Lichterkette für Guttenberg
Machen wir einen kleinen Test zur aktuellen politischen Bußpraxis. Von wem stammt der folgende Satz: «Ich habe einen Riesenfehler gemacht. Und für Fehler muss der Mensch die Verantwortung übernehmen»? Wer hat die Tage nach seinem Rücktritt so beschrieben: «Das Erste ist eine Schocksituation, die zu bewältigen ist. Danach fangen die Trauer und das Abschiednehmen an. Und ich musste natürlich von einem Tag auf den anderen Abschied nehmen, von meinem Amt, von meiner Lebenssituation hier, wo ich wohne.»? Wer zieht bis heute Trost aus seiner ungebrochenen Popularität? «Was mich berührt hat, war die liebevolle Reaktion von sehr vielen Menschen. Wir haben für die Briefe extra verschiedene Kisten aufgestellt: Die Positivkisten wurden immer voller, und die Negativkisten blieben sehr leer.»
Wenn Sie jetzt denken, dass die Antwort auf der Hand liegt, weil Sie genau diese Sätze in dem langen «Zeit»-Interview mit Karl-Theodor zu Guttenberg gelesen haben, dann wurden Sie leider auf dem falschen Fuß erwischt. Die Zitate sind nicht aus der «Zeit», sondern aus dem SPIEGEL, und sie stammen auch nicht von dem Freiherrn, wie man annehmen könnte, sondern aus einem Gespräch mit Margot Käßmann. Zugegeben, das war nicht ganz fair. Man konnte die zwei eine Zeitlang wirklich leicht verwechseln. Über Tage lief die Entschuldigungskampagne des ehemaligen Bundesverteidigungsministers, dann kam auch noch sein Buch in den Handel, und gemessen an Häufigkeit und Vehemenz der Selbstvorwürfe kann es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch Karl-Theodor zu Guttenberg von der Kulturstiftung Pro Europa der «Europäische Kulturpreis für Zivilcourage» angetragen wird beziehungsweise eine Gastprofessur für Sozialethik an der Ruhr-Universität Bochum. Von einem «ungeheuerlichen Fehler» war bei ihm die Rede, einer «unglaublichen Dummheit», die er «auch von Herzen bedauere» und die er sich nur mit der Überforderung seiner «Doppelbelastung» als Familienvater und Politiker erklären könne. Spätestens das ist das Stichwort, bei dem selbst der ärgste Guttenberg-Kritiker die Waffen strecken muss. «Doppelbelastung» ist genial, darauf ist nicht einmal Margot Käßmann gekommen.
Doch wie sich herausstellte, waren nicht alle zur Spontan-Vergebung bereit. Ein «Blender» sei der aus dem Amt gedrängte Verteidigungsminister, konnte man lesen, ein «Gaukler» und ein «wahrhaft gefährlicher Mann». An seinen Ein- und Auslassungen zur Politik im Allgemeinen und seiner Partei im Besonderen kann es nicht liegen, dass den Freiherrn nun zum zweiten Mal die volle mediale Verfolgungswut traf. Dass er viele Politiker für ahnungslos und überfordert hält, dürften die meisten, die Guttenberg erneut den Prozess machten, ihm nicht wirklich vorhalten wollen. Sie fühlten sich genarrt durch die Virtuosität, mit der sich der Gestürzte der Entschuldigungsformeln bediente, die sie gerne für andere Kandidaten reserviert gesehen hätten. Nach den Regeln des politischen Bußrituals hätten dem Mann jetzt Anerkennung und Anteilnahme gebührt, dabei wünschen sich seine Kritiker nach wie vor nichts sehnlicher als ewige Verachtung und Verbannung.
Zu den Höhepunkten im Vollzug moralischer Politik gehört die Bekundung von Schuld und Reue. Jemand hat einen Fehler begangen, er ist daraufhin tief gefallen, nun bittet er die Öffentlichkeit um Verzeihung. Manchmal fließen in diesen Augenblicken auch Tränen, sie gelten dann als sicherer Beweis, dass die Entschuldigung von Herzen kommt.
Unüberhörbar weisen diese öffentlichen Bitten um Vergebung in den religiösen Bereich zurück, das macht sie so mächtig. Mit der fortschreitenden Säkularisierung der Alltagswelt sind die moralischen Energien, von denen der katholische Glaube und mehr noch der Protestantismus lebte, ja nicht einfach abgestorben, sie haben sich lediglich verschoben. An die Stelle des Pietisten ist der moderne Tugendmensch getreten, dessen Glaubenseifer in immer neuen Vorschriften Entlastung findet. Guttenberg ist, wenn man so will, der Fehler im System; ein rechter Nutznießer der linken Versöhnungsrhetorik.
Nicht wenige nahmen Anstoß daran, dass ausgerechnet die «Zeit» dem gefallenen Hoffnungsträger bei seinem politischen Resozialisierungsversuch unter die Arme griff. Sie hatten sich von der Anstandsdame des deutschen Journalismus eine Verurteilung erwartet, nicht einfühlsame Begleitung auf seinem Bußweg. Aber die Enttäuschung beruhte auf einem Missverständnis. Kaum ein Blatt in Deutschland steht so für das protestantische Verständnis von Politik, in der das Schuldgefühl am Bodensatz der Zivilisation liegt und bei jedem Anlass die Lichterkette brennt, wie die Hamburger Wochenzeitschrift. In einem Blatt, in dem der Chefredakteur Bücher mit dem Titel «Wofür stehst Du?» auf den Markt bringt, darf jeder auf Verständnis hoffen, solange er sich zur Umkehr bereit zeigt, das gilt vom jugendlichen U-Bahn-Schläger bis zum gemäßigten Taliban. Da lässt man dann auch einen reuebereiten Baron nicht im Regen stehen.
Gegen das Sentimentale ist so schnell kein Kraut gewachsen, das mussten die Guttenberg-Kritiker bald erkennen. Stärker als das im Entrüstungston des Staatsanwalts vorgetragene Argument ist der Appell in der Sprache des Herzens. «Wiederholt äußerte er am Rande der Gespräche, dass er ‹gezeichnet›, ja ein wenig ‹traumatisiert› sei», heißt es im Vorwort zum Interview-Buch, das kurz vor Weihnachten zum Verkaufsschlager avancierte. Hier ist die Leidensgeschichte, die das Material für die Selbstidentifikation liefert, die schon Margot Käßmann in die Höhen des Bestsellerhimmels gehoben hat. Wer es für einen Zufall hält, dass die beiden Publikumslieblinge bei Herder veröffentlichen, dem Spezialverlag für alles Spirituelle, hat immer noch nicht begriffen, welches Spiel hier läuft.