4. Kapitel
Frankie lachte. Die Beschreibung war absolut zutreffend. Trotz des Wetters schaffte es der überaus attraktive Mann, der zur Tür des Blumenkiosks ein und aus eilte, geschmackvoll und sonnig und unheimlich cool auszusehen. In Jeans und Stiefeln, einer abgewetzten Lederjacke mit hochgestelltem Kragen und den im Wind wehenden sonnengebleichten Haarsträhnen war er unbestreitbar eine außergewöhnliche Augenweide.
»Wer mag das wohl sein?« Lilly presste die Nase gegen die Scheibe. »Irgendeine Idee? Ist das der Nachfolger von Ray? Neffe oder so, hast du doch gesagt, oder? Oh, wow, wie herrlich wäre das denn!«
»Tja, ja schon, aber nein, ich glaube nicht, dass das Dexter Valentine sein kann«, sagte Frankie. »Wahrscheinlich ist das nur irgendein Typ von der Gemeinde, der nachsieht, ob Rays Blumenstand inzwischen nicht von Vandalen beschädigt wurde.«
»Schade.« Lilly drückte sich noch dichter an die Glastür. »Denn es wäre doch wirklich wunderbar, den da täglich vor Augen zu haben – selbst für eine Männerhasserin wie dich – stimmt’s?«
»Ich bin keine Männerhasserin«, korrigierte Frankie eilig. »Ich bin nur ein bisschen wählerischer als du. Und ich bin sicher, das kann nicht Rays Neffe sein, denn soweit ich Rita verstanden habe, sieht der genauso aus wie Ray, nur dass er jünger und sehr viel unsympathischer ist. Ich denke, wenn und falls Dexter Valentine je hier aufkreuzt, ist er vermutlich ein fetter Fiesling mit Bierbauch und breitem Hintern – und wirklich bei Weitem nicht so attraktiv wie der da.«
»Ich weiß, hast du schon gesagt.« Lilly blickte träumerisch auf den Platz hinaus. »Also kann er es wohl eher nicht sein? Zu dumm aber auch – denn der da ist wirklich unheimlich scharf. Dann ist er vielleicht von der Gemeinde. Egal, wer auch immer er ist, ich bin verknallt.«
»Warum überrascht mich das nicht? Der arme Kerl, es gibt kein Entkommen für ihn«, sagte Frankie lachend, als sie ihn nun vor dem Blumenkiosk im Unwetter stehen sah, wo er reichlich ratlos in den unablässig auf die leeren hölzernen Bodendielen prasselnden Regen schaute. »Aber ich frage mich, wer das ist? Und was in aller Welt macht er da drüben?«
»Ich geh rüber und frag ihn«, sagte Lilly, zog die Tür auf und ließ den schneidenden Wind sowie jede Menge klatschnasses Laub in den Laden wehen.
»Lilly, nicht!«, stöhnte Frankie.
Zu spät. Lilly war schon unterwegs über das Kopfsteinpflaster, rutschend und schlitternd auf ihren lächerlich hohen Absätzen.
Frankie schmunzelte vor sich hin. Zweifellos würde die Augenweide à la Beckham – ob nun ungebunden und auch wenn vorerst noch nicht – bald regelmäßig in ihrem gemeinsamen Haus zu sehen sein, bis Lilly sich in jemand anderen verknallte.
Manchmal wünschte Frankie, sie hätte in Beziehungsangelegenheiten Lillys unbekümmerte Gelassenheit. Andererseits hatte Lilly noch nie geliebt. Nicht wirklich und wahrhaftig geliebt. Und das war das Problem: Wenn man einmal rettungslos, bis über beide Ohren, mit Herz und Seele, unsterblich geliebt hatte, fiel es danach sehr schwer, sich mit weniger zufriedenzugeben.
Wie sie nur allzu gut wusste.
Amüsiert beobachtete sie, wie Lilly mit ihrer gegen Wind und Regen scheinbar unempfindlichen blonden Igelfrisur auf das sonnige David-Beckham-Ebenbild zuhüpfte und lächelnd in typischer Lilly-Manier mit Händen und Mund gleichzeitig zu plaudern begann.
Jetzt lachte er. Und erwiderte etwas. Und Lilly winkte überschwänglich zum Laden hin und, ach Gottchen, sie kamen herüber …
Wieder flog mit einem erneuten Schwall eiskalter Luft, strömenden Regens und nassen Herbstlaubs die Tür auf.
»Er ist es!« Lilly strahlte und schob die Augenweide à la Beckham in den Laden. »Er ist Dexter Valentine! So eine Überraschung!«
Das war allerdings eine Überraschung, dachte Frankie und blinzelte Dexter Valentine ungläubig an, der es, obwohl nass und windzerzaust, schaffte, von Nahem sogar noch hinreißender auszusehen als von fern. Eine große Überraschung …
In der Tat eine so umwerfende Überraschung, dass sie, wenn sie nicht aufpasste, gleich anfangen würde, genauso hemmungslos zu schmachten wie Lilly.
Da war Rita ja ganz und gar auf dem falschen Dampfer gewesen. Und wenn sie sich hinsichtlich Dexters äußerer Erscheinung so getäuscht hatte, hatte sie sich ja vielleicht in allem Übrigen ebenso getäuscht? Vielleicht war Dexter Valentine fleißig und rechtschaffen und …
Rasch besann sie sich auf ihre guten Manieren, hörte auf zu glotzen und lächelte in einer, wie sie hoffte, warmherzigen und freundlichen, aber eindeutig desinteressierten Art und Weise. »Hallo, also. Willkommen in Kingston Dapples Geschäftszentrum. Ich bin Frankie Meredith, und Lilly hat sich ja bestimmt schon selbst vorgestellt.«
»Hat sie.« Dexter nickte mit Lachfältchen um die bernsteinfarbenen Augen und streckte die Hand aus. »Schön, dich kennenzulernen.«
Sie gaben sich die Hände. Die erste körperliche Berührung war aufreizend elektrisierend. Dexter wirkte dabei sehr viel entspannter, als Frankie sich fühlte. Seine Augen waren mit ihren auf einer Höhe, sie ließ als Erste die Hand fallen und wandte den Blick ab.
»Nicht gerade das beste Wetter, um dein neues Geschäft zum ersten Mal in Augenschein zu nehmen«, sagte Frankie, die versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, und sich selbst im nächsten Augenblick innerlich dafür verfluchte, als Gesprächseröffnung aufs Wetter zu verfallen. Sie klang ja schon genau wie ihre Oma. Verflixt noch mal.
»Stimmt.« Dexter strich Regentropfen von der Lederjacke. »Aber das hier«, langsam ließ er den Blick anerkennend durch den Laden schweifen und noch langsamer und noch anerkennender über sie und Lilly, »ist ganz schön cool. Und dabei habe ich mich wirklich davor gefürchtet hierherzukommen. Ich dachte, Kingston Dapple wäre so ziemlich die Eiterbeule am Arsch der Welt. Jetzt aber«, er grinste sie beide an, »kann ich Ray gar nicht genug dafür danken, dass er sich mit deiner Exchefin davongemacht hat, um die Romanverfilmung von Corellis Mandoline nachzuspielen oder was auch immer er da infolge seiner Midlifecrisis angestellt hat.«
Ganz gegen ihre Absicht kicherte Frankie. Schließlich dachte sie selbst über Ritas und Rays romantisches Abenteuer ganz ähnlich.
Und, hoppla, Dexter war nicht nur der absolute Frauenschwarm und rundum unwiderstehlich, er hatte zudem auch noch eindeutig Sinn für Humor. Eine außerordentlich ansprechende Kombination.
»Ich setz mal Wasser auf«, sagte Lilly vergnügt und tänzelte in die Küche davon. »Ich habe Dexter gesagt, du wärst bestimmt überrascht, dass er es ist. Ich habe ihm erzählt, dass du meintest, er sei ein fauler, fetter Proll.«
Frankie stöhnte.
»Hat sie«, bestätigte Dexter unbekümmert. »Ich war sehr betroffen.«
»Tut mir leid«, murmelte Frankie, die sich immer noch bemühte, diese blonde, bernsteinäugige Herrlichkeit nicht allzu offenkundig anzugaffen. »Es ist nur so, dass du keine sonderlich gute Vorankündigung hattest.«
»Das überrascht mich kaum«, sagte Dexter unbekümmert. »Ich war für meine Familie eine riesige Enttäuschung. Die letzte Hoffnung auf Rettung besteht offenbar darin, als Blumenexperte zu Berkshires Antwort auf den bekannten Fernsehgärtner Alan Titchmarsh zu werden.«
»Äh …« Frankie war noch immer schrecklich verlegen. »Bist du denn Fachmann für Blumen? Für Gartenbau? Ist das dein Beruf?«
»Ich verstehe von Blumen noch weniger als von Nuklearphysik.«
»Aha.« Frankie schob sich erneut die Haare hinter die Ohren. »Und warum …?«
»Wie ich schon sagte«, Dexter ließ den Blick über das Bild der Verwüstung in der Boutique schweifen, »war das Rays Plan, um mir aus der Patsche zu helfen, in die, ähm, ich geraten war. Und, ehrlich gesagt, da ich keine Arbeit mehr hatte und aus Oxford wegmusste – die Lage war ziemlich verzwickt –, war ein bereits bestehendes Geschäft ein viel zu gutes Angebot, als dass ich es hätte ablehnen können. Ray hat mir ein gesundes Startkapital hinterlassen und jede Menge Informationen über Lieferanten und Märkte usw. Morgen kümmere ich mich um den Nachschub. Ich schätze, ich werde den Dreh schon rausbekommen, wie so ein Laden läuft.«
Frankie dachte, dass Rita, auch wenn sie Dexters äußere Erscheinung vollkommen falsch eingeschätzt hatte, im Übrigen den Nagel wohl doch auf den Kopf getroffen hatte.
»Und, was ist mit dir?«, fuhr Dexter fort, dem es anscheinend überhaupt nicht peinlich war zuzugeben, dass er wegen irgendeines Fehltritts aus Oxford abgehauen und noch dazu als Florist vollkommen ahnungslos war. »Du scheinst hier in einem ziemlichen Schlamassel zu stecken.«
»Stark untertrieben. Ich hoffe, am Wochenende wieder eröffnen zu können, aber im Moment bin ich ein bisschen überfordert.«
»Du hast all das hier von Rays Rita geerbt, stimmt’s?«
Frankie nickte.
Dexter lachte. »Er hat mir viel von dir erzählt.«
Ach Gottchen … Frankie holte tief Luft. »Hat er das?«
»Hat er.« Dexter bedachte sie erneut mit diesem langsam musternden, anerkennenden Blick. »Und im Gegensatz zu meiner eigenen Vorberichterstattung lag er mit deiner wohl genau richtig.«
Frankie war sich ziemlich sicher, dass sie rot anlief. Wie grauenhaft war das denn? Seit ihrer Teenagerzeit war sie nicht mehr rot geworden.
Dexter nickte. »Wir sind also beide ins selbe schwankende Boot geworfen worden, stimmt’s? Mitten im Winter ins kalte Wasser gestoßen mit Geschäften, von denen wir nur sehr wenig Ahnung haben und die in der gegenwärtigen Wirtschaftslage leicht kentern könnten.«
Na toll, dachte Frankie. Immer schön positiv denken. »Eigentlich bin ich wirklich begeistert davon, diesen Laden zu betreiben. Ich hab ein paar tolle Ideen und …«
»Kaffee!« Lilly kam mit einem Tablett in Händen in den Laden zurückgetänzelt und knallte es auf die Theke. »Na«, sie strahlte Dexter an, »da Frankie und du jetzt fast so etwas wie angeheiratete Verwandte seid, habt ihr euch bestimmt jede Menge zu erzählen. Wollen wir nicht alle später in den Toad gehen, um uns bei einer netten Unterhaltung näher kennenzulernen?«
»Ich kann heute Abend nicht, Lilly«, sagte Frankie eilig, bevor Dexter irgendetwas antworten konnte. Ein dermaßen atemberaubender Mann wie Dexter war garantiert schon fest verbandelt und würde bestimmt weder sie noch Lilly mitschleppen wollen. »Ich werde die ganze Nacht damit zu tun haben, das alles hier zu sortieren. Um bis zum Wochenende aufzumachen, bräuchte ich Heerscharen von Helfern.«
»Ist recht«, sagte Lilly vergnügt und zog sich auf den Tresen hoch, »dann gehen eben nur Dexter und ich.«
»Klingt gut.« Dexter brachte seine verführerischen Bernsteinaugen voll zum Einsatz. »Vor allem weil auf mich nichts anderes wartet als eine einsame Einzimmerwohnung.«
»Wirklich? Hier in Kingston Dapple?«, fragte Lilly ungeniert. »Frankie und ich wohnen in der Featherbed Lane. Bist du da irgendwo in der Nähe?«
»Keine Ahnung.« Dexter legte die Hände um seinen Kaffeebecher. »Ich kenne mich in diesem Dorf überhaupt nicht aus. Ray hat die Wohnung für mich besorgt – er war in jeder Hinsicht wirklich großartig. Ich habe vor einer Stunde nur meine Sachen dort abgeladen und bin dann hergekommen, um mir den Blumenstand anzusehen. Es ist irgendwo abseits der Highstreet. In der Peep ’o’ Day Passage?«
»Ach, wie nett.« Lilly nickte. »Ganz in der Nähe. Na ja, in Kingston Dapple ist nichts sonderlich weit entfernt von etwas anderem, wir sind also beinahe Nachbarn. Teilst du die Wohnung mit irgendwem?«
Frankie, die gerade den Mund voller Kaffee hatte, prustete los.
Dexter schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt nur mich und das trostlose Apartment.«
»Ach, super!« Lilly grinste. »Noch ein Single! Dann können wir uns ja so um acht im Toad treffen, wenn es dir recht ist?«
»Mehr als recht.« Dexter erwiderte ihr Grinsen über den Rand seines Kaffeebechers hinweg. »Aber wirst du nicht hier gebraucht? Wenn, ähm, Frankie bis zum Wochenende alles fertig haben muss, braucht sie doch sicher alle Hilfe, die sie kriegen kann.«
Lilly zog eine Schnute. Sie schaffte es, trotzdem noch niedlich auszusehen. »Ach, daran hab ich gar nicht gedacht.«
Frankie zuckte mit den Schultern. »Lasst euch von mir eure Freizeitpläne nicht durchkreuzen. Ich komm schon klar. Ich werde so viele Gefälligkeiten wie möglich einfordern und sämtliche Leute heute Abend hierherbestellen, um diesen Kram wegzuräumen.«
»Dann ist ja alles gut.« Lilly strahlte sie an. »Wenn du fertig bist, kannst du ja später noch in den Toad rüberkommen und dich zu uns gesellen.«
Dexter schien nicht so ganz überzeugt. »Wäre es aber nicht besser, wenn wir alle mit anpacken und helfen würden?«
Überrascht sah Frankie ihn an. Vielleicht war er doch nicht so übel? Vielleicht waren seine Missetaten in Oxford gar nicht so schlimm gewesen?
»Danach«, fuhr Dexter fort, »wenn wir diesen Raum hier in Ordnung gebracht haben, können wir alle auf einen Drink in den Pub gehen, und vielleicht könntet ihr beide mir morgen dann helfen, den Blumenstand einzurichten?«
Wohl kaum, dachte Frankie, es sei denn, irgendwer könnte für ein paar Wochen die Zeit anhalten. Aber trotzdem war es nett von ihm, ihr seine Hilfe anzubieten. Außerdem war er der tollste Mann, den sie je gesehen hatte. Sogar noch toller als …
»Ach, schade. Ich muss morgen wieder zur Arbeit«, sagte Lilly mit enttäuschtem Gesicht. »Aber Frankie hilft dir bestimmt gerne.«
»Ich werde wirklich keine Zeit dafür haben.«
Lilly hob die perfekt in Form gezupften Augenbrauen. »Dann solltest du dir die Zeit nehmen. Jennifer sagt, Organisation ist bei einer Firma im einundzwanzigsten Jahrhundert das Allerwichtigste. Jennifer meint …«
»Es interessiert mich nicht, was Jennifer meint.« Frankie schüttelte den Kopf. »Und sofern Jennifer nicht eine ganze Renovierungsmannschaft herbeizaubert, die diesen Laden hier auf Vordermann bringt, sind ihre Ansichten im Augenblick wohl kaum von Bedeutung.«
»Oh, wir sind wohl ein wenig gereizt?« Lilly kicherte. »Du brauchst unbedingt eine große Portion Entspannung. Aber ja, okay – ich schätze, es könnte auch Spaß machen, wenn wir alle hier heute Abend mit anpacken.«
Ein Spaß, dachte Frankie bekümmert, würde es sicher nicht. Nur furchtbar viel harte Arbeit. Und heraus käme wahrscheinlich ein noch größeres Chaos. Aber unter Dreingabe des absolut atemberaubenden Dexter als Augenweide in stressigen Momenten könnte sie es vielleicht schaffen.
Sie griff nach ihrem Handy. »Dann mach ich mal eben ein paar Anrufe und frage, wer für ein bisschen Schleppen und Heben zu haben wäre.«