20. Kapitel
Mit wildem Gesang wünschten Noddy Holder und seine Band Slade jedermann fröhliche Weihnachten. Knapp zwei Wochen vor dem Fest hatte Frankie nachgegeben und die Easy-Listening-Musik beiseitegelegt.
In Francesca’s Fabulous Frocks wurde gerockt.
An diesem bitterkalten Montagmorgen war Frankie in ihrem kurzen roten Wollkleid mit farblich passender Strumpfhose und Stiefeln fast festlicher Stimmung. Fast. Die Ereignisse von Samstagabend lasteten noch immer schwer auf ihr, und als sie das Geschäft aufgemacht hatte, war ihr einigermaßen mulmig gewesen.
Alles wirkte weitgehend normal. Die Kleiderständer waren noch immer etwas verschoben, einige Kleider hingen nach wie vor schief auf den Bügeln, und die im Raum verteilten Kerzen sowie der kleine Tisch und der Stuhl für Maisie standen unverändert da, aber abgesehen davon deutete nichts darauf hin, dass irgendetwas Ungewöhnliches vorgegangen war.
Von Ernie, Bev und den Übrigen war nichts zu sehen.
In der Hoffnung, dass Maisies stümperhafter Exorzismus vielleicht doch noch verspätet Wirkung gezeigt hatte und folglich alle miteinander glücklich ins Jenseits zurückgekehrt waren, rief Frankie ein munteres »Guten Morgen!« – nur für alle Fälle.
Niemand antwortete ihr.
Also schob sie die Greatest Christmas Hits in die Stereoanlage, räumte rasch Maisies Zubehör beiseite, brachte die Kleiderstangen in Ordnung und drehte das Schild an der Eingangstür auf GEÖFFNET.
Sie war gerade dabei, den Stapel glitschiger lila-goldener Tragetaschen unter der Theke aufzustocken, als sich die Tür öffnete.
»Guten Morgen, du Geisterjägerin«, rief Dexter laut, um Roy Wood mit Wizzard zu übertönen, die sich wünschten, es wäre jeden Tag Weihnachten. »Gute Musik. Sind wir allein?«
Frankie richtete sich auf und lachte. Dexter trug unter der Lederjacke ein hellrotes Sweatshirt. »Schnipp, schnapp! Schon wieder. Wir sollten uns wirklich per SMS über unsere Kleiderauswahl verständigen. Und ja, keine Spur von den, ähm, gespenstischen Untermietern – zumindest bis jetzt.«
Dexter sah sich um. »Schräg, oder? Haben wir uns das alles nur eingebildet? Jetzt sieht es so normal aus. Na, egal«, er schwenkte eine große Supermarkt-Tragetasche, »nur für den Fall, dass wir nicht Opfer einer Massenhalluzination waren, hab ich hier Schuhe mitgebracht.«
»Super, vielen Dank. Ich stelle sie in die hintere Umkleidekabine und, ähm, verkünde einfach, dass sie sich dort befinden, und hoffentlich …« Frankie brach ab.
»Ich weiß«, übernahm Dexter. »Es kommt einem verrückt vor, sich um die Fußbekleidung von Leuten zu sorgen, die tot sind. Ich habe mir einfach geschnappt, was ich kriegen konnte. Maisie hat von den Schuhen nur sehr widerstrebend welche herausgerückt, aber schließlich konnte ich sie doch überreden.«
»Ich hoffe, du hast sie nicht allzu sehr mit Samthandschuhen angefasst.« Frankie lugte in die Tasche. »Oh, prima, alles schön flache Absätze, das ist gut – ich meine, wir wollen schließlich nicht, dass sie noch mehr Aufmerksamkeit erregen, indem sie umhertorkeln, weil sie seit Jahrzehnten keine Schuhe getragen haben. Aber du hast vier Paar hier drin.«
»Ich habe auch für Jared welche gebracht. Ich schätze mal, er wird sein Kleid anbehalten, nachdem er so begeistert davon war, also, dachte ich, sollte er auch passende Schuhe dazu haben.«
»Lila Riemchen-Sandaletten.« Frankie nickte. »Perfekt. Vielen Dank.« Sie stützte die Hände auf die Theke. »Kommt dir das nicht auch alles vollkommen aberwitzig vor?«
»Ziemlich«, bestätigte Dexter. »Aber ich habe mich gestern mit ausgiebiger Internetrecherche über Geistererscheinungen und Spuk und alles Übersinnliche beschäftigt, und selbst wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich jetzt schon etwas mehr daran glauben. Für manches gibt es einfach keine andere Erklärung. Einige wirklich intelligente, vernünftige, bodenständige Leute hatten ganz ähnliche Erlebnisse wie wir. Man kann also sagen, ich bin kein Skeptiker mehr.«
»Und bist du beim Surfen auf irgendwen gestoßen, der vielleicht in der Lage sein könnte, uns aus unserem, ähm, kleinen Dilemma zu helfen?«
»Nicht wirklich. Natürlich haben alle mit richtig berühmtem Namen tolle Webseiten, aber die machen anscheinend nur Fernsehshows oder Theaterauftritte. Ich nehme an, dass sie zu prominent und zu teuer wären, um eine einzelne private Geisterséance zu übernehmen oder was immer wir brauchen. Was die weniger bekannten Spiritisten betrifft – die klingen alle gut, könnten letztlich aber ebenso nutzlos sein wie Maisie.«
Frankie nickte. »Das stimmt. Und noch so jemand wie Maisie wäre das Letzte, was wir wollen. Ich werde versuchen, diskret einige Erkundigungen einzuziehen. Die dörflichen Buschtrommeln sind immer sehr hilfreich, um etwas herauszufinden.«
»Okay. Und ich werde auch weitersuchen. Wir haben ja aber ausgemacht, dass wir vor Silvester in Sachen Geisteraustreibung nichts unternehmen, nicht wahr?«
»Ja. Ganz klar. Ich will erst Weihnachten hinter mich bringen.«
»Sehr schön. Das passt mir gut. Aber bevor wir von lebenden Kunden oder toten Untermietern unterbrochen werden, wollte ich dich noch etwas sehr viel Wichtigeres fragen.«
Frankie stöhnte innerlich. Bestimmt ging es um ihr kindisches Benehmen am Samstagabend. Sie selbst hatte den ganzen Sonntag über ihre wachsenden Gefühle für Dexter nachgegrübelt wie auch über die Gründe, aus denen nie und nimmer mehr daraus werden durfte.
»Ach ja? Geht es um die Frage, wie man Mississippi buchstabiert?«
»Nein.« Dexter sah verwirrt aus. »Warum sollte es?«
»Weil Lilly und ich uns darüber bei einem Wohltätigkeits-quiz im Pub mal schwer in die Haare gekriegt haben. Ist zu einem Insiderwitz geworden.«
»Ach so. Nein, es ist sehr viel weniger knifflig. Es geht um unsere kalorienreichen und cholesterinhaltigen schlechten Essgewohnheiten.«
Frankie runzelte die Stirn. Dexter war ihr immer als ein ausgesprochen männlicher Typ vorgekommen. Nicht wie ein zimperlicher Gesundheitsapostel. War das vielleicht noch so etwas, was sie nicht von ihm wusste?
»Was ist mit unseren schlechten Essgewohnheiten?«
»Nun, seit ich nach Kingston Dapple gekommen bin, habe ich von Schinkenbrötchen zum Mitnehmen und dem ein oder anderen Ganztagsfrühstück im Greasy Spoon gelebt, ergänzt durch gelegentliche köstlich klebrige Kuchen aus Patsy’s Pantry, und zu Hause gab es irgendwelches undefinierbares Zeug, das nicht mehr als dreißig Sekunden vom Eisschrank in die Mikrowelle braucht. Und ich schätze, deine Ernährung sah nicht viel anders aus.«
»So ist es«, gab Frankie zu. »Aber ich habe nicht vor, jetzt irgendeine Schlankheitskur zu machen. Hat gar keinen Zweck. Ich fahre Weihnachten nach Hause, und meine Mum legt es immer darauf an, uns zu mästen. Wir rollen so ungefähr vom Tisch zum Sofa und wieder zurück.«
Dexter lachte. »Klingt in meinen Ohren wie das ideale Weihnachten. Und du brauchst keine Diät – das hatte ich ganz und gar nicht andeuten wollen.«
»Gut. Was denn dann?«
»Melissa, eine meiner Kundinnen – eigentlich eine meiner Heimservice-Damen –, hat mir von so einem tollen neuen Restaurant erzählt, mitten im Nirgendwo, wo es ausschließlich frische Produkte aus der Region gibt und – man stelle sich vor – alles rein vegetarisch.«
Frankie verkniff sich die Bemerkung, es interessiere sie einen feuchten Kehricht, was oder wo seine Heimservice-Tussis zu speisen pflegten, und rang sich ein Lächeln ab. »Ist ja interessant und überaus gesund. Und weiter?«
»Ich möchte dich gerne dorthin einladen.«
»Wie bitte?«
»Ich würde dich gern zum Abendessen einladen. In ein nettes Lokal. Wo wir eine anständige Mahlzeit aus frischen Zutaten bekommen und unter uns sind – ohne dass irgendwelche Lebenden oder Toten uns stören – und uns miteinander unterhalten können.«
»Wieso?«
Dexter lachte. »Warum sagst du nicht einfach Nein?«
»Entschuldige, ich weiß, das klang wirklich unhöflich.« Stark untertrieben, dachte Frankie und erteilte sich selbst im Geiste eine schwere Rüge. »Ich meine nur, ich habe mich nur gewundert …«
»Ich habe nicht vor, dich auf meine Liste hiesiger Eroberungen zu setzen, falls es das ist, was dich beschäftigt. Du hast ja ziemlich deutlich gemacht, was du von mir hältst, und auch, dass du nicht interessiert bist – und ich verbeiße mich nicht in aussichtslose Projekte.« Dexter zuckte mit den Schultern. »Ich dachte nur, weil wir all diesen Gespensterkram zusammen durchgemacht haben und außerdem beide frischgebackene Geschäftsinhaber und befreundet sind, wäre es vielleicht nett, mal zusammen auszugehen – rein freundschaftlich – ohne Massen anderer Leute. Aber wenn du nicht möchtest, dann …«
»Ich möchte«, sagte Frankie schnell. »Ehrlich. Vielen Dank. Schrecklich gern.«
»Gut.« Dexter sah gleich viel vergnügter aus. »Dann werde ich einen Tisch reservieren. Passt es dir am Mittwochabend?«
»Bestens.« Frankie nickte. »Und entschuldige noch mal – es ist nur … Tja, ich hatte seit Ewigkeiten keine Verabredung und bin im Hinblick auf die Beweggründe anderer ein bisschen misstrauisch geworden.«
»Na, dann brauchst du dir um meine ja keine Sorgen zu machen, nicht wahr? Es ist kein romantisches Rendezvous, und ich habe ja eben meine Karten auf den Tisch gelegt. Jetzt sollte ich aber wohl besser los und den Kiosk aufmachen. Die Christbäume gehen derzeit weg wie warme Semmeln. Dieses Jahr will offenbar jeder einen echten Baum. Brian war mir bei der Auslieferung eine große Hilfe.«
Frankie lachte. »Sag bloß nicht, Brian hat den, ähm, Aufgabenbereich in Sachen Heimservice-Damen übernommen? Der kommt doch gar nicht schnell genug aus seinem Dufflecoat.«
»Pfui.« Dexter lachte und ging zur Tür. »Ich lasse dich wissen, für welche Zeit ich einen Tisch bekommen habe, ja?«
»Bitte. Und, Dexter, entschuldige, dass ich so patzig war.«
»Du wirst schon deine Gründe haben«, meinte Dexter grinsend. »Und ich freue mich darauf herauszufinden, welche das sind.«
Frankie lächelte noch immer einfältig die geschlossene Tür an, als Ernie am Ende des Tresens erschien.
»Siehst du, Spätzchen, ich hab dir doch gesagt, er hat dich gern.«
Frankie seufzte. »Ach Ernie. Ja, er mag mich, und ich mag ihn auch. Aber mehr wird daraus nicht werden, aus allen möglichen Gründen.«
Ernie lachte leise. »Wir werden sehen, Spätzchen. Wir werden ja sehen.«
»Aus uns wird kein Paar wie du und Achsah, das brauchst du gar nicht erst zu denken.« Frankie bemühte sich um einen strengen Blick. »Und nicht etwa, dass ich mich nicht freuen würde, dich zu sehen, aber ich hatte wirklich gehofft, du wärst, nun ja, verschwunden. Sind die anderen auch noch hier?«
Ernie nickte. »Leider ja. Aber wir hatten eine ganz nette Zeit miteinander, Spätzchen. Wenn man erst mal tot ist, misst man die Zeit nicht mehr in Stunden oder Tagen oder so, von daher weiß ich nicht genau, wie lange es war, aber wir haben miteinander geplaudert und uns näher kennengelernt. Ich muss sagen, wenn ich schon noch eine Weile hier unten ohne meine Achsah festhänge, ist es doch nett, ein bisschen Gesellschaft zu haben.«
Frankie sah sich um. »Und wo sind sie jetzt?«
»Oh, sie sind alle hier, Spätzchen. Aber wir haben versprochen, uns so weit wie möglich im Hintergrund zu halten, und das machen wir. Keiner der anderen gibt dir die Schuld an dem Kuddelmuddel, das diese Maisie verursacht hat, und sie wollen die Lage für dich jetzt nicht noch schwieriger machen.«
»Danke schön.« Frankie seufzte erleichtert auf. »Ach, und ich habe die Schuhe für sie. Ich stelle sie in die hintere Umkleidekabine, sag das doch bitte den anderen. Ich würde sie ja auch dir geben, aber ich nehme mal an, du kannst keine Gegenstände festhalten.«
»Leider nein, Spätzchen. Aber sie werden sich über die Schuhe freuen, da bin ich mir sicher.«
»Hoffen wir es. Ach, und da wäre noch etwas, was ich dich fragen wollte – weißt du, ob jeder dich sehen kann, wenn du dich materialisiert hast? Oder sehen dich nur Leute, die irgendwie ein bisschen auf Überirdisches eingestimmt sind?«
Ernie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, Spätzchen, tut mir leid. Keiner von uns kennt sich mit den Feinheiten des Daseins als Spukgeist aus, und wir wissen auch nicht, wer zum Spukgeist wird oder warum. All das ist mir ein Rätsel. Wieso, Spätzchen? Machst du dir Sorgen wegen der Kunden?«
»Nun ja, hauptsächlich wegen Cherish, die hier in Teilzeit arbeitet und so gegen zehn Uhr kommt. Außerdem glaube ich, sie kennt dich – sie ist eine Freundin von Biddy, und Biddy kennt dich ganz sicher, denn sie war auf deiner Beerdigung.«
»Und eine boshafte Giftspritze ist sie noch dazu, aber wirklich.« Ernie runzelte die Stirn. »Ich meine Biddy, nicht Cherish. Cherish war nie bei der Seniorengruppe. Schüchtern, durch und durch. Kein geselliger Mensch. Aber ja, Cherish würde mich erkennen, wenn sie mich sieht, eindeutig, und Biddy garantiert auch. Danke für die Warnung, Spätzchen. Ich werde mich im Hintergrund halten, nur für den Fall, dass Cherish mich erspäht. Ich kann mir gut vorstellen, was Biddy daraus machen würde, wenn sie wüsste, dass ich untot bin.«
Frankie nickte ihm auf dem Weg zu den Kabinen über die Schulter hinweg zu. »Vor allem nachdem sie so eine große Sache daraus gemacht hat, dich würdig zu verabschieden.«
»Von wegen!«, spottete Ernie. »Biddy macht sich doch nicht die Bohne aus einem der lieben Verstorbenen. Die ist doch nur zu meiner Beerdigung, wie alle anderen, weil es danach umsonst zu essen und zu trinken gab. Sie ist kein besonders freundlicher Mensch.«
»Das kann gut sein«, räumte Frankie ein, stellte die vier Paar Schuhe ordentlich auf den Fußboden der hintersten Umkleidekabine und zog den Vorhang zu.
Ernie stand in der Abteilung Fünfzigerjahre, sein kleines verschmitztes Koboldgesicht sah nun wieder traurig aus. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten, Spätzchen?«
»Natürlich.«
»Achsahs Kleid. Könntest du mir versprechen, es nicht zu verkaufen? Nicht ehe ich endgültig weg bin. Ich fühle mich ihr nahe, solange ich in der Nähe ihres Kleides sein kann.«
»Natürlich verkaufe ich es nicht. Soll ich es von der Stange nehmen und nach oben in den Lagerraum bringen, damit es auch bestimmt keiner kaufen will? Ich weiß, dass verschiedene Leute es sich schon angesehen haben.«
Ernie schüttelte den Kopf. »Könntest du es nicht bitte einfach hierlassen, Spätzchen? Ich scheine hier unten im Laden festzuhängen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich im Obergeschoss materialisieren könnte, und falls nicht, könnte ich es ja gar nicht sehen.«
»Ach Ernie. Ich lasse es, wo immer du es haben willst, und ich verspreche dir, es nicht zu verkaufen.«
Ein beglücktes Lächeln breitete sich auf Ernies Gesicht aus. »Ich danke dir, Spätzchen. Du bist ein liebes Mädchen.«
»Und du bist auch sehr liebenswürdig, Ernie. Achsah war eine wirklich glückliche Frau. Jedenfalls – ach, du bist schon weg …«
»Wer ist weg, meine Liebe?« Cherish kam vergnügt hereingetrippelt. »Habe ich eine Kundin verpasst?«
»Nein … nein, überhaupt nicht. Ich habe nur mit mir selbst gesprochen.«
»Das mache ich auch dauernd.« Cherish knöpfte ihren beigefarbenen Wollmantel auf. »Wenn ich zu Hause bin, unterhalte ich mich mit den Moderatoren vom Radio und auch vom Fernsehen, weißt du, und manchmal rede ich auch mit mir selbst, wenn ich unterwegs bin. Deshalb liebe ich auch diese Mobiltelefone.«
Frankie runzelte die Stirn. »Den Zusammenhang verstehe ich nicht ganz.«
»Nun, meine Liebe«, Cherish faltete die graubraunen Handschuhe samt Schal fein säuberlich zusammen, »heutzutage hat ja jeder ein Mobiltelefon, nicht wahr? Und alle telefonieren, während sie herumlaufen. Wenn ich mich also bei Selbstgesprächen erwische, halte ich einfach eine Hand ans Ohr, dann denken alle, ich würde telefonieren, und keiner hält mich für bekloppt. Soll ich uns Wasser aufsetzen, meine Liebe?«
»Ja, ja bitte«, sagte Frankie lachend. »Du bist ziemlich früh dran heute Morgen.«
»Ich wurde im Auto mitgenommen.« Cherish errötete leicht. »Brian hat mich abgeholt. Er arbeitet den ganzen Tag bei Dexter und fährt an meinem Haus vorbei, wodurch er mir erspart hat, in dieser bitteren Kälte auf den Bus warten zu müssen.«
»Ach, das ist aber nett von ihm. Brian ist ein guter Kerl.«
»Das ist er, Liebes. Weißt du, vielleicht hatte ich ihn ganz falsch eingeschätzt. Ich fürchte, ich habe zu sehr nach der äußeren Erscheinung geurteilt. Ich lerne viel dazu, meine Liebe.«
Frankie lächelte vor sich hin, während Cherish vergnügt in die Küche trippelte. Cherish blühte von Tag zu Tag mehr auf. Womöglich würde sie eines Tages sogar noch in farbenfrohen Kleidern kommen anstelle der durch und durch unscheinbar beigen Sachen? Dann wüsste Frankie, dass die Verwandlung von der Raupe zum Schmetterling abgeschlossen wäre.
Aber, dachte sie bei sich und lächelte, als drei Frauen mit von der Kälte geröteten Nasen ins Geschäft kamen, warum in aller Welt sollte Cherishs Bungalow in Hazy Hassocks für Brian auf dem Weg zur Arbeit liegen? Da Brian nun in Ritas altem Haus wohnte, war er ohnehin schon in Kingston Dapple, und die Fahrt über Hazy Hassocks bedeutete für ihn folglich einen Umweg von mehreren Meilen. Wirklich höchst eigenartig …
»Soll ich auch gleich Kaffee für die Jungs machen, Liebes?«, rief Cherish munter durch die offene Küchentür. »Bestimmt frieren sie da draußen ganz schrecklich.«
Jungs? Ach so, Dexter und Brian. »Ja, natürlich. Bitte. Ich bring ihn dann nach draußen.«
»Nicht nötig, Liebes. Das mach ich doch gern. Ich sehe ja, dass wir Kundschaft haben.«
Mehrere weitere Frauen kamen allesamt bibbernd hereingepoltert, meinten, es sei viel zu kalt für Schnee, und überhaupt, was sei eigentlich mit der Klimaerwärmung? Dann gesellten sie sich zu den ersten drei und durchstöberten das Angebot.
Chris Rea fuhr musikalisch gerade zum Weihnachtsfest nach Hause.
»Ich nehme dieses hier, bitte.« Eine der ersten Kundinnen legte ein Abendkleid aus schwarzer Spitze über rotem Satin auf die Theke. »Das ist ein echt einmaliger Klassiker. Genau das Richtige für die Betriebsfeier von meinem Mann am Wochenende. Sie haben wirklich hübsche Kleider hier, meine Liebe. Ganz reizend. Ich werde all meinen Freundinnen empfehlen herzukommen. Es ist doch schön, zu wissen, dass man nicht auf irgendeiner örtlichen Veranstaltung plötzlich jemandem gegenübersteht, der genau dasselbe Kleid trägt.«
»Danke sehr.« Frankie lächelte und nahm das rot-schwarze Kleid entgegen. »Möchten Sie es vorher vielleicht anprobieren?«
»Es ist Größe vierzig, von daher müsste es passen.« Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht sollte ich es kurz überziehen … Sind die Umkleidekabinen dort drüben?«
»Ja.« Frankie nickte zu den Vorhängen hinüber. »Rufen Sie mich, wenn Sie mit dem Reißverschluss oder sonst etwas Hilfe brauchen. Es ist ein Spiegel darin, aber Sie können auch herauskommen und sich im Standspiegel betrachten, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Sehr schön, danke. Guter Kundenservice ist doch etwas Angenehmes.« Die Frau nahm ihr ausgewähltes Kleid wieder von der Theke und ging zu den Kabinen. »Das weiß ich wirklich zu schätzen.«
Aus dem Augenwinkel sah Frankie die Vorhänge der hinteren Kabine zucken. »Ach, nehmen Sie bitte nicht die hinterste«, rief sie ihrer Kundin schnell hinterher. »Äh, ich glaube, da ist schon jemand.«
Die Frau steuerte auf eine andere Umkleidekabine zu.
Puh. Frankie stieß die Luft aus.
»Was geht denn da drüben bei den Kabinen vor, Liebes?« Cherish stellte ein Tablett mit vier dampfenden Kaffeebechern auf die Theke. »Wie viele Leute sind denn da hinten drin? Der Vorhang bewegt sich ja wie bei Windstärke zehn. Sieht aus, als wäre da mächtig was los.«
»Ach, ähm, ich glaube, das ist schon in Ordnung.«
»Soll ich mal eben nachsehen gehen, Liebes? Es könnte ja jemand etwas zu lange Finger haben, falls du verstehst, was ich meine. Das ist uns in Miriams Modegeschäft mal passiert. Eine Dame hat ein Kleid über das andere angezogen und wollte mit beiden zusammen hinausgehen. Schockierend war das!«
»Ja … ja«, sagte Frankie zerstreut mit Blick auf die flatternden Vorhänge der hinteren Kabine, »kann ich mir vorstellen. Nein, Cherish, lass nur bitte, ich kümmere mich darum. Du kannst diese Kundinnen hier für mich bedienen und – ach, verflixt!«
Eifrig war Cherish bereits quer durch den Laden gewieselt.
Frankie hielt den Atem an.
Cherish zog den Vorhang der hinteren Kabine auf und kreischte.
»Verzeihung, Herzchen«, sagte Jared affektiert und kam einfältig lächelnd hervor, noch immer in seinem violetten Kostüm, nun jedoch mit farblich passenden Schuhen dazu, und tänzelte in Richtung Theke. »Ich hatte Sie nicht erschrecken wollen.«
Wie angewurzelt stand Cherish da und starrte ihn mit vor den Mund geschlagenen Händen einfach nur an.
Ach, zum Teufel noch mal … Frankie warf rasch einen Blick zu ihren anderen Kundinnen. Die waren emsig damit beschäftigt, verschiedene Kleider zu bewundern, und summten zu Greg Lakes recht traurigem Gesang über enttäuschende Weihnachtsfeste – ihnen schien nichts Ungewöhnliches aufgefallen zu sein.
»Jared!«, zischte Frankie. »Bitte! Du hast es versprochen!«
»Ich weiß, Süße, aber ich habe mich mitreißen lassen. Tut mir schrecklich leid. Die Schuhe sind einfach bezaubernd. Ich danke dir vielmals.«
»Gern geschehen. Aber bitte, verschwinde jetzt einfach.«
»Unbarmherzige Frau!«, schmollte Jared, dann drehte er eine anmutige Pirouette und vollführte in den violetten Schuhen formvollendete Spitzenschritte. »Keine Sorge, holde Maid. Ich geh schon.«
Die Hand in die Hüfte gestemmt tänzelte er geziert quer durch den Ladenraum und verschwand zwischen den Kleiderständern.
»Du liebe Güte!« Cherish tappte zur Theke zurück und wedelte noch immer mit der Hand vor dem Gesicht. »Die hat mir ja den Schreck meines Lebens eingejagt. Ich hatte nicht erwartet, dass sie so plötzlich hinter dem Vorhang herausplatzt. Aber die arme Frau, was für ein schlimmer Haarausfall! Alopezie, oder was meinst du, Liebes?« Sie kicherte. »Allerdings macht sie das ja an den Beinen wieder wett. Die waren sehr stark behaart, hast du es gesehen? Ich rasiere meine immer, wenn ich mein wöchentliches Bad nehme, du nicht auch? Aber sie sah sehr hübsch aus in dem Violett, findest du nicht? Also, Liebes, nachdem ich mich jetzt von dem Schrecken erholt habe, lasse ich unsere Becher hier auf der Theke und bringe den Jungs ihren Kaffee hinaus, bevor er zu kalt wird.«
Mit offenem Mund beobachtete Frankie, wie Cherish – die sonst kaum mehr als zwei Sätze in einer Stunde gesprochen hatte – seelenruhig das Tablett zur Tür hinaustrug.
»Das wäre ja um Haaresbreite ins Auge gegangen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« Bev hockte am Ende des Tresens und lachte leise. »Lustig, dass sie dachte, Jared wäre eine Frau.«
»Oh, Bev, zeig dich doch nicht jetzt! Ihr habt es alle versprochen!«
»Ich weiß.« Bev zuckte die Achseln und blickte auf ihre eleganten dunkelblauen, weichen Patrick-Cox-Lederschuhe hinab. »Und ich hab mir auch Mühe gegeben, ehrlich, aber ich glaube, genau wie bei Jared kam es von der Aufregung, wieder Schuhe zu tragen. Vielleicht ist es Aufregung, die uns erscheinen lässt? Oder jegliche Art von Gefühlen? Tut mir leid, Liebes, ich versuche, mich zu beruhigen und zu verschwinden. Ach, aber doch besser nicht gerade jetzt. Das könnte ein bisschen merkwürdig wirken.«
Die Dame mit schwarzer Spitze auf rotem Satin war mit dem Kleid in Händen wieder aus der Umkleidekabine aufgetaucht.
»Nicht merkwürdiger, als dass du mit deinem Haarnetz auf der Theke sitzt – auch wenn es gut zum Stil des Kleides passt«, sagte Frankie mürrisch, bevor sie ihre Kundin anlächelte und fest die Daumen drückte in der Hoffnung, dass die Abendkleid-Dame es nicht sonderbar fand, dass eine Frau, die aussah wie die Statistin eines Films über den Zweiten Weltkrieg, auf dem Verkaufstresen hockte. »Hat es gepasst?«
»Perfekt, vielen Dank. Ich nehme es.« Sie zückte eine Kreditkarte. »Das ist eine wundervolle Boutique. Ich komme dann noch mal wieder wegen einem Kleid für meine Silvesterparty.«
»Bitte tun Sie das.« Frankie zog die Karte durch. »Es wäre uns eine Freude.«
»Sie kann mich nicht sehen, stimmt’s?«, fragte Bev. »Oder hören?«
Frankie schüttelte den Kopf und faltete das schwarz-rote Abendkleid zusammen, um es sorgfältig in einer Tragetasche zu verstauen.
»Ich frage mich, wieso nicht?« Bev glitt zu Boden. »Komische Sache, dieses Spuken. Ich verstehe nicht, warum wir manchen Leuten erscheinen und anderen nicht?«
Frankie zuckte nur mit den Schultern, während sie lächelnd ihre Kundin verabschiedete.
»Okey-dokey, ich weiß, du kannst jetzt nicht mit mir reden. Dann schleiche ich mich mal«, lächelnd bewunderte Bev noch immer ihre Schuhe, »und vielen Dank dafür, Frankie. Sie sind sehr hübsch. Ruby und Gertie sind von ihren auch ganz begeistert.«
»Gern geschehen«, flüsterte Frankie, damit niemand es hörte. »Aber bitte verschwinde jetzt. Ach herrje …« Sie seufzte, als sie auf einmal Gertie und Ruby vergnügt um die Achtzigerjahre-Kleider herumwandern und die Schulterpolster betasten sah. »Und nimm die beiden bitte gleich mit.«
»Mach ich«, sagte Bev unbekümmert. »Und hattest du schon irgendwelchen Erfolg auf der Suche nach jemandem, der uns aus der Patsche helfen kann?«
»Noch nicht«, zischte Frankie, da gerade noch weitere vor Kälte schlotternde Kundinnen zur Tür hereinkamen. »Aber wir arbeiten daran.«
»Gutes Mädchen.« Bev lächelte. Und löste sich in Luft auf.
Frankie tat einen tiefen Seufzer der Erleichterung, und Brenda Lee begann mit »Rocking around the Christmas Tree«.
»Liebe Güte«, sagte Cherish, als sie mit rosigen Wangen und zerzausten Haaren wieder hereingeflattert kam, »es ist wirklich bitterkalt da draußen. Der Wind pfeift über den Marktplatz, und dieser Blumenkiosk bietet nur wenig Schutz. Die armen Jungs sind schon ganz durchgefroren. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten beide fingerfreie Fäustlinge anziehen. Und Thermo-Unterwäsche.«
Frankie blinzelte ungläubig. Cherish sprach mit Dexter und Brian über Unterwäsche? Ihre Verwandlung machte weitaus schnellere Fortschritte, als sie es sich hätte vorstellen können.
»Und«, fuhr Cherish fort, »darf ich einfach mal sagen, wie hübsch du in diesem Rot aussiehst? Ich scheue mich nicht zuzugeben, dass ich mich vielleicht doch ein ganz klein bisschen getäuscht haben könnte, als ich sagte, du wärst ein Grautyp, Liebes. Allmählich frage ich mich, ob ich nicht vielleicht auch selbst ein paar Farbtupfer in mein Leben bringen sollte. Ich hab mir überlegt, ob ich nicht tatsächlich ein paar orangefarbene Kissenbezüge für mein Sofa kaufe.«
»Ach ja?«, sagte Frankie, die sich sowohl über Cherishs Zugeständnis wie auch über ihren verschwörerischen Tonfall amüsierte. »Gute Idee. Würde bestimmt sehr hübsch aussehen.«
»Ja, ich glaube, das könnte den Raum deutlich aufheitern, auch wenn meine Mutter es scheußlich gefunden hätte. Für sie gab es nur helles Beige, und nichts anderes.« Cherish griff nach ihrem Kaffeebecher. »Aber, weißt du, ich glaube, ich hätte schon längst einsehen sollen, dass man nicht in der Vergangenheit leben kann. Die Vergangenheit trägt man im Herzen, nicht wahr, Liebes? Und wir müssen aus dem Hier und Jetzt das Beste machen, findest du nicht?«
Frankie blinzelte erstaunt und fragte sich, ob Cherish den Rat eines Therapeuten eingeholt hatte.
»Brian meint«, Cherish wärmte ihre Hände an dem Kaffeebecher, »ganz gleich, ob die Vergangenheit nun glücklich oder traurig gewesen ist, sie liegt hinter einem, und es ist die Gegenwart, die zählt. Brian ist sehr klug, weißt du, Liebes?«
»Ähm, Brian? Klug? Ja … Ja, ich nehme mal an, das, ähm, könnte wohl sein.«
»Er ist vernünftig.« Cherish nickte. »Und sehr nett. Also, Liebes, was soll ich heute machen?«
Frankie, die sich bemühte, kein allzu entgeistertes Gesicht zu machen, dachte rasch, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, Cherish so weit wie möglich vom Verkaufsraum fernzuhalten. Nur für den Fall, dass irgendein, äh, Toter in Erscheinung träte.
»Ach, ähm, also, wie wäre es, wenn du nach deinem Kaffee heute Vormittag die Lagerbestände im Obergeschoss ordnest? Ich habe eine weitere Ladung reinigen lassen, und die Kleider müssen noch nach Epochen geordnet werden. Außerdem war Mitzi Pashley-Royle aus Lovers Knot wirklich großzügig und hat uns zahlreiche abgelegte Cocktailkleider spendiert. Ich rufe dich, falls hier unten wirklich viel los sein sollte. Okay?«
»Sehr gern, Liebes, vielen Dank. Das Sortieren macht mir große Freude, wie du weißt. Und Cocktailkleider hast du gesagt? Das ist ja herrlich … Ich nehme jetzt meinen Kaffee mit nach oben, Liebes, und fange gleich an.«
Und mit federndem Schritt verschwand die blasse, unscheinbare, dünne Cherish vergnügt nach oben in den Lagerraum.
Frankie lehnte sich gegen die Theke und schüttelte den Kopf. Cherish und Brian? Brian und Cherish? Nein, das konnte doch wohl kaum sein …