27. Kapitel

Nach der Geisteraustreibung ging das Leben in Kingston Dapple weiter wie zuvor. Francesca’s Fabulous Frocks machte in den Tagen vor Silvester ein Bombengeschäft mit Partykleidern, und Dexter hatte reichlich zu tun, weil seine Kunden sich durch Unmengen bunter Blumen die Düsternis der tristen Nachweihnachtszeit aufheitern wollten.

Der Frost hielt an, und der Schnee blieb liegen. Alle, die sich anfangs gefreut hatten, ihn fallen zu sehen, hatten es inzwischen reichlich satt, zu rutschen und zu schlittern und zu frieren, und wünschten nur noch, er würde bald schmelzen.

Am Silvesterabend ging Frankie mit all ihren Freundinnen und deren Partnern zu einer Party bei Clemmie, Guy und YaYa. Sie lud Dexter auch dazu ein, und er sagte, er würde schrecklich gerne kommen, hätte jedoch für Neujahr eine andere Verpflichtung, die er nicht absagen könne, und wäre daher gar nicht in Kingston Dapple.

Frankie trug nach wie vor ständig ihre Ohrringe und dachte verträumt an die beiden Küsse zurück – den mit Mistelzweig und den ohne. Sie war fest entschlossen, Dexter nicht zu fragen, wie er ins neue Jahr rutschte oder mit wem, und er erzählte es ihr auch nicht. Lilly kehrte aus Zypern zurück, braun gebrannt und in einen Kellner namens Andreas verliebt.

Cherish setzte alle Welt in Erstaunen, indem sie ihren Bungalow zum Verkauf ausschrieb und in Brians Gästezimmer einzog. »In meinem Alter macht man keine halben Sachen mehr. Ich lebe hier und jetzt«, erklärte sie jedermann stolz. »Ich fühle mich wie neugeboren. Nie war ich glücklicher.« Und Brian ging es augenscheinlich genauso.

Biddy hatte natürlich die Nase gerümpft und prophezeit, das würde alles in Tränen enden. Und Maisie Fairbrother hatte verkündet, ihr guter Vorsatz fürs neue Jahr sei, die Tätigkeit als Medium aufzugeben und sich stattdessen in holistischem Heilen zu versuchen.

Und Ernie schlich nach wie vor unglücklich – und jetzt mutterseelenallein – in Francesca’s Fabulous Frocks herum.

»Weißt du«, sagte Frankie nach der Arbeit an einem sehr kalten und frostigen Abend Mitte Januar, als Dexter und sie mal wieder im Toad in the Hole ungläubig blinzelnd zwei dubiose Cocktails betrachteten, »ich hatte da eine Idee.«

»Dann halt sie fest«, meinte Dexter schmunzelnd. »Vielleicht brauchst du sie eines Tages noch.«

»Nein, im Ernst … Es ist wegen Ernie.«

»Oh Frankie. Ich weiß, was du empfindest, und ich weiß, wie unglücklich er ist, aber wir sind das doch jetzt schon unzählige Male durchgegangen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Jackie und Alan ihn nicht zurückschicken konnten, weil er als frisch verstorbener Geist auf ihrer Wellenlänge einfach nicht erreichbar war. Selbst Ernie sieht das jetzt so.«

»Ich weiß. Das meine ich nicht. Es geht um etwas anderes.«

»Okay, erzähl weiter.«

»Also, ich glaube nicht, dass er zufällig hier ist. In meiner Boutique. Ich meine, er hätte ja schließlich sonst wo landen können, nicht wahr? Und er war zuvor noch nie in dem Geschäft – auch nicht, als Rita es noch geführt hat –, also ist es nicht der Ort als solcher, an den er gebunden ist.«

Dexter runzelte die Stirn. »Bedaure, da kann ich deinem Gedankengang nicht wirklich folgen. Auch dachte ich immer, dass Geister – sofern ich überhaupt an Geister dachte – nur dort spuken, wo sie gestorben sind. In dem Fall müsste Ernie dann ja eigentlich im Poundland herumgeistern, oder?«

Frankie nickte und rührte das türkisfarbene Gebräu vor ihr mit dem Stiel ihrer erloschenen Wunderkerze um. »Ja. Kann sein – tut er aber nicht. Er ist wegen Achsahs Hochzeitskleid in meiner Boutique, nicht wahr?«

»Ja, so wird es wohl sein. Er hat erklärt, durch das Kleid fühlt er sich ihr nahe.«

»Und als ich ihn das erste Mal gesehen habe, nachdem mir klar wurde, dass er kein Crossdresser ist, und er mir seine ganze Geschichte erzählt hat, hat er gesagt, seine Nichten hätten das Kleid gestohlen und Rita gegeben. Also dachte ich mir, wenn das Kleid etwas so Besonderes für ihn ist, könnten wir es vielleicht mit in eine Kirche nehmen oder so – vielleicht sogar in die Kirche, wo Ernie und Achsah getraut worden sind – und irgendeine Zeremonie abhalten und ihn auf diese Weise, tja, erlösen.«

Dexter schob seinen nicht ausgetrunkenen Cocktail von sich und bestellte bei dem gelangweilten Barkeeper ein Bier. »Vielleicht, aber dazu bräuchten wir den Pfarrer oder so jemanden, und möglicherweise sind Kirchenleute nicht besonders scharf darauf, mit Untoten zu kommunizieren. Ich weiß es nicht. Ich bin seit meiner Grundschulzeit nicht mehr viel zur Kirche gegangen.«

»Ich auch nicht«, gab Frankie zu. »Ach, keine Ahnung. War nur so ein Gedanke. Ich weiß sonst wirklich nicht, was wir für ihn tun könnten.«

»Ach, Skype ist doch wirklich etwas Wunderbares!« In einem violetten Kunstpelzmantel über hautengen Jeans kam Lilly in den Pub getänzelt und kletterte neben Dexter auf einen Barhocker. »Andreas und ich haben gerade ewig lange miteinander gesprochen. Ach, ich vermisse ihn so schrecklich! Aber an Ostern kommt er herüber. Nur noch zwölf Wochen bis dahin! Falls ich überhaupt so lange ohne ihn leben kann.«

»Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen«, sagte Dexter und verkniff sich das Lachen. »Frankie hat mir jede Menge über ihn erzählt.«

»Das liegt daran, dass es seit ihrer Rückkehr kaum ein anderes Gesprächsthema mehr gibt.« Frankie spielte mit ihrem winzigen Cocktailschirmchen. »Und ich wette, bis Ostern sind schon mehrere andere Männer aus unserer Gegend an seine Stelle getreten.«

»Nein, ganz bestimmt nicht.« Lilly zog einen Schmollmund und beäugte den verschmähten Cocktail. »Trinkst du das nicht mehr, Dexter?«

»Nein – bedien dich.«

»Cool, danke schön. Oh, köstlich. Ich bestelle mir noch so einen. Und überhaupt, Andreas kommt nicht nur auf Besuch rüber. Er zieht hierher. Er wird hier wohnen. Bei mir.«

»Was?« Frankie schüttelte den Kopf. »Seit wann?«

»Seit heute Abend. Wir haben schon darüber gesprochen, als ich dort war, und er hat einen Cousin zweiten Grades oder einen Onkel oder so, der in Winterbrook ein griechisches Restaurant betreibt, dort hat er sich einen Job besorgt, und ich habe gesagt, natürlich kann er bei uns wohnen, also, bei mir – und so ist alles geregelt.«

»Na dann herzlichen Glückwunsch«, sagte Frankie mit matter Stimme und fragte sich erstens, ob Lilly und Andreas wohl an Visum und Arbeitserlaubnis gedacht hatten, Andreas vermutlich schon, und zweitens, ob sie das Haus in der Featherbed Lane wirklich mit einer total verknallten Lilly und einem festen Mitbewohner teilen wollte.

»Äh, ja – herzlichen Glückwunsch.« Dexter versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.

»Danke.« Lilly strahlte. »Und außerdem brauchst du gar nicht so zu tun, als drehten sich alle Gespräche immer nur um mich. Von der Geisteraustreibung war genauso viel die Rede wie von Andreas. Dass ich das verpasst habe! Ich fasse es kaum, dass sie wirklich weg sind und ich sie nie wieder sehen werde. Jared mochte ich wirklich gern.«

»Ich weiß, ich auch, aber jetzt sind sie glücklich. Gerade haben wir mal wieder über den armen alten Ernie gesprochen«, sagte Frankie. »Und versucht, einen tauglichen Plan zu entwickeln, ihn wieder mit seiner Achsah zu vereinen. Zum soundsovielten Mal. Ich habe überlegt, ob wir vielleicht irgendeine kirchliche Zeremonie für ihn abhalten könnten.«

Lilly bestellte einen weiteren dubiosen Cocktail. »Was denn? Wie bei einer Beerdigung?«

Frankie lachte laut auf. »Lilly, wie machst du das bloß? Du bist genial! Ach Lilly, ich liebe dich!«

»Prima!« Lilly klimperte mit den langen rosa Glitzer-Wimpern. »Aber ich verstehe nicht ganz, wieso.«

»Ich auch nicht.« Dexter sah verwirrt aus. »Habe ich irgendetwas nicht mitgekriegt?«

»Eine Beerdigung!« Frankie lächelte begeistert. »Warum in aller Welt ist uns das nicht schon früher eingefallen? Es liegt doch auf der Hand!«

»Ach ja?« Dexter wirkte noch immer leicht verständnislos.

»Ja, glasklar. Hört zu. Wir verschaffen Ernie die Beerdigung, die er wollte, aber nie bekommen hat. Wisst ihr noch, wie ich euch erzählt habe, dass Slo Motion mir sagte, die schrecklichen Nichten hätten Ernies Wünsche allesamt ignoriert und die denkbar billigste Bestattungsvariante gewählt, sodass seine Asche nirgendwo begraben oder verstreut wurde oder sonst was?«

»Ja, und …?«

»Und wenn wir dafür sorgen, dass Ernies Asche bei Achsah im Grab beigesetzt wird, wo er von Anfang an hinwollte, dann würde das doch bedeuten, dass er endlich zur letzten Ruhe gebettet ist, oder nicht?«

Dexter atmete tief aus. »Herrgott, Frankie, das ist genial. Warum in aller Welt haben wir daran nicht schon früher gedacht? Also, was machen wir als Nächstes?«

»Wir gehen zu Slo, sagen ihm, was wir vorhaben, und bitten ihn, es zu arrangieren.«

»Eigentlich finde ich«, Lilly ließ ihr Schirmchen kreiseln, »dass ihr zuallererst Ernie fragen solltet. Nur für alle Fälle. Ich meine, ich an seiner Stelle würde es wissen wollen, wenn jemand plant, mich irgendwo zu begraben, denn es könnte ja auch sein, dass ich das gar nicht möchte. Es wäre unhöflich, ihn nicht zu fragen.«

Erstaunt sah Dexter Lilly an. »Weißt du, Lilly, du bist wirklich ganz schön schlau.«

»Ja. Sicher. Zumindest für eine hohlköpfige Blondine. Hat man mir schon gesagt.« Sie beugte sich über die Theke zu dem gelangweilten Barkeeper. »Hallo, Schnucki! Kriegen wir bitte noch mal eine Runde von demselben? Danke.«

»Also«, sagte Frankie etwa eine Stunde später zu Ernie in Francesca’s Fabulous Frocks. »Das ist der Plan. Was meinst du dazu?«

Ernie, der an der Fünfzigerjahre-Kleiderstange lehnte, strahlte über sein ganzes kleines Koboldgesicht und fuhr sich mit den Fingern durch die grauen Haare, bis sie in die Höhe standen. »Auf mein Wort, Frankie, Spätzchen. Das klingt für mich goldrichtig. Ich meine, zwar wollte ich nicht verbrannt werden, aber was geschehen ist, ist geschehen, und wenn ihr mich bei meiner Achsah zur Ruhe betten könntet, wäre ich wirklich glücklich. Dann wären wenigstens unsere Körper und unsere Seelen wieder zusammen, und wir könnten gemeinsam in Frieden ruhen bis … nun ja, in Ewigkeit.«

Dexter atmete tief ein und sagte mit belegter Stimme: »Hm, ja. Also, wenn wir zu Slo gehen und ihm sagen, wir wollen eine kleine Zeremonie für dich abhalten – und wir hätten gerne, dass er deine Asche in Achsahs Grab beisetzt, dann wärst du damit einverstanden?«

»Mehr als einverstanden. Ich brauche keinen Gottesdienst oder irgendwelche Hymnen – das hatte ich alles schon im Krematorium. Ich will bloß bei meiner Achsah sein. Auf dem Kirchhof von Tadpole Bridge.«

»Wunderbar«, sagte Frankie. »Aber du wirst mir fehlen, Ernie, auch wenn ich weiß, dass es das ist, was du dir wünschst und worum wir uns schon lange bemühen.«

»Ach, ich werde dich und die anderen ebenso vermissen, Spätzchen. Auch den jungen Dexter hier. Ihr wart wie eine kleine Familie für mich, das wart ihr wirklich.«

Frankie schluckte und tupfte sich die Augen trocken.

Dexter räusperte sich. »Also gehen wir morgen zu Slo und sprechen mit ihm, ja?«

»Ich werde ihn anrufen, damit er auch da ist und wir nicht ungelegen kommen«, sagte Frankie mit zufriedenem Nicken. »Und dann arrangieren wir eine baldmögliche Beisetzung. Ernie, ich glaube, wir haben endlich die Lösung gefunden, meinst du nicht? Ich kann mir kaum vorstellen, dass jetzt noch irgendetwas schiefgeht.«