Der Millenniums-Ökonom
Woher kommt bloß diese Helmut-Schmidt-Begeisterung? Ist es der Respekt vor dem Durchhaltevermögen des Altkanzlers, der im Dezember 93 Jahre alt wurde? Die Freude über ein vertrautes Gesicht in einer sich immer schneller wandelnden Zeit? Die heimliche Bewunderung für das Kettenrauchertum? An seinen Einlassungen zur aktuellen politischen Lage kann es jedenfalls nicht liegen, dass Schmidt bei den Deutschen in so hohem Ansehen steht – es sei denn, man kommt zu dem Schluss, dass sie an kognitiver Dissonanz leiden, wie die Psychologie einen Zustand nennt, in dem Gefühltes, Gehörtes und Erlebtes auseinanderfallen.
Rekapitulieren wir kurz, wie der Herausgeber der «Zeit» anlässlich der Verabschiedung von EZB-Präsident Jean-Claude Trichet die größte Krise beurteilte, in der sich Europa seit Ratifizierung seiner Gründungsurkunden befindet. Die Europäische Zentralbank habe sich als handlungsfähig erwiesen, ihre Politik als wirksam, erklärte Schmidt dem andächtig lauschenden Publikum. «Das vielfältige Gerede über eine sogenannte Krise des Euro ist bloß leichtfertiges Geschwätz von Politikern und Journalisten.» Sogenannte Krise des Euro? Man weiß nicht, was neben Tabak sonst noch auf dem Herausgeber-Flur der «Zeit» geraucht wird, aber was immer es ist, man wünscht sich, man hätte es auch zur Hand, wenn man dieser Tage die Nachrichtenlage verfolgt. Exakt 23 Tage nach Schmidts Auftritt in Brüssel brachte der Zinssprung bei italienischen Staatsanleihen die Währungsunion an einen Punkt, an dem es nach Meinung vieler nur noch zwei Möglichkeiten gab: Entweder diese Union bricht auseinander. Oder die Zentralbank leiht Italien das Geld, das es am Markt nicht mehr zu finanzierbaren Kosten bekommen hat – was nichts anderes bedeutet, als dass Europa seine Notenpressen anwirft.
Immerhin, Schmidt ist sich treu geblieben, da gibt es nichts. Schon bei der Einführung des Euro gehörte er zu denen, die völlig unbeirrt, um nicht zu sagen emphatisch an ein gutes Ende dieses Abenteuers glaubten. Zweiflern, die auf die unterschiedlichen Mentalitäten und Wirtschaftskulturen verwiesen, antwortete er, sie wollten nur an die «Gefühle der Bevölkerung» appellieren, die aus sentimentalen Gründen an der D-Mark hinge. Den Stabilitätspakt hielt er für falsch («deutsche Großmannssucht!»), die Maastricht-Kriterien für weitgehend überflüssig. «Ich will einräumen: Auch mir scheint ein hohes Maß an Gleichlauf (‹Konvergenz›) der Volkswirtschaften der Teilnehmerstaaten wünschenswert», beschied er den damaligen Bundesbank-Präsidenten Hans Tietmeyer. «Aber für die Funktionstüchtigkeit des Euro ist die Konvergenz keineswegs nötig.» Tietmeyer hatte es gewagt, die Euro-Reife von Ländern wie Italien und Griechenland anzuzweifeln. Damit stellte er sich in die Reihe der «Provinz-Außenpolitiker» und «Provinz-Ökonomen», deren «fachliche Mäkeleien» nach Ansicht des Altkanzlers einen erschreckenden «Mangel an strategischer Einsicht» beziehungsweise einen gefährlichen «DM-Nationalismus» zeigten (andere Provinzler waren in wechselnder Folge Horst Köhler, Theo Waigel, Edmund Stoiber, Rudolf Augstein).
Es kommt öfter vor, dass Menschen partout auf einem Feld reüssieren wollen, für das sie eher unbegabt sind. Schmidt setzte immer schon den größten Ehrgeiz darauf, sich der Öffentlichkeit als Wirtschaftsweiser zu empfehlen, dabei lagen seine Fähigkeiten erkennbar woanders. In den achteinhalb Jahren seiner Kanzlerschaft vervierfachten sich die Schulden des Bundes von 80 Milliarden auf 320 Milliarden D-Mark, das hat kein anderer deutscher Regierungschef in einem vergleichbaren Zeitraum hinbekommen; auch die Arbeitslosigkeit erreichte Rekordhöhen. Der Historiker Gérard Bökenkamp kommt in seiner «Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik» der Bundesrepublik im Fall Schmidt zu dem Befund: «In der Frage der Devisenbewirtschaftung lag er falsch, seine Finanzpolitik war ein Desaster, seine Konjunkturpolitik blieb wirkungslos, seine Aussagen zu Inflation und Stabilität waren wechselhaft.» Schmidt hat sich durch solche Rückschläge nie beirren lassen. Der Welt- und (wie man seit der Bambi-Verleihung letztes Jahr sagen darf) Millenniums-Ökonom wusste nicht nur immer ganz genau, warum ihm niemand anders das Wasser reichen konnte, er ließ die Welt darüber auch nie im Unklaren. Darin ist er sich ebenfalls treu geblieben, wie seine Ausfälle gegen die Bundeskanzlerin zeigen.
Wir hören jetzt wieder, dass es an der Zeit sei, das Primat der Politik gegen das Primat des Ökonomischen durchzusetzen. Wenn damit gemeint sein sollte, die wirtschaftliche Vernunft außer Acht zu lassen, kann man nur sagen: Das hatten wir schon. Der Euro ist ein schönes Beispiel, was geschieht, wenn man auf hehre Appelle vertraut und davon absieht, auf welche Anreize Menschen in Wirklichkeit reagieren. Daran ändert auch nichts, dass der Wechselkurs zum Dollar relativ stabil ist, wie die Euro-Freunde nicht müde werden zu betonen. Diese Stabilität ist im wahrsten Sinne geliehen. Sie gründete in der Vergangenheit auf der Annahme, dass die Deutschen alles für den Erhalt der Gemeinschaftswährung tun werden. Bislang haben die Bundesbürger diese Erwartung erfüllt. Man wird sehen, ob sie künftig auch bereit sind, für ihre notleidenden Nachbarn die Goldvorräte herzugeben oder das Ersparte zu entwerten. Sollten sie sich verweigern, ist auch die vielgelobte Stabilität dahin.
