Die Macht, der Sex und die Linke

Zu den großen Erfolgen der Frauenbewegung gehört die unverzügliche Ächtung sexueller Vergehen. Wer sich dem Verdacht aussetzt, hier die etablierten Regeln übertreten zu haben, darf auf Verständnis nicht hoffen; das Urteil liegt in der Regel vor, ohne dass ein Gericht zusammentreten muss. Sexuelle Gewalt kennt keine Entschuldigung, wobei sich das Verständnis, was als Gewalt anzusehen ist, ständig weiterentwickelt hat. In fortschrittlichen Ländern reicht inzwischen schon der nachträgliche Entzug einer einmal erteilten Einwilligung zum Geschlechtsverkehr, um den Tatbestand der sexuellen Nötigung zu begründen, wie der Wikileaks-Gründer Julian Assange bei einem Besuch in Schweden erfahren musste.

Die Ausgangslage im Fall Dominique Strauss-Kahn hätte so gesehen klarer nicht sein können: Der Vorwurf lautete auf Vergewaltigung, also ein kriminelles Delikt, das überall auf der Welt empfindliche Strafen nach sich zieht. Dazu kam das soziale Gefälle, dem im feministischen Diskurs naturgemäß besondere Beachtung geschenkt wird: Er alt, weiß und reich – sie jung, schwarz und arm. Diese Kriterien hätten eigentlich genügen sollen, um die Sympathien klar zu verteilen. Doch eigenartig, diesmal riet die räsonierende Klasse zu Besonnenheit und Zurückhaltung im Urteil. Viel war von der Unschuldsvermutung die Rede, die nicht gewahrt worden sei. Besonderen Unmut erregten dabei die Umstände, unter denen der ehemalige IWF-Chef dem New Yorker Haftrichter vorgeführt wurde: Dass er bei diesem Termin neben gewöhnlichen Kriminellen und Kleindealern zu sitzen kam, galt den Kritikern des Verfahrens als schändliche Demütigung. «Man wirft einen Mann nicht so den Hunden vor», erklärte der als reisendes Weltgewissen bestens ausgewiesene Bernard-Henri Lévy voller Mitgefühl in der «Zeit».

Man sollte meinen, dass gerade in linken Kreisen das entschiedene Vorgehen der amerikanischen Justiz Anerkennung hätte finden sollen. Die Annahme, dass vor den Schranken des Gerichts alle gleich sind, galt schließlich immer als eine der entscheidenden Errungenschaften der Aufklärung, aber offenbar fällt der Abschied von der Klassenjustiz doch schwerer als gedacht, wenn es einen aus den eigenen Reihen trifft. In Frankreich konnten viele Verteidiger des Beschuldigten in diesem Fall nur einen abscheulichen Auswuchs «puritanischen Irrsinns» sehen beziehungsweise ein «Komplott», um den braven Mann zu erledigen. So weit wollte man in Deutschland nicht gehen, aber auch hier überwogen die Klagen über die «Häme und den Spott», wie es ausgerechnet in der «taz» hieß, die sonst noch die kleinste Überschreitung linker Moralnormen unnachsichtig ahndet.

Offenbar spielte bei der Bewertung der Vorgänge die politische Herkunft des Verdächtigen keine ganz unbedeutende Rolle. Dass Strauss-Kahn ein treuer Parteigänger der Linken ist, der bis zu dem Vorfall noch als Kandidat für das französische Präsidentenamt galt, ließ die Vorwürfe gegen ihn irgendwie in einem anderen Licht erscheinen. Man stelle sich nur einmal vor, der Gast im New Yorker «Sofitel» wäre kein führender Sozialist, sondern ein Mann der rechten Seite gewesen. Es sind zumindest Zweifel erlaubt, ob die Leitkommentare in vielen Zeitungen dann auch so abwägend ausgefallen wären.

In der richtigen Gesinnung einen mildernden Umstand zu sehen, hat auf der Linken durchaus Tradition – das gilt sogar für Sexualdelikte, allen feministischen Proklamationen zum Trotz. Dass Andreas Baader Frauen grundsätzlich nur als «Fotzen» bezeichnete, hat seinem Status als Revolutionsheld nie Abbruch getan; über diese Verbalattacken, die spätestens im RAF-Knast ins offen Sadistische umschlugen, haben selbst überzeugte Frauenrechtlerinnen großzügig hinweggeschaut. Oder erinnern wir uns an Bill Clinton: Als der amerikanische Präsident erst eine Praktikantin verführte und sie dann, nachdem die Sache ruchbar wurde, von seinen Presseleuten als Flittchen denunzieren ließ, lag die Sympathie der aufgeklärten Öffentlichkeit nicht bei dem Mädchen, sondern dem Verführer.

Selbst Sex mit Minderjährigen erfährt im fortschrittsgesinnten Milieu nicht Entsetzen, sondern Solidarität, wenn der Täter als Kulturschaffender ausgewiesen ist und damit als Angehöriger einer Schicht, für die schon immer andere Normen galten. Bis heute besteht gegen den Regisseur Roman Polanski ein internationaler Haftbefehl, weil er 1977 in seinem Haus in Los Angeles eine 13-Jährige missbrauchte und sich dann kurz vor der Urteilsverkündung nach Frankreich absetzte. Doch statt seine Auslieferung zu verlangen, um das Verfahren endlich zum Abschluss zu bringen, forderte die Weltkulturgemeinde die sofortige Freilassung, als ihn die Schweizer Behörden vorübergehend in Haft nahmen. Dass sich die Richter in New York schwertaten, Strauss-Kahn gleich wieder auf freien Fuß zu setzen, hat auch damit zu tun.

Die Gerichtshöfe der Moral kennen keine Strafprozessordnung, hat der Philosoph Hermann Lübbe einmal angemerkt. Man kommt deshalb an ihnen zügig zu einem Urteil, was manche durchaus als Vorteil empfinden mögen. Nur ist die Moral eben auch eine sehr unzuverlässige Instanz, wie sich zeigt. Manchmal hat der reguläre Gang der Justiz durchaus seine Vorteile, er ist jedenfalls deutlich unbestechlicher.