Warum Frank Schirrmacher irrt

Okay, sagen wir einfach, die Linke hat recht. Damit liegt man zur Zeit immer richtig, mit diesem Bekenntnis kommt man anstandslos durch jede Debatte. Seit in England für ein paar Tage die Straßen brannten und an den Börsen die Kurse purzeln, steht die linke Gesellschaftskritik wieder hoch im Kurs. Wenn man «FAZ»-Herausgeber Frank Schirrmacher glauben darf, haben die Systemzweifel inzwischen sogar das bürgerliche Lager erreicht. Als Kronzeuge für diesen Befund dient ihm der britische Journalist Charles Moore, der sich nach 30 Jahren als bekennender Konservativer im «Daily Telegraph» die Frage stellte, ob er nicht sein Leben lang falschgelegen habe. «Ehrlich gesagt: Wer könnte ihm widersprechen?», schreibt Schirrmacher dazu. Das nennt man wohl eine akute Glaubenskrise.

Schwer zu sagen, was genau bei Leuten wie Moore den Zerknirschungsschub auslöste, der sie nun dazu bringt, der Linken zu ihrer Hellsichtigkeit zu gratulieren. Vielleicht ist ihnen im jüngsten Börsensturm ein Aktienpaket zu viel um die Ohren geflogen; vielleicht wollen sie auf ihre alten Tage auch einfach noch einmal zum vermuteten Mainstream aufschließen. Der Gesinnungswandel wird natürlich dankbar aufgenommen: Wenn schon die Konservativen ihren Glauben an den Kapitalismus widerrufen, muss es wirklich schlecht um das Ganze stehen. Entsprechend groß ist das Echo auf die Selbstanklage bei allen, die schon immer der Marktwirtschaft und ihren erfolgreicheren Akteuren misstrauten.

Die Frage ist nur, mit was die Linke eigentlich recht behalten haben soll. Mit ihrem Gefühl, dass es in der Welt nicht gerecht zugeht und die Reichen den Armen immer einen Schritt voraus sein werden? Um das zu begreifen, bedarf es keines ideologischen Standpunkts, sondern lediglich zweier offener Augen. Dass der Kapitalismus auch ein paar sehr hässliche Seiten hat, ist ja keine ganz neue Erkenntnis. Aus den Verheerungen, die er regelmäßig hinterlässt, hat schon Karl Marx vor 150 Jahren seinen Honig gesogen.

Genau besehen ist die Geschichte des Kapitalismus eine einzige Abfolge von Boom und Crash. Erstaunlich ist also nicht so sehr, dass es uns jetzt gerade wieder erwischt – erstaunlich ist eher, wie kurz das Gedächtnis derjenigen ist, die nun die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil die Geschichte sich wiederholt. Die Maschine Kapitalismus ist bei der Wohlstandsproduktion allerdings nach wie vor ungemein erfolgreich, deshalb wirkt jeder Wunsch nach einer Alternative schrecklich naiv. «Bisher hat sich dieses proteische Monster, das wir Kapitalismus nennen, noch jedes Mal aufgerappelt», stellte Hans Magnus Enzensberger schon nach den ersten Bankenpleiten im Herbst 2008 fest. Das ist das Angenehme an ehemaligen Marxisten wie Enzensberger: Sie kennen noch ihre Klassiker.

Tatsächlich liegt eine Verwechslung vor, wenn die gegenwärtige Krise ausgerechnet bei den Konservativen abgeladen wird. Für den Konservativen besteht kein Zweifel, dass der Mensch ein Mängelwesen ist, bei dem es der eisernen Faust des Gesetzes bedarf, um seine niederen Antriebe in Schach zu halten, die Gier und die Habsucht zuallererst. Nie im Leben käme der Verfechter dieses Menschenbildes auf die Idee, auf die Internalisierung moralischer Schranken durch Einsicht zu setzen. Das war immer ein Privileg der Linken, die sich einen sonnigen Blick auf die menschliche Natur bewahrt haben. Anders wäre eine Wirtschaftsordnung ja auch nicht denkbar, in der jeder sein Bestes gibt, obwohl alle Einkommensunterschiede eingeebnet sind.

Wenn eine Ideologie nun unwiderruflich ihren Enttäuschungswendepunkt erreicht hat, dann der radikale Marktglaube, der ohne Aufsicht von oben auszukommen meint. Der Liberale dieser Provenienz leugnet, wie der Konservative, nicht die Bedeutung eigensüchtiger Motive, glaubt aber daran, dass sie sich gegenseitig aufheben oder doch, zusammengenommen, zu einem größeren Nutzen verbinden. Dass die Leidenschaften Einzelner das ganze System an den Rand des Zusammenbruchs führen können, ist bei ihm nicht vorgesehen.

Viel mehr als Ressentiment hat die zeitgenössische Kapitalismuskritik nicht anzubieten, ihre Antriebskraft ist nicht Erkenntnisinteresse, sondern Neid. Schon die Annahme, die derzeitige Vertrauenskrise sei Folge einer enthemmten Finanzwirtschaft, könnte ja weiter entfernt von der Wahrheit nicht sein. Am Beginn dieser Krise stand eine Politik billigen Geldes, die erst dem Parkplatzwächter in Amerika zu einem Eigenheim verhalf und dann jedem zweiten Griechen zu einem Golf. Es ist genau dieses aus den Regierungszentralen orchestrierte Leben auf Pump, das die Grundlagen soliden Wirtschaftens korrumpierte und die Kreditwirtschaft an den Rand des Abgrunds führte. Das ist die Reihenfolge, nicht umgekehrt.

Die linke Antwort auf die Krise lautet, kurz gefasst, mehr Staat. Das klingt zunächst beruhigend, Staat sind wir schließlich irgendwie alle. Aber in der gegenwärtigen Lage werden die Probleme so nur in die Zukunft verschoben, bestenfalls. Oder glaubt jemand im Ernst, dass der Zins für portugiesische Anleihen sinken wird, wenn die Regierung dort noch mehr Beamte einstellt? Von elf Millionen Portugiesen sind knapp 700000 beim Staat beschäftigt, das ist eine Erklärung, warum das Land jetzt auf deutsche Steuergelder zur Begleichung seiner Kreditschulden angewiesen ist. Weil auch jeder private Anleger vor der Ausreichung neuer Kredite auf eine Sanierung des Haushalts drängen würde, läuft nun Teil zwei des Rettungsprogramms an, die Vergemeinschaftung der Schulden. Das geht so lange gut, bis der letzte kreditwürdige Bürge ruiniert ist.

Manchmal hilft ein Blick in die Vergangenheit. Vor 30 Jahren war Großbritannien dort, wo Griechenland heute ist: eine Nation auf den Knien, geplagt von Rezession, hohen Schulden und Arbeitslosigkeit. Margaret Thatcher ist der Name der Frau, die das Land wieder auf die Beine brachte, und zwar ohne jeden finanziellen Beistand aus Deutschland. Vielleicht sollte man sich noch einmal ansehen, wie die Dame dieses Wunder vollbracht hat. Man könnte davon einiges lernen.