich doch«, entgegnete ich automatisch. Dann überlegte ich kurz und stellte fest, das stimmte auch. Trotz des Versagens beim Rufer war ich am Leben geblieben. Ja, mehr noch: Ich hatte dazugelernt.
Und ich würde dem Bösen nicht den Sieg überlassen. Ich dachte an Rose und wurde nur umso entschlossener. Diesmal würde ich nicht verlieren.
Clarence war schon wieder am Kühlschrank, riss die Tür auf und schnaubte angewidert. »Was macht der Arm? Schon was Neues?«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Arm würde erneut zum Leben erweckt, wenn die Schatulle von einem anderen Rufer in unsere Dimension geholt würde. Ich zuckte zusammen, als ich an die Schmerzen dachte. Meine Güte, ein Leben als Landkarte machte echt Spaß!
»Ich bin gerade erst nach Hause gekommen«, sagte ich. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie so schnell wieder auftaucht, oder?«
»Die Zeit bis zur Konvergenz wird knapp. Sie müssen rasch handeln. Wahrscheinlich haben sie schon einen neuen Rufer drauf angesetzt.«
Er öffnete die Tür zur Speisekammer, schob alles beiseite und suchte die Regalbretter ab. »Und?«
»Hä?« Was Besseres brachte ich nicht zustande.
»Halt durch, Lily! Wir kommen jetzt zur offiziellen Nachbesprechung. Zum Gift und dem Kerl, der auf dich geschossen hat… Rückst du nun raus mit der Sprache oder nicht?«
»Ich … ja, klar.« Ich runzelte die Stirn. »Hat es dir Zane noch nicht erzählt?«
»Nur das Wichtigste. Jetzt will ich es von dir hören.«
Also erzählte ich ihm die ganze Geschichte von A bis Z. »Und woher wussten sie jetzt, wo ich war?«
»Das ist genau die Frage. Und die Antwort werden wir vielleicht nie erfahren. Hätte ein Wächter sein können. Irgendwer, der auf der Lauer lag, um dich aus dem Verkehr zu ziehen. Jemand, der nicht will, dass du dich einmischst.«
»Wer?«
»Keine Ahnung«, behauptete er, aber ich hatte den Eindruck, dass er zumindest einen Verdacht hatte. »Und das müssen wir auch nicht wissen. Im Moment müssen wir uns einfach nur auf unsere Aufgabe konzentrieren. Die Zeit wird knapp. Wir müssen auf der Hut sein. Nächstes Mal werden sie die Schatulle erst in letzter Minute rufen. Unmittelbar vor Beginn der Zeremonie, vielleicht auch erst währenddessen. Die ganze Sache wird ein verdammtes Stück schwieriger werden.«
»Na prima.«
Angeekelt knallte er die Speisekammertür zu und wühlte anschließend so lange in den Schränken rum, bis er endlich eine halb zerquetschte Schachtel Twinkies zutage förderte. Ich schnappte mir eins der kleinen Kuchenstücke, riss die Verpackung auf und biss von der Konservierungsstoffbombe ab.
»Wieso isst jemand so etwas freiwillig?«, ereiferte ich mich.
»Du musst ja nicht, wenn’s dir nicht schmeckt«, sagte Clarence ein wenig irritiert. »Du hast nur ihren Körper übernommen, nicht ihre Persönlichkeit. Auch nicht ihren Geschmack, was Essen anbelangt. Genau genommen nicht einmal ihr Leben.«
»Ja. Und das nagt an mir.«
»Wie bitte?«
Ich rieb mir die Schläfen. »Ich will immer noch mehr über Alice wissen. Ich muss es einfach wissen.«
Er blinzelte mit seinen Amphibienaugen. »Alice? Warum?«
»Was meinst du mit >Warum<? Weil ich in ihrem Körper stecke und nicht genug über sie weiß. Sie ist das Gefäß, oder? Das Gefäß, in dem ich stecke.«
»Ich bitte dich, Kindchen! Wir haben wirklich größere Probleme, um die wir uns kümmern müssen!«
»Ich kann beides tun. Wer Alice ermordet hat, ist auch für mich eine Gefahr. Für diesen Körper. Wenn sie es noch mal versuchen, könnten sie die ganze Mission zunichtemachen.«
Er starrte mich an. Dass meine Motive ausschließlich mit der Mission zusammenhingen, glaubte er mir keine Sekunde lang.
»Vielleicht muss ich es einfach auch nur so wissen.«
»Bohr nicht weiter nach, Kleine! Glaub mir, das führt direkt in den Wahnsinn.«
Ich hob die Augenbrauen, er zuckte mit den Schultern.
»Schön, vielleicht nicht unbedingt in den Wahnsinn, aber bestimmt zu Frust. Was spielt es denn für eine Rolle, wie diese Frau war?«
»Ich versuche immerhin, ihr Leben nachzuspielen. Soll ich tatsächlich wertvolle Zeit vergeuden und es selbst herausfinden? Zeit, in der ich trainieren oder Dämonen umlegen könnte? Willst du das?«
»Umlegen?«
»Verdammt, Clarence, jetzt rück endlich raus damit!«
»Ist ja gut, ist ja gut!« Er ging zum Sofa und machte es sich bequem. »Vater an Krebs gestorben. Mutter vor fünf Jahren eine Treppe hinuntergefallen. Sie war übrigens Egans Schwester. Hat ihren Anteil an der Bar Alice und Rachel hinterlassen.«
»So?«
»Ja. Du bist die stolze Besitzerin eines Viertels des Pubs. Und wenn du dreißig bist, wird das auch amtlich. Bis dahin führt Egan die Geschäfte, und dein Anteil geht auf ein Treuhandkonto.« Er zuckte mit den Schultern. »Da steckt keine große Geschichte dahinter. Jedenfalls keine, die sich zu erzählen lohnen würde.«
»Immerhin ein Anfang. Aber ich will mehr wissen! Was weißt du beispielsweise über das Bloody Tongue? Wie passt das Pub ins Bild?«
Neugierig schaute er mich an. »In welches Bild?«
»Rachel ist sauer auf mich - auf Alice. Sie war der Auffassung, ich hätte nicht wieder in dem Laden anfangen und mich nicht wieder mit dem ganzen unheimlichen Zeug einlassen sollen.«
»Unheimliches Zeug?«
»Wahrscheinlich das Pub selbst. Es hat so einen gewissen Ruf. Aus der Zeit der Hexenprozesse, vermutlich aber schon länger.«
»Ja, das Pub hat einen gewissen Ruf, das stimmt. Ich weiß allerdings auch nicht mehr als das, was sie einem auf der Gruseltour erzählen. Aber ich weiß, dass Alice’ Eltern sich in schwarzer Magie versucht haben, vor allem ihre Mutter.«
»Egan hat erwähnt, dass er mit seiner Schwester nicht sonderlich gut ausgekommen ist.«
»Na bitte! Da haben wir’s.«
»Was haben wir?«
»Rachel muss geglaubt haben, dass Alice in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt. Und wenn sich Alice mit Deacon Camphire abgegeben hat, standen die Chancen dafür verdammt gut.«
»Deacon?« Ich war so überrascht, dass ich glatt vergaß, in meinem Kopf ein Liedchen anzustimmen. Ein kleiner Fauxpas, den ich sogleich korrigierte.
»Er war an deinem ersten Abend doch da, oder?«, fuhr Clarence fort. »Vielleicht hat er versucht, Alice die Neigungen ihrer Mutter schmackhaft zu machen und sie zu überzeugen, mit ihm gemeinsam in deren Fußstapfen zu treten und die dunkle Welt zu erkunden.«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Wieso nicht?«
»Einfach so.« Ich wandte den Kopf ab, damit er nicht am Ende an meinen Augen die Wahrheit ablesen konnte, noch bevor er sie mir aus dem Kopf rupfte. »Ich …«
»Und als sie sich weigerte, hat er es getan.«
Ich riss den Kopf hoch. »Was getan?«
»Sie umgebracht, natürlich.«
Schlagartig schien alles Blut meinen Körper verlassen zu haben. Erstarrt und verzweifelt stand ich da. »Was?«, fragte ich, und schon dieses eine Wort brachte ich kaum heraus.
»Meine Quellen haben mir mitgeteilt, dass Deacon Camphire Alice auf dem Gewissen hat. Ich hab’s dir ja gesagt, Lily: Er ist ein übler Kerl.«