Eine Träne auf Reisen
Einer der großen Vorzüge der Sozialdemokratie war immer ihr unsentimentaler Blick auf die Welt. Eine Bewegung, die schon die Bismarck’sche Sozialistenverfolgung hinter sich hat, ist naturgemäß nicht so leicht zu erschüttern. Unvergessen der Auftritt des großen Franz Müntefering, der in einer Rede vor dem Bundestag zur Zukunft der Rente daran erinnerte, es werde nicht helfen, «Lotto oder Balalaika zu spielen und zu hoffen, dass man so morgen oder übermorgen ausreichend Geld in der Tasche hat». So reden Leute, die sich einen nüchternen Realitätssinn bewahrt haben, deshalb verdankt das Land der SPD auch die Hartz-IV-Gesetzgebung.
Doch Mentalitäten ändern sich, wie man weiß, und weil die Durchgrünung der SPD weit fortgeschritten ist, hat auch sie jetzt an führender Stelle ihre Claudia Roth, für die nicht die Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, sondern die freie Träne zählt. Der mecklenburgischen Sozialministerin und stellvertretenden Parteivorsitzenden Manuela Schwesig wird eine große Karriere vorausgesagt, seit sie bei den Verhandlungen über die Hartz-IV-Bezüge die Sozialdemokraten vertrat. «Frau Merkel ist eine eiskalte Machtpolitikerin, sie hatte keine Lust mehr darauf», erklärte Schwesig mit bebender Stimme, als das vorläufige Scheitern der Gespräche feststand. «Darüber bin ich sehr sauer. Ich habe daran gedacht, was geht bei denen vor, die dieses Geld brauchen. Daran denkt aber die Kanzlerin nicht. Sie hat zwei Millionen arme Kinder verraten.»
Es ist verständlich, wenn man nach einer langen Verhandlungsnacht darüber enttäuscht ist, dass man sich mit seinen Positionen nicht durchsetzen konnte, aber muss man deshalb gleich die Fassung verlieren? Ja, man muss, unbedingt. Es gilt sogar als Zeichen besonderer Authentizität, wenn man sich als Politiker die Erschütterung anmerken lässt, dass die andere Seite so uneinsichtig war, auf ihrer Meinung zu beharren; schließlich geht es ja um Belange, die keinen Aufschub vertragen.
Der Sentimentalpolitiker appelliert an den Affekt, das verleiht ihm solche Überzeugungskraft. Er vertritt grundsätzlich Anliegen, gegen die kein normaler Mensch etwas haben kann: den Schutz der Robben, der Eisbären oder eben der «armen Kinder». Wer Einwände vorbringt oder wie im Hartz-IV-Streit auf die Berechnungsgrundlage verweist, zeigt nur, dass er ohne Herz ist, wie es Frau Schwesig der Bundeskanzlerin so gefühlsstark vorgehalten hat. Da muss man sich mit den lästigen Fragen einer Regelung, die 60 Milliarden Euro im Jahr an Steuergeldern verschlingt, nicht mehr länger beschäftigen, etwa der, wie es eigentlich sein kann, dass der Aufschwung am Arbeitsmarkt an den Hartz-IV-Beziehern fast komplett vorbeigeht.
«Kälte» ist einer der Signet-Begriffe der Gefühlspolitik. Wenn die Gegenseite regiert, sinkt immer gleich die Temperatur, dabei würde der armen Robbe ein wenig mehr Kälte ganz guttun. Das andere Signalwort im politischen Emotionalienhandel ist Angst. Da kann ein ganzes Podium von Fachleuten geduldig erklärt haben, warum der neue Golfplatz kein bedrohliches Risiko darstellt: Es muss nur jemand aufstehen und sagen, er habe aber solche Angst, dann ist die Sache gelaufen. «Da können die Experten einpacken», wie die Autoren des munteren Büchleins «Schöner denken» das Prinzip schon vor ein paar Jahren beschrieben.
Das ist alles sehr sympathisch, ohne Zweifel, so wie ja auch Manuela Schwesig eine hochsympathische Person ist. Die Frage ist nur, wie gut sich ein Land regieren lässt, wenn einem ständig das Herz blutet. Verantwortliche Politik kommt ohne Zumutungen nicht aus – spätestens in der Außenpolitik braucht es einen kühlen Kopf. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass ein Nicolas Sarkozy oder Wladimir Putin auch so beeindruckt wären, wie nun die deutsche Medienöffentlichkeit, wenn eine Bundeskanzlerin Schwesig ihnen entgegenhielte, sie sei jetzt aber so betroffen?
