Abschied von einer moralischen Instanz
Stellen wir uns für einen Moment vor, ein in die Jahre gekommener Schriftsteller, Bewunderer Adenauers und ausdauernder Wahlhelfer der CDU, hätte im Interview mit einer israelischen Tageszeitung dem Mord an den europäischen Juden die Liquidierung deutscher Wehrmachtssoldaten an die Seite gestellt und dabei auch noch die Zahlen verwechselt. Statt von einer Million Soldaten, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ums Leben kamen, wäre bei ihm unversehens von sechs Millionen ermordeten Deutschen die Rede gewesen. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich die Reaktion der aufgeklärten Öffentlichkeit auf diese Aufrechnerei auszumalen. Der Mann wäre erledigt, jedenfalls als ernstzunehmende politische Stimme.
In diesem Fall aber hieß der Urheber der seltsamen Holocaust-Mathematik Günter Grass, und da liegen die Dinge offenkundig anders. Statt entschiedener Zurechtweisungen fand man im deutschen Feuilleton mehrheitlich verschwurbelte Entschuldigungen, in denen an die zahlreichen Verdienste des Autors erinnert wurde. Selbst der israelische Historiker, der mit Grass noch einmal über den Judenmord gesprochen hatte, nahm ihn im Nachgang in Schutz: «Ich denke, dass er im Eifer des Gefechts eine falsche Zahl genannt hat. Tatsächlich hätte ich ihn korrigieren müssen, und ich entschuldige mich dafür, das nicht getan zu haben.» Das ist großmütig, um das Mindeste zu sagen.
Man könnte die Sache damit auf sich beruhen lassen, wenn nicht ausgerechnet Grass als eine Gewissensinstanz gelten würde, auf die sich alle immer wieder berufen, die im Umgang mit politischen Kontrahenten gern zu moralischen Urteilen greifen. Tatsächlich wird Grass schon seit langem gerade wegen seiner deutlichen Einlassungen zum Zeitgeschehen geschätzt, und das in dem Maße, in dem die literarische Produktion zu wünschen übriglässt. Warum bloß, so ließe sich fragen, hält sich so hartnäckig der Glaube, Romanautoren hätten zu politischen Themen besonders viel beizutragen?
Irgendein Missverständnis hat aus Schriftstellern, die schöne Geschichten erfinden, politische Großdenker gemacht, die zu allem Möglichen Auskunft geben sollen, zum Klimawandel ebenso wie zu den Nachtseiten der Globalisierung, dem Welthunger oder dem Nahost-Konflikt. Niemand käme auf die Idee, Gewichtheber zur Griechenlandkrise zu befragen, nur weil sie auch mal in Athen trainiert haben, oder Transportunternehmer, die irgendwann ein paar Aktien erstanden haben, zur Zukunft der Finanzmärkte. Man würde zu Recht erwarten, dass die Antwort durchschnittlich naiv, im besten Falle unfreiwillig komisch ausfiele.
Was sein politisches Urteilsvermögen angeht, hat Grass in stupender Regelmäßigkeit bewiesen, dass er keines besitzt. Über die Jahre hat er den haarsträubendsten Unsinn in die Welt gesetzt, was seine Bewunderer allerdings nicht davon abhält, ihm regelmäßig ein Podium zu bieten, auf dem er dann gegen den «Turbokapitalismus» oder die Europapolitik der Kanzlerin vom Leder ziehen kann. Unvergessen, wie er im Einheitsjahr 1990 in einer Fernsehdiskussion mit Rudolf Augstein aus dem Holocaust den Zwang zur Doppelstaatlichkeit ableitete («Der Ort des Schreckens schließt einen zukünftigen Einheitsstaat aus»), worauf ihm Augstein nur kühl entgegenhielt: «Das ist keine politische Betrachtungsweise, das ist Religion.» Der Historiker Jens Hacke resümierte schon vor Jahren: «Er dürfte der Schriftsteller sein, der die meisten deutschlandpolitischen Irrtümer verkündet hat.»
Seine Fehlleistungen hinderten Grass selbstredend keine Sekunde, von sich und seinesgleichen eine hohe, ja die höchste Meinung zu haben. Insofern ist er ein typischer Vertreter jener Spezies von Mensch, die sich die Fähigkeit zur ironischen Selbstdistanz schon vor dem ersten Bauchansatz abtrainiert hat. Seit Grass 1965 sein «Loblied auf Willy» anstimmte und dann das «Wahlkontor deutscher Schriftsteller» ins Leben rief, gehört es zum Selbstverständnis deutscher Kulturschaffender, mit politischen Aufrufen aus dem Dunkel ihrer Schreibstuben zu treten und ihr «Engagement» unter Beweis zu stellen. Dass der Einsatz nicht ganz so selbstlos ist, wie es die Beteiligten gerne vorgeben, liegt auf der Hand.
In den Erinnerungen des Brandt-Beraters und Redenschreiber Klaus Harpprecht an seine Zeit im Kanzleramt lässt sich nachlesen, wie eine kleine Runde nach dem Wahlsieg der SPD 1972 die Einrichtung einer Nationalstiftung erörterte. Dabei sollte auch eine Position für Grass abfallen, der für seinen Wahleinsatz eine offizielle Anerkennung erwartete. Willy Brandt stand der Idee deutlich skeptisch gegenüber, Grass verrenne sich «immer wieder in die Illusion, dass er die Wähler unmittelbarer repräsentiere als die Partei». Und am 9. März 1973 notierte Harpprecht: «BK (Bundeskanzler) ist auch nicht ganz sicher, ob G. G. nicht eine seiner absurden Ideen einbringen werde, wie damals beim Mauerbau, als er vorschlug, man solle alle Zigeuner Europas nach Berlin rufen, weil die Zigeuner bekanntlich jede Grenze durchlässig machten.» Als Harpprecht den Dichter wenig später in seinem Haus in Norddeutschland aufsuchte, konstatierte er bei Grass eine «gewisse Bitterkeit», dass man ihn in Bonn nicht so zu benötigen schien, wie er sich gedacht hatte, dass man ihn benötigen würde. «Er scheint darauf gewartet zu haben (und noch darauf zu warten), dass man ihm ein konkretes Arbeitsangebot macht», heißt es in einem anschließenden Gesprächsvermerk an Brandt. «Es bedrückt ihn, dass er den Bundeskanzler so wenig sieht. Mit Ein-Stunden-Terminen dann und wann will er sich nicht begnügen.»
Schriftsteller sind phantasiebegabte Menschen, die zu sich selbst in der Regel keinerlei Distanz haben. Anders würden sie die entbehrungsreiche Anfangszeit auch nicht durchstehen, in der ein Erfolg alles andere als ausgemacht scheint. Das ist gut für die Kunst, aber verhängnisvoll für die Weltbeurteilung, wie man am Beispiel von Grass leicht erkennen kann.