Helmut Kohls doppeltes Erbe

Unter Historikern war immer schon eine beliebte Frage, wer als der größte deutsche Kanzler der Nachkriegszeit zu gelten hat. Die meisten geben Konrad Adenauer den Vorzug, weil er das Land nach dem Fall in den Nationalsozialismus zurück in die Völkergemeinschaft führte. Einige nennen Willy Brandt, der in den Deutschen die Leidenschaft für die Demokratie weckte. Der Dritte, der für diesen Ehrentitel in Frage kommt, ist Helmut Kohl, auch wenn das bis heute in manchen Vierteln der Republik nicht gern gehört wird. Die Deutschen haben ihm enorm viel zu verdanken, allem voran die Wiedervereinigung, die viele schon aufgegeben hatten, als sie plötzlich in greifbare Nähe rückte. Man kann sogar zu der Überzeugung gelangen, dass es ohne Kohl mit der Einheit nichts geworden wäre, jedenfalls nicht so schnell und nicht in dieser für die Bundesrepublik so vorteilhaften Form.

Doch der schwarze Riese hat den Deutschen nicht nur die Einheit gebracht. Seine andere große Hinterlassenschaft ist der Euro, und wenn die Dinge sich in diesem Fall so weiterentwickeln wie bisher, dann ist dies zweite Erbe geeignet, das erste erheblich zu verdüstern. Bislang hat niemand die Frage nach der Verantwortung des Altkanzlers gestellt, dabei ist sie unausweichlich: Wie, um Gottes Willen, konnte er Deutschland in einem Vertrag binden, der Zukunft und Wohlstand unseres Landes bedroht?

Zur historischen Wahrheit gehört, dass es ohne den Euro die Wiedervereinigung so nicht gegeben hätte. Beide Projekte gehören untrennbar zusammen. François Mitterrand, der hinter den Kulissen nach Kräften gegen die Einheit intrigierte, machte seine Zustimmung von der Einwilligung der Bundesregierung zur Währungsunion abhängig. Den Deutschen die D-Mark und damit die monetäre Herrschaft über Europa entwunden zu haben, galt den Franzosen als vertretbarer Preis, sich mit einem größeren und erstmals wirklich souveränen Deutschland abzufinden.

Die Frage ist also nicht, ob Kohl die Währungsunion hätte verhindern können (das konnte er nicht). Die Frage ist, weshalb sie so viele Länder umfasst, die nicht in diesen Club hineingehören, und warum der Vertrag so schludrig ausgehandelt ist, dass er auch im Nachhinein keine Korrektur der Teilnehmerliste erlaubt. Wir hätten heute einige Probleme weniger, wenn sich die Gründerväter beizeiten darüber Gedanken gemacht hätten, wie man mit einem Mitglied verfährt, das sich partout nicht an die Vereinsregeln halten will. So etwas macht man bei der Satzung jedes Golfclubs.

Was antworten Kohl und sein treuer Weggefährte Theo Waigel auf die Frage, wie ihnen ein solch epochaler Fehler unterlaufen konnte? Alle Probleme hätten mit Rot-Grün begonnen, sagen sie; hätten sie noch das Sagen gehabt, wären die Griechen niemals zum Euro gekommen. Aber das ist, mit Verlaub, Unsinn. Niemand wird ernsthaft annehmen können, dass ausgerechnet der überzeugte Europäer Kohl Griechenland die Tür gewiesen hätte, wenn diese Entscheidung schon zu seiner Zeit angestanden hätte. Er hatte auch kein Problem mit Portugal, dessen Wirtschaftsdaten nicht viel beeindruckender waren; und natürlich war auch Italien gleich mit von der Partie, obwohl überall zu lesen war, wie sich das Land auf die Schnelle gesundgerechnet hatte.

Kohl war immer ein Vertreter der pathetischen Politik, die von den Erfordernissen des Realen absieht, wenn es um höhere Ziele geht. Diese Politik operiert mit Kategorien, gegen die sich wirtschaftliche Erwägungen klein ausnehmen, alles gerät ihr schnell zur Frage von Krieg und Frieden. Das kann, wie im Fall der deutschen Einheit, glückhaft enden – aber eben leider auch in ein furchtbares Debakel münden. Einer der hellsichtigsten Kritiker des Euro-Projekts, der SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein, wies gleich zu Beginn darauf hin, dass es ein heikles Unterfangen ist, die Mentalität von Menschen ändern zu wollen. «Die Psychologie von Nationen kann nicht außer Acht bleiben, da hilft kein Befehl», schrieb er. Augstein waren alle romantischen Anwandlungen in der Außenpolitik suspekt, dazu hatte er seinen Bismarck zu genau studiert. Er wusste also, was kommen würde.

Wie jetzt weiter? Eine Möglichkeit ist die Ausdehnung des Solidarbegriffs. Die Deutschen haben ja Übung mit Finanzausgleichen, sie praktizieren diese seit Jahren im eigenen Land. In Zukunft würde der brave Mann in Stuttgart dann eben nicht nur eine Stunde am Tag für die Brüder und Schwestern an der Saar und in Bremen arbeiten, sondern zusätzlich noch zwei für die weiter entfernten Verwandten in Spanien und Portugal. Es spricht allerdings einiges für die Annahme, dass der Nationalstaat die größte gesellschaftliche Einheit ist, in der eine solche Form der staatlich administrierten Solidarität funktioniert. Man wird dann sehen, ob sie sich auch über Sprachräume und Kulturgrenzen hinweg befehlen lässt.

Wer eine solche Transferunion nicht will, muss über eine Verkleinerung der Euro-Zone nachdenken. Es ist nicht leicht zu erkennen, wie das gehen soll, ein solcher Ausweg ist von den Gründern nie bedacht worden. Aber wer den Maastricht-Vertrag in die eine Richtung bricht, kann das auch in die andere tun. Diese Tür ist jetzt offen. Kein Land haftet für die Schulden eines anderen, heißt es in dem Vertragstext. Diese Festlegung ist spätestens seit der Entscheidung des Bundestages zur Ausweitung des Rettungsschirms Makulatur.