Spießer-Alarm

Was spricht gegen eine Klinkerfassade? Überhaupt nichts, wenn einem die Meinung des deutschen Feuilletons weitgehend egal ist. Oder eben sehr viel, wenn man zu den Menschen zählt, die sich auf ihre Weltläufigkeit viel zugute halten. Christian Wulff hat sich ein Haus mit Klinkerfassade gekauft. Möglicherweise ist das sein größter Fehler gewesen. Jeder hätte verstanden, wenn er sich eine Altbauetage in Hannover zugelegt hätte, dann auch mit einem Kredit von seinem Freund Maschmeyer. Aber 415000 Euro für ein Fertighaus in Großburgwedel? Darüber kann man in den aufgeklärten Kreisen bis heute nur den Kopf schütteln.

Wohin sie blicken, überall erkennen die professionellen Betrachter Mittelmaß, einen erschreckenden Mangel an «Zeitgenossenschaft und Gestaltungwillen», wie es in der «taz» hieß. «Unglaublich bieder» erscheint ihnen alles an dem Ensemble («die Proportionen stimmen nicht und die Fensterkreuze sind nur aufgeklebt»), «trostlos» («Handelsblatt») auch das Ferienhaus. Die «FAZ» bemängelte gleich den ganzen Lebenszuschnitt der Bewohner und resümiert: «Es ist das Deprimierende an dieser Affäre, dass sie in jeder Situation immer wieder einen Mann zeigt, dessen Möglichkeiten mit den Ämtern wachsen, ohne dass sich die Verhältnisse seines Denkens ändern. Das geborgte Haus ist nur ein Klinkerhaus, der geschenkte Urlaub führt nicht auf eine Südseeinsel, die Piefigkeit ist immer wieder nur dieselbe Piefigkeit.» Mit anderen Worten: Einem flamboyanteren Mann hätte man seine Verfehlungen vielleicht verziehen, einem solchen Spießer auf keinen Fall.

Wer nach einer Erklärung sucht, warum so viele Deutsche so lange zu Wulff hielten, findet sie auch in dieser herablassenden Betrachtung einer Welt, die für die meisten Normalität ist. Das Stichwort hier ist Piefigkeit, dabei ist die soziodemographische Wahrheit, dass die überwiegende Zahl der Deutschen nicht auf naturgewachsten Altbaudielen in verkehrsberuhigter Innenstadtlage lebt, auch wenn die meisten Medien in Deutschland so tun (und in zunehmendem Maße die Volksvertreter in den Parteien). Die Mehrheit wohnt wie die Wulffs, in einem Reihenhaus in Randlage, mit Buchsbaum und Begonien im Garten und einem halbhohen Zaun, der das Grundstück von Straße und Nachbarn trennt. Deshalb ist es alles andere als verwunderlich, dass sie sich in dem Mann wiedererkannten, der im Schloss Bellevue residierte – und wenn man die Zeichen richtig deutet, auch in seiner Neigung, ganz genau darauf zu achten, wo sich noch etwas sparen lässt.

Die Wulff-Affäre ist nach acht Wochen endgültig auf der Ebene der Stilkritik angekommen. Aber dahin zielte sie im Grunde schon die ganze Zeit. Vielen erschien Wulff immer zu bieder für das Präsidentenamt, zu kleinbürgerlich in seinen Ansprüchen, ein Aufsteiger aus einem Milieu, das zu verachten in Deutschland Tradition hat, jedenfalls in den Schichten, die hierzulande den Ton angeben. Die intellektuelle Klasse hat dem Kleinbürger nie Sympathien entgegengebracht, anders als dem Arbeiter oder auch dem Habenichts. Der Kleinbürger gilt ihr als Minusvariante des Bürgers, ein Mensch von beschränktem Format. Klein, eng, verstellt ist seine Welt, Hort des Betulichen und Beschränkten, wo man am Wochenende den Rasen mäht, Schnittblumen zum Muttertag schenkt und seinen Hund «Momo» nennt, alles Dinge, über die man in Hamburg-Eppendorf oder dem Prenzlauer Berg in Berlin nur die Nase rümpfen kann.

Von der Verachtung der Eliten hat schon Helmut Kohl profitiert. Ganze Generationen von Journalisten haben sich über seine Sprache lustig gemacht, die Münzsammlung auf dem Schreibtisch, die Vorliebe für einfache Hausmannskost. Sie konnten in ihm immer nur den Gimpel erkennen, das Trampel, den Tor. Nur übersahen sie dabei, dass sich die meisten Menschen in Deutschland im Spott über das Provinzielle mitverspottet sahen. So saß Kohl nach jeder Wahl einfach weiter neben seinem Fischtank, trank seinen Pfälzer Riesling und telefonierte sich durch die Welt, bis man sich am Ende gar nicht mehr an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte.

Am Ende wurden die Vorwürfe gegen Wulff immer kleiner. Zuletzt galt schon das Geschenk eines Autohändlers für den Sohn als skandalisierungswürdiger Vorgang. Dabei liegt die eigentliche Spießigkeit möglicherweise darin, den Wert jedes ungerechtfertigten Upgrades nachrechnen zu wollen. Wer zu kleinlich wird, macht sich auch selber klein, das ist nahezu unvermeidbar.