Gerechtigkeit für Silvana Koch-Mehrin

Um es gleich zu sagen: Nein, es ist nicht in Ordnung, sich bei seiner Doktorarbeit aus fremden Quellen zu bedienen, ohne diese vollständig anzugeben. Auch die Betreuung kleiner Kinder oder andere sozial wertvolle Nebentätigkeiten reichen hier nicht als Entschuldigung, wie erst der Freiherr zu Guttenberg und dann auch die FDP-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin lernen mussten. Wer beim Schummeln erwischt wird, ist seinen Titel schnell wieder los. Dafür sorgen schon die fleißigen Helfer bei «VroniPlag», die in stundenlanger Arbeit nach anstößigen «Stellen» suchen, statt den Hund auszuführen oder das Unkraut im Garten zu jäten. Tatsächlich kommt man in Deutschland heute als Politiker eher mit gewohnheitsmäßiger Untreue als mit der unzulässigen Abkürzung beim Erwerb eines akademischen Grades durch. Bei Guttenberg ließen die Plagiatsjäger erst ab, als er sein Amt als Verteidigungsminister niedergelegt hatte; auch bei Koch-Mehrin gaben sie sich nicht mit Teilerfolgen zufrieden.

Bevor ihr die Heidelberger Uni den Titel aberkannte, hatte Koch-Mehrin ihr Amt als Vorsitzende der FDP in Brüssel abgegeben, den stellvertretenden Posten als Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, den Platz im Präsidium der Freidemokraten – aber das genügte nicht. Ein paar besonders eifrige Aufpasser verlangten auch den Verzicht auf das Abgeordnetenmandat. Koch-Mehrin habe sich der Wählertäuschung schuldig gemacht, weil sie auf Plakaten den Doktortitel geführt habe, heißt es zur Begründung. Nun ja. Die Deutschen sind bekanntlich die Nation der Dichter und Denker, aber in diesem Fall den Wahlerfolg auf den akademischen Rang zurückzuführen, misst der Überzeugungskraft des «Dr.» vor dem Namen vielleicht doch etwas zu viel Bedeutung bei.

Große Aufregung verursachten die Plagiatsaffären naturgemäß im Wissenschaftsbetrieb. Niemand lässt sich gerne nachsagen, in einer Institution zu arbeiten, wo man es mit den Standards nicht so genau nimmt. Als die Kanzlerin nicht gleich von ihrem Verteidigungsminister lassen wollte und dies mit dem Hinweis versah, sie habe ja keinen wissenschaftlichen Assistenten eingestellt, gingen bei ihr 23000 Unterschriften gegen diese «Verhöhnung» des akademischen Nachwuchses ein. Es hätte nicht viel gefehlt, und einige Doktoranden hätten sich am Zaun des Kanzleramts angekettet, um ihrer Empörung noch mehr Gehör zu verschaffen. Auch im Fall Koch-Mehrin waren die Standesvertretungen im Protest vereint. «Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten sind alles andere als ein Kavaliersdelikt», hieß es in einer Erklärung, mit der eine Reihe von Verbänden die FDP-Abgeordnete dazu bewegten, ihren kurz zuvor bezogenen Sitz im Forschungsausschuss des EU-Parlaments abzugeben.

Das ist alles hochanständig und in jeder Hinsicht begrüßenswert. Man würde die Ehrenerklärungen in eigener Sache nur zweifellos noch lieber lesen, wenn die Professoren, die jetzt so vehement die Reputation der Wissenschaft verteidigen, schon früher so entschieden aufgetreten wären. Leider hat man von keinen Protestnoten ans Kanzleramt gehört, als es darum ging, der eigenen Zunft die Möglichkeit zu verschaffen, sich im Schnellverfahren im universitären Betrieb einzurichten.

Es ist über die Zeit etwas in Vergessenheit geraten, aber eine der großen Innovationen des Hochschulwesens ist ein radikal vereinfachtes Prüfungsverfahren, das auch Außenseitern den Aufstieg ermöglichte. Nicht nur dass mittlerweile an nahezu jeder großen Universität Leute einen Professorentitel führen, deren größte Leistung oft darin besteht, in Talkshows eine gute Figur abgegeben oder mal eine Zeitung wie die «taz» geleitet zu haben. Zu den bedeutendsten Hinterlassenschaften der universitären Reformer, die sich nach 1968 daranmachten, den Muff unter den Talaren hinwegzublasen, gehört der Verzicht auf das althergebrachte Habilitationsverfahren, das den Nachwuchs über Gebühr am Schreibtisch festhielt. An die Stelle der klassischen Habilitationsschrift traten in vielen Fachbereichen «habilitationsähnliche Leistungen», womit nun schon ein Bündel verstreut publizierter Aufsätze reichte, um als Professor an eine deutsche Universität berufen zu werden. Wer «kumulativ» habilitiert, erspart sich nicht nur Probleme mit Fußnoten.

Die Delegitimierung der alten Ordinarienuniversität diente immer auch dem Ziel, Platz zu schaffen im Stellenplan. Wenn davon die Rede war, die alten Strukturen aufbrechen zu wollen, meinte das vor allem die formalen Hürden, die einen am Aufstieg aus den Niederungen des wissenschaftlichen Betriebs an die Spitze der Fachbereiche hinderten. Als besonders nachhaltige Reform darf in diesem Zusammenhang auch die paritätische Besetzung der Findungskommissionen gelten: Bis heute entscheiden an vielen Hochschulen die im ASTA organisierten Studenten über die Besetzung von Professorenstellen mit, was den unbestreitbaren Vorteil hat, auch diejenigen auf begehrte Lebenszeitstellen zu hieven, deren wissenschaftliches Engagement sich eher politisch manifestierte.

Manchmal ist es doch ganz hilfreich, sich der Vergangenheit zu erinnern – zumal wenn sie noch nicht ganz so vergangen ist. Die gestiegene Bezichtigungsbereitschaft erwächst nicht selten aus einem Manko, das man gerne vergessen machen würde. Empörung wirkt immer auch selbstentlastend.