21. Kapitel
»Und, wohin führt er dich heute Abend aus?«, fragte Lilly am Mittwochabend, während sie amüsiert beobachtete, wie Frankie alles Mögliche aus ihrem Schrank zog und auf das rosa-violette Rüschenbett warf.
»In ein Lokal namens Hideaway Home«, murmelte Frankie, die gerade versuchte, Kleider auszuwählen und gleichzeitig mit dem Glätteisen ihren Pony zu begradigen. »Das ist ein neues Restaurant hier in der Gegend, irgendwo in der Wildnis. Sie servieren vegetarische Landhausküche oder so ähnlich. Dexter fand, wir sollten zur Abwechslung mal was Gesundes essen.«
»Aber sicher doch.« Lilly kicherte. »Ganz bestimmt hat er das einzig und allein deinem malträtierten Verdauungstrakt zuliebe vorgeschlagen!« Sie ließ sich aufs Bett plumpsen, sodass ein halbes Dutzend Kleider verrutschte. »Außerdem weiß ich alles über Hideaway Home.«
»Ach ja? Wirklich? Warst du schon dort?«
Lilly schüttelte den Kopf. »Nein, aber die Eigentümer und Betreiber sind diese Leute, die letztes Jahr Dewberry’s Dinners gewonnen haben. Die Fernseh-Kochshow, weißt du? Wir haben sie zusammen gesehen.«
»Oh ja, ich erinnere mich. Die sind das? Wirklich? Wow.« Frankie grinste. »Die waren toll.«
»Vor allem dieser Koch – Ashley? Ash? Wie scharf war der denn?«
»Total«, bestätigte Frankie. »Dann isst man dort wohl gut, oder?«
»Anscheinend ganz hervorragend.« Lilly stand auf. »Jennifer Blessing und ihr Mann sind da gewesen. Sie sagt, es sei umwerfend. Du wirst es genießen. Und wenn du entschieden hast, was du anziehst, komm doch kurz rüber und zeig es mir. Ich mach jetzt besser weiter – ich hab noch reichlich zu packen.«
Frankie schaltete das Glätteisen aus und betrachtete ihr von kleinen rosa Lichterketten umrahmtes Spiegelbild. Ihre Haare sahen gut aus, und ihr Make-up war in Ordnung. Also, sollte sie sich nun elegant kleiden oder eher leger? Oder irgendwo in der Mitte? Raffiniert in edlem Schwarz oder heiter und farbenfroh?
»Packen?« Im Spiegel sah sie Lilly an. »Du fährst doch erst einen Tag vor Weihnachten.«
»Ich weiß, aber ich kann mich nie entscheiden, was ich mitnehmen und was ich hierlassen soll. Ich muss mit dem Packen früh anfangen, weil ich es mir immer wieder anders überlege, du weißt ja, wie ich bin.«
»Nur zu gut, aber was ich wirklich nicht weiß, ist, wie du es aushältst, Weihnachten und Silvester im Warmen zu verbringen. Fühlt sich irgendwie völlig verkehrt an.«
»Was sich verkehrt anfühlt«, erwiderte Lilly schmunzelnd, »ist, Weihnachten mit Mum und Dad und deren neuen Partnern und sämtlichen Stiefgeschwistern zu verbringen. Das ist die Hölle auf Erden, glaub mir. Sie finden es herrlich, aber mich treibt es in den Wahnsinn. Es ist geradezu unnatürlich, wie blendend sich alle miteinander verstehen – und wie viele Kinder sie haben. Und dann geht an Silvester alles in dem anderen Haus wieder von vorn los. Es ist absolut grauenhaft. Nein, ich und meine Mädels, wir machen uns eine echt tolle Zeit auf Zypern und denken an euch, wie ihr euch hier halb zu Tode friert.«
»Das werden wir ganz bestimmt«, sagte Frankie und lauschte, wie draußen der Nordostwind heulte. »Wenn du Anfang Januar zurückkommst, liegt hier wahrscheinlich meterhoch Schnee.«
»Was bedeutet, dass die Flughäfen geschlossen werden und wir noch viel, viel länger auf Zypern bleiben müssen.« Lilly tänzelte vergnügt aus dem Schlafzimmer. »So ein Pech aber auch.«
Rosa, dachte Frankie, als Lilly gegangen war. Rosa würde heute Abend gut aussehen. Es wäre nicht ganz so knallig wie die Farben, die sie tagsüber sonst trug, aber dennoch weiblich und hübsch, und es wirkte nicht so, als hätte sie sich allzu sehr herausgeputzt. Dexter sollte nicht denken, dass sie ihn beeindrucken wollte.
Sie zog ein altrosa Kleid mit kurzem, ausgestelltem Rock und langen Ärmeln aus dem Haufen vom Bett. Perfekt. Und irgendwo hatte sie doch eine dazu passende Strumpfhose in einem etwas dunkleren Farbton … Sie begann die Schubladen zu durchwühlen und warf den Ausschuss über die Schulter. Aha! Da war sie ja! Gut, und jetzt die lila Stiefel … Bestens …
»Oh, du siehst großartig aus!« Lilly nickte beifällig, als Frankie sich ihr in der Schlafzimmertür präsentierte. »Er wird die Finger nicht von dir lassen können.«
»Das sollte er aber besser.« Frankie lachte. »Es ist schließlich kein romantisches Rendezvous, Lilly. Wir sind Freunde und gehen einfach nur miteinander essen, um uns zu unterhalten.«
»Na klar. Worüber denn?«
Frankie zuckte mit den Schultern. »Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte, ach, und über Geister wahrscheinlich.«
»Über all das könnt ihr euch auch im Greasy Spoon oder im Toad in the Hole unterhalten«, meinte Lilly nüchtern. »Für Gespräche dieser Art braucht ihr nicht in ein tolles Restaurant zu gehen. Und«, sie grinste Frankie an, »obwohl ich nach den Ereignissen von Samstagabend völlig von der Rolle war, habe ich die Geister mit keinem Wort erwähnt. Und auch nicht, dass es in deinem Laden spukt. Kein Sterbenswörtchen. Zu niemandem. Nicht einmal, als ich ein bisschen beschwipst war. Ich bin unheimlich stolz auf mich.«
»Und ich bin erstaunt.« Frankie lachte. »Aber sehr dankbar.«
»Sind denn noch alle da?«
Frankie nickte. »Leider ja. Wir lassen das Ganze bis zum neuen Jahr erst mal auf sich beruhen und hoffen, dass wir bis dahin ein richtiges Medium gefunden haben, das alles wieder in Ordnung bringt.«
»Traurige Vorstellung, dass sie dann Weihnachten ganz allein sind.«
»Sie sind tot, Lilly. Es macht ihnen nichts aus. Ich glaube nicht, dass im Jenseits Weihnachten gefeiert wird.«
»Aber natürlich!«, sagte Lilly empört. »Darum geht es doch! Weihnachten! Die Geburt von Jesus! In den Himmel kommen und all das! Und von da kommen sie doch, oder nicht?«
»Ich weiß es nicht.« Frankie schüttelte den Kopf. »Und sie auch nicht. Und ich lasse mich auf keine tiefschürfenden religiösen Diskussionen über das Leben nach dem Tod ein. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken.«
»Tja, solltest du aber. Immerhin sind es deine Geister.«
»Wohl kaum. Für die meisten davon ist Maisie verantwortlich.«
»Okay, aber nicht für Ernie.«
»Nein, für Ernie nicht. Und Ernie möchte ich helfen. Ich werde es zumindest versuchen.«
»Gut, denn er ist wirklich süß. Oh – kommt da gerade ein Auto?« Lilly huschte zum Fenster und sah auf die Featherbed Lane hinaus. »Ja, es ist Dexter. Cool. Viel Spaß.«
»Okay, danke. Und dir viel Spaß beim Einpacken und Wiederauspacken. Tschüss.«
Frankie schnappte sich ihre Tasche, schlüpfte in den Mantel, wickelte sich ihre Schals um den Hals und rannte die Treppe hinab, wobei sie verärgert feststellen musste, dass sie Schmetterlinge im Bauch hatte. Reiß dich zusammen, sagte sie zu sich selbst. Es ist kein Rendezvous. Du warst schon unzählige Male zuvor mit ihm allein. Es ist nichts anderes als ein Essen im Greasy Spoon – nur schicker und nicht so, äh, fettig.
Sie eilte über den Gartenweg. Es war eine furchtbar finstere Nacht, der kalte Wind schien geradewegs durch ihren Mantel zu pfeifen und schlug ihr unangenehm ins Gesicht.
»Hi.« Dexter öffnete die Beifahrertür. »Auf die Minute pünktlich. Beeindruckend.«
»Du auch.« Frankie lächelte, als der Wagen schnurrend in die kalte dunkle Nacht hinausfuhr. »Pünktlich, meine ich. Nicht beeindruckend.«
Dexter lachte.
Frankie öffnete in der Wärme des Wagens ihren Mantel und lehnte sich entspannt im Sitz zurück. Jetzt war alles in Ordnung. Keine Schmetterlinge. Keine Probleme.
»Hübsch siehst du aus.« Dexter warf ihr einen Blick zu. »Wirklich fantastisch. Und es freut mich, sagen zu können, dass ich heute Abend nichts Rosafarbenes trage.«
»Danke. Ich bin froh, dass wir ausnahmsweise mal nicht im Partnerlook gehen«, sagte Frankie mit Blick auf seine schwarze Hose und das hellblaue Hemd unter der Lederjacke. »Du siehst auch ganz schön schick aus.«
»Schick? Ich bin hinreißend«, meinte Dexter lachend. »Und, hattest du heute auch einen arbeitsreichen Tag? Ich habe nicht viel von dir gesehen.«
»Es ging wirklich hektisch zu. Und bei dir?«
»Wie verrückt. Und ich habe es genossen. Ich glaube, ich habe zu guter Letzt wohl endlich meine wahre Berufung gefunden. Ich habe jede Menge Ideen für den Frühling. Ich dachte mir, wir könnten uns vielleicht irgendwie zusammentun und für beide Geschäfte gemeinschaftlich Werbung machen – du weißt schon, Oster-Hochzeiten, Kleider und Blumen – so in der Art.«
Frankie, die sich freute, dass Dexter vorhatte, in Kingston Dapple zu bleiben, und sich dann über sich selbst ärgerte, weil sie sich darüber freute, nickte. »Klingt prima. Ja, ich sehe alle möglichen Bereiche, in denen wir uns zusammentun könnten. Und bis dahin haben wir unser anderes Problem bestimmt aus dem Weg geschafft.«
Dexter lenkte den Wagen durch die engen Straßen aus Kingston Dapple hinaus. Es waren nur wenige Autos unterwegs und keine Fußgänger. Die Nacht war viel zu kalt, als dass man sich weit von zu Hause fortwagen würde.
»Die gespenstischen Untermieter? Ja, das wollen wir hoffen. Benehmen sie sich noch halbwegs gesittet?«
Frankie lächelte in die Dunkelheit, während sie durch stürmische Böen in Richtung Bagley-cum-Russet und Fiddlesticks fuhren. »Meistens. Sie werden ab und zu sichtbar, aber bis jetzt scheint niemand von ihnen Notiz genommen zu haben. Und Cherish, die Gute, hat trotz ihrer Begegnung mit Jared überhaupt noch nichts bemerkt, sodass keine Gefahr besteht, dass sie sich Biddy oder sonst wem gegenüber verplappern könnte.«
»Es überrascht mich«, Dexter bremste an einer einsamen Straßenkreuzung, »dass Maisie sich noch nicht wieder gemeldet hat.«
»Mich auch«, gestand Frankie. »Offen gestanden mache ich mir wegen Maisie ein wenig Sorgen. Sie weiß zu viel. Ich glaube, sie wartet einfach nur ein bisschen, bevor sie an die Öffentlichkeit geht. Vielleicht sollten wir ihr noch einen Besuch abstatten und dafür sorgen, dass sie nichts ausplaudert.«
»Und was ist mit diesem Bestattungsunternehmer? Hat er noch mal bei dir nachgefragt, seit du ihm erzählt hast, dass Ernie, der ja eigentlich tot ist, es doch nicht ganz ist?«
»Ach, Slo – der Liebe. Nein, er hat sich an die Abmachung gehalten. Er hätte viel zu verlieren, äh, tja, in beruflicher Hinsicht, wenn irgendetwas davon rauskommt. Ich habe versprochen, ihm Bescheid zu sagen, wenn alles vorbei ist, und das werde ich auch.«
»Und Lilly? Hat sie es geschafft, den Mund zu halten?«
»Ihren Worten nach ja, und ich glaube ihr. Und außerdem ist sie in Gedanken viel zu sehr mit der Weihnachtsreise nach Zypern beschäftigt, die sie mit ihren alten Schulfreundinnen unternimmt, um groß an andere Dinge zu denken. Im Moment ist sie ständig mit Packen beschäftigt und der Frage, ob sie in jeder einzelnen Bar an der Promenade von Protaras einen anderen Cocktail trinken und am Ende immer noch geradeaus gehen kann.«
Dexter lachte, und sie ließen Bagley-cum-Russet hinter sich. »Klingt wie ein guter Plan. Ich könnte mir auch vorstellen, an Weihnachten irgendwohin ins Warme zu fliegen.«
»Wirklich?«
»Nee. Nicht wirklich. Nicht dieses Jahr. Eigentlich habe ich für Weihnachten schon etwas vor. Und außerdem«, er gähnte, »meinen Lebensunterhalt mit harter Arbeit zu verdienen macht mich zu einem ›Früh nieder, früh auf‹-Langweiler. Heute Morgen bin ich schon um drei Uhr aus den Federn, um zum Blumenmarkt zu fahren und eine neue Ladung Christrosen abzuholen. Die sind weggegangen wie warme Semmeln. Ich werde morgen noch mehr davon holen müssen.«
»Drei Uhr früh! Du musst ja völlig erledigt sein. Wir hätten die Verabredung auch verschieben können, wenn du zu müde bist.«
»Das Adrenalin hält mich wach, und wenn ich den Tisch heute Abend nicht genommen hätte, hätten wir bis in den Januar hinein warten müssen, und das wollte ich nicht. Sie sind Wochen im Voraus ausgebucht, nur für heute hatte jemand abgesagt. Außerdem kannst du mich ja nach Hause fahren, falls ich über meiner supergesunden und nahrhaften Suppe einschlafe, oder?«
»Diesen Wagen fahren?« Frankie schnaubte. »Das bezweifle ich. Ich habe im ganzen Leben noch nie etwas Größeres gefahren als einen Mini. Ist das ein BMW?«
»Du bist wirklich keine Autokennerin, oder?«, meinte Dexter gutmütig. »Es ist ein Mercedes.«
»Nun, was auch immer, der Wagen ist groß und schnell und furchteinflößend.«
»Er ist herrlich«, widersprach Dexter, als sie die letzten Anzeichen der Zivilisation hinter sich ließen und in die dunkle, raue, windgepeitschte Landschaft Berkshires eintauchten. »Und praktisch das Einzige, was mir von meinem früheren Leben noch geblieben ist.«
Frankie sagte nichts. Sie hätte gern mehr erfahren, aber sie wollte nicht nachfragen. Noch nicht.
»Also«, Dexter warf einen Blick auf sein Navi, »man hat mir gesagt, dass wir möglicherweise einen Peilsender bräuchten, um dieses Lokal zu finden, du kannst mich also lotsen, falls wir uns verirren. Anscheinend müssen wir von der Straße nach Fiddlesticks abbiegen, dann an der Abzweigung nach Lovers Knot vorbei und immer geradeaus weiter an allen anderen Verzweigungen. Wir müssen eine Straße namens Cattle Drovers Passage finden, und an deren Ende ist es dann.«
»Kinderspiel.« Frankie lachte leise. »Und wirklich ab vom Schuss. Wusstest du, dass es den Leuten gehört, die letztes Jahr Dewberry’s Dinners gewonnen haben?«
»Brian hat es mir heute Vormittag erzählt. Ich habe die Sendung nicht gesehen. Zu der Zeit war ich mit anderem beschäftigt, aber ich kenne sie. Ich bin beeindruckt.«
»Genauso beeindruckt wie Cherish von Brian?«
»Was? Ich meine, ich weiß, dass die beiden Freunde sind – ein seltsames Paar –, aber willst du etwa andeuten, dass es mehr ist als das?«
»Ich will überhaupt nichts andeuten – oh, war das die Abzweigung nach Lovers Knot? Sollten wir daran vorbei oder hier abbiegen?«
»Ein schöner Lotse bist du mir.« Dexter lachte. »Wir sind genau richtig. Also erzähl weiter – von Cherish und Brian.«
»Da gibt es weiter nichts zu erzählen, ehrlich. Aber Cherish blüht deutlich auf und redet wie ein Wasserfall. Außerdem bringt Brian sie mit dem Auto zur Arbeit und wieder nach Hause, obwohl es ein großer Umweg für ihn ist. Und seit Brian angefangen hat, bei dir auszuhelfen, kommt sie mir immer mit dem Kaffee zuvor.«
»Meinst du, sie steht auf Brian?« Dexter seufzte. »Ist sie deshalb zu meiner Morgenkaffee-Lieferantin geworden? Und ich war schon so verblendet anzunehmen, dass sie hoffnungslos verschossen in mich ist, während ich mich danach sehne, mit kochend heißem Kaffee aus den Händen einer attraktiven Dame in kurzem Kleid und hohen Stiefeln aufgetaut zu werden, und stattdessen immer nur die unscheinbare, muttimäßige Cherish zu sehen bekomme.«
Frankie lachte. »Jetzt komm mal wieder runter. Nicht jede Frau auf dieser Welt fliegt auf dich, weißt du?«
»Nicht?«
»Nein.«
»Zu dumm aber auch.« Dexter verlangsamte die Fahrt und spähte durch die Windschutzscheibe. »Dann muss ich an meiner Technik wohl noch arbeiten. Ich finde es schön, dass Cherish und Brian sich angefreundet haben. Zwei einsame Herzen. Und außerdem zwei wirklich nette einsame Menschen.«
»Das sind sie«, bestätigte Frankie. »Ich weiß, dass Brian große Hoffnungen in seine Romanze mit Rita gesetzt hatte und es ihn sehr verletzt hat, als es dann vorbei war. Und Cherish scheint von allen, die sie je gekannt hat, immer nur ausgenutzt worden zu sein. Aber ich glaube nicht, dass daraus die Romanze des Jahrzehnts werden wird. Du etwa?«
»Wahrscheinlich nicht. Und vielleicht würden sie das auch gar nicht wollen. Vielleicht sind sie mit Freundschaft und Kameradschaft mehr als zufrieden, das wäre nur gut für sie. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht sind sie genau richtig füreinander, vielleicht überhaupt nicht. Wer weiß? Sich in die falsche Person zu verlieben kann meiner Erfahrung nach zu teuflischen Problemen führen. Also, hast du irgendeine Ahnung, wo wir hier sind?«
Frankie, die eben gerade ein weiteres Detail aus Dexters Vergangenheit aufgeschnappt hatte, blickte suchend durch die Windschutzscheibe und schüttelte dann den Kopf. »Es ist zu finster da draußen, und ich habe keine Wegweiser oder Straßenschilder gesehen. Allerdings sind wir nirgendwo abgebogen, von daher müssten wir auf dem richtigen Weg sein. Ach schau, da drüben sind Lichter, und dort vorn fährt ein Auto. Vielleicht ist es das ja?«
So war es.
Nachdem sie die enge und gewundene Cattle Drovers Passage hinter sich gelassen hatten, fuhren sie einen gut beleuchteten Kiesweg entlang, der an einem wunderschönen alten Bauernhaus vorbeiführte und schließlich an einem weitläufigen und gut gefüllten Parkplatz endete.
»Wow.« Mit großen Augen betrachtete Frankie das Restaurant Hideaway Home. Es war eine riesige und stilecht renovierte Scheune, durch zahlreiche geschickt platzierte Lampen sanft beleuchtet. »Sieht herrlich aus.«
»Nicht wahr?« Dexter schaltete den Motor aus. »Und ich bin am Verhungern. Ich könnte ein Pferd essen.«
»Pferd«, sagte Frankie lachend und löste ihren Sicherheitsgurt, »steht hier bestimmt nicht auf der Speisekarte.«
Sie eilten durch die bitterkalte, stürmische, winterdunkle Nacht in die wunderbar goldene Wärme.
Das Innere von Hideaway Home war dezent beleuchtet, angefüllt mit Geplauder und Gelächter und köstlichen Düften. Ein hoch aufragender Weihnachtsbaum stand in einer Ecke neben dem Eingang, mit unzähligen winzigen weißen Lichtern bedeckt, und aus den Lautsprechern klangen leise Weihnachtslieder.
Frankie sah sich um, erfreut, dass man hier die große renovierte Scheune einfach für sich selbst sprechen ließ. Es gab keine vorsätzlich platzierten Pflugscharen oder Wagenräder oder anderen Bauernkitsch, um das ländliche Ambiente zu betonen. Stattdessen waren die ursprünglichen Holzwände liebevoll renoviert worden und ragten in schwindelerregende Höhe, wo alte, knorrige Balken, die das Ziegel-und-Schiefer-Dach stützten, sich unter der Decke kreuzten. Das Dekor war hell und naturbelassen, gescheuerte Holztische, gemütliche Bauernküchenstühle, auf Hochglanz poliertes Besteck und dicke, cremefarbene Kerzen.
Wunderschön.
»Guten Abend, ich bin Poll und freue mich, Sie im Hideaway Home willkommen zu heißen«, sagte lächelnd eine große Frau mit klassisch schönen Gesichtszügen, die ein langes, wallendes Kleid mit unzähligen Perlenketten trug und die Haare mit farblich passenden Bändern zurückgebunden hatte. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«
»Valentine. Ein Tisch für zwei.«
»Ah ja.« Poll warf einen Blick auf ihr Klemmbrett. »Sehr schön. Folgen Sie mir bitte.«
»Die kenne ich!«, zischte Frankie, als sie sich den Weg zwischen den zahlreichen geräumigen Tischen hindurch bahnten, und bemerkte amüsiert, dass auch hier wieder so gut wie alle Frauen im Restaurant das Essen unterbrachen, um Dexter anzustarren. »Also, ich meine, nicht wirklich, aber ich erkenne sie von der Fernsehshow. Ach, wunderbar – das ist ja, als würde man Promis treffen! Und sieh dir mal diese offene Küchenfront an – man kann ihnen tatsächlich beim Kochen zusehen –, ganz schön mutig.«
»Allerdings.« Dexter lächelte Poll an, als sie ihnen den Tisch wies und die Speisekarten reichte. »Danke schön.«
»Hier ist die Weinkarte«, erklärte Poll, »und die heutige Tageskarte. All unsere Speisen sind frisch und aus der Region. Wählen Sie in aller Ruhe aus. Hätten Sie gern ein bisschen Brot, bis Sie sich entschieden haben?«
»Ja bitte.« Frankie nickte begeistert, während sie ihre Mäntel ablegten. »Ich bin am Verhungern.«
»Gut.« Poll lachte. »Wenn Sie gehen, wird das garantiert nicht mehr so sein. Mein Mann Billy bringt Ihnen gleich eine Auswahl seiner selbst gebackenen Brötchen. Und was möchten Sie trinken?«
»Für mich bitte Weißweinschorle, weil ich noch fahren muss. Und du, Frankie?«
»Dasselbe bitte.«
»Soll ich Ihnen eine Flasche von unserem weißen Hauswein und Mineralwasser dazu bringen? Dann können Sie sich selbst nachschenken.«
»Das wäre prima, danke.«
»Sehr schön. Kommt gleich. Genießen Sie den Abend.«
»Wow«, sagte Frankie noch einmal, als Poll davonschwebte und sie sich umblickte. »Was die Leute so auf den Tellern haben, sieht alles herrlich aus und duftet unbeschreiblich gut … Ach, und schau, dort ist der junge Koch, der Lilly so gut gefallen hat – Ash heißt er, glaube ich. Im wirklichen Leben ist er ja noch schnuckeliger als im Fernsehen. Ich kann es kaum erwarten, ihr zu erzählen, dass er heute Abend tatsächlich hier kocht. Ach, und das hübsche Mädchen – wie hieß sie noch gleich … Elli? Ella? – ist auch in der Küche. Also«, sie kniff die Augen zusammen, »jetzt fehlt nur noch Polls Ehemann Billy, der das ganze Brot backt und so weiter – Ach! Da ist er ja! Kommt gerade mit einem Korb auf uns zu. Mensch – wie cool ist das denn?!«
Dexter lachte. »Wie schön, dass es dir Freude macht. Und das, obwohl wir noch gar nichts gegessen haben.«
Frankie strahlte erst Billy an und dann Poll, die Wein samt Soda und Eis für die Schorle brachte. Sie stöhnte genussvoll beim Duft des warmen Brotes mit kleinen Stückchen goldener Butter und hätte vor lauter Wonne am liebsten in die Hände geklatscht.
»Also«, murmelte Dexter mit dem Mund voll selbst gebackenem Vollkornbrot, »was essen wir denn jetzt … Nein, im Ernst, was sollen wir nehmen? Hast du die Speisekarte schon durchgesehen?«
Frankie schwelgte im köstlichen Genuss eines warmen, mit Käse überbackenen Brötchens und nickte. »Da werde ich nie zu einer Entscheidung kommen. So viele wunderbare Sachen.«
Nachdem sie schließlich ihre Vorspeisen und Hauptgerichte ausgesucht und bestellt hatten, lehnte sich Frankie im Stuhl zurück und betrachtete Dexter. Er war eine wirklich angenehme Gesellschaft und sah ausgesprochen gut aus. Sie genoss es einfach, mit ihm zusammen zu sein, und ja, okay, genoss es auch, dass andere Frauen sie anstarrten und neidisch waren. Nicht dass sie dazu irgendeinen Anlass gehabt hätten, natürlich nicht, aber das konnten sie ja schließlich nicht wissen.
Sie lächelte ihn an. »Vielen Dank für diese Einladung. Es ist der schönste Abend aller Zeiten.«
»Gern geschehen. Du hast es verdient. Seit ich dich kennengelernt habe, hast du bis zum Umfallen gearbeitet. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du noch Zeit für ein Privatleben findest.«
»Hab ich auch kaum mehr«, räumte Frankie ein. »Nun, jedenfalls nicht, seit ich Ritas Geschäft übernommen habe. Aber das ist nicht wirklich ein Problem. Auch wenn ich es Lilly gegenüber nicht gerne zugebe, bin ich für durchgefeierte Nächte und Unmengen von Cocktails in irgendwelchen Clubs allmählich einfach zu alt. Ich treffe mich abends gerne mal mit meinen Freundinnen oder lade sie zu mir ein, aber genauso gerne verbringe ich den Abend allein vor dem Fernseher oder mit einem guten Buch.«
»Aber du gehst gar nicht aus? Mit niemandem?«
»Du meinst, mit Männern? Nun, schließlich sitze ich ja jetzt hier mit dir!« Frankie zog die Nase kraus. »Hör doch auf, so zu bohren. Du hast schließlich gesagt, du wüsstest, warum ich solo bin. Nun, du hattest Recht. Einmal reingefallen – genau genommen wirklich furchtbar in den Abgrund geplumpst – und nie wieder.«
Dann kam die Vorspeise: Ziegenkäse und Zwiebelkuchen mit einem Chutney aus Kräutern und roten Zwiebeln zu einer riesigen Portion Bauernsalat nach Art des Hauses.
»Ach du liebe Güte.« Mit großen Augen betrachtete Frankie ihren übervollen Teller. »Ich habe zwar gesagt, ich sei hungrig, aber vielleicht hätte ich gleich das Hauptgericht nehmen sollen. Das kann ich doch niemals alles essen.«
»Aber natürlich kannst du«, sagte Dexter und entfaltete seine Serviette. »Und alles, was du übrig lässt, schiebst du einfach zu mir herüber. Es sieht toll aus und duftet auch so. Also, und weiter? Dieser abgrundtiefe Reinfall – wer und wann?«
Frankie seufzte beim ersten köstlichen Happen Ziegenkäse vor Wonne und schüttelte den Kopf. »Das willst du bestimmt nicht hören.«
»Will ich schon, wenn du darüber reden möchtest. Ich wüsste gerne, wie du die geworden bist, die du bist. Falls es noch immer zu schmerzlich ist, verstehe ich natürlich, wenn du es mir nicht erzählen willst, aber vielleicht hilft es ja auch.«
Frankie zuckte mit den Schultern. »Ach, ich bin darüber hinweg – über ihn, meine ich. Es ist drei Jahre her. Aber ich kann nicht vergessen, wie diese Geschichte praktisch mein Leben ruiniert hat. Ich war wirklich am Boden zerstört. Unendlich gedemütigt. Habe alles verloren. Wohnung, Job, Selbstachtung …«
»War wohl wirklich ein tiefer Abgrund.«
»Ja. Und seitdem fürchte ich mich davor, wieder jemandem Vertrauen zu schenken.«
Dexter fing über den Tisch hinweg ihren Blick auf. »Ach ja, Vertrauen – oder vielmehr Mangel an Vertrauen. Davon kann ich auch ein Lied singen.«
»Tatsächlich?«
Er nickte. »Oh ja. Aber das ist jetzt deine Therapiestunde, nicht meine.«
Frankie seufzte. Er würde ihr wohl nie von seiner Vergangenheit erzählen. Sollte sie dann wirklich alles vor ihm ausbreiten? Tja, schwere Entscheidung.
Die Vorspeisen wurden rasch weniger. Frankie fand, sie hatte noch nie so etwas Himmlisches gekostet.
Über den Tisch hinweg sah sie ihn an. »Okay, wenn du es wirklich hören willst, aber sag nicht, ich hätte dich nicht vorgewarnt – unterbrich mich einfach, wenn du vor Langeweile einschläfst.«
»Das wird mein Schnarchen schon übernehmen.«
Frankie lachte. »Schön, sitzt du bequem? Dann fang ich mal an …«
»So hat meine Oma auch immer gesagt.« Dexter lächelte sie an. »Gefällt mir. Ich finde es gemütlich. Erinnert mich an Jackanory, die Kinderserie.«
»Glaub mir«, warf Frankie rasch ein, »mit Jackanory hat diese Geschichte keinerlei Ähnlichkeit. Also, als ich mit der Schule fertig war, wollte ich in den Mode-Einzelhandel. Und so kam ich als Lehrling zu Mason’s – das ist das große Kaufhaus in Winterbrook. Es ist ein altmodisches Familienunternehmen, und sie bieten eine wirklich gute Ausbildung mit freien Tagen für die Berufsschule. Es gefiel mir gut dort. Ich war auch gut – ohne anzugeben, ich war es wirklich. Jedenfalls, nach ein paar Jahren wollte ich das, was ich bei Mason’s gelernt hatte, in anderen Geschäften umsetzen, also bin ich gegangen und umgezogen und wurde Einkäuferin in einem anderen, größeren Kaufhaus in Reading, danach Managerin einer exklusiven Designerboutique in Newbury und schließlich hörte ich vor vier Jahren, dass Mason’s eine Abteilungsleiterin für die Damenbekleidung suchte.«
»Wo du angefangen hattest?« Dexter löffelte Kräuter-Chutney auf seine Pastete. »Schön. Noch langweile ich mich nicht.«
»Ich habe mich beworben, habe die Stelle bekommen und eine Wohnung in Winterbrook gemietet. Mason’s hatte sich seit meinen Anfängen dort deutlich weiterentwickelt und enorm vergrößert und ein paar wirklich schicke Abteilungen mit Unikaten aufstrebender Designer, aber auch Konfektionsware aufgemacht, und es gefiel mir gut, für all dies verantwortlich zu sein. Dann bin ich Joseph begegnet.«
»Dem abgrundtiefen Reinfall?«
Frankie nickte.
»Soll ich ihn für dich ermorden?« Dexter spießte Salat auf die Gabel.
»Im Moment nicht, vielen Dank.« Frankie lachte. »Entschuldige, das muss für dich alles sehr weitschweifig klingen.«
»Überhaupt nicht. Aber du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht möchtest.«
»Ich habe noch nie irgendwem die ganze Geschichte erzählt. Nicht mal meinen Eltern.« Frankie schluckte den letzten Happen Zwiebelkuchen und blickte überrascht auf ihren leeren Teller. »Mensch, ich habe alles aufgegessen.«
»Das hast du«, sagte Dexter geknickt. »So ein Mist.«
Sie lachte. »Mein Hauptgericht werde ich nicht ganz aufessen, versprochen. Oh, vielen Dank«, sagte sie lächelnd zu der jungen, hübschen Kellnerin, die ihre Teller abräumte.
Die junge, hübsche Kellnerin lächelte zurück, hatte aber eindeutig nur Augen für Dexter.
»Also, dieser Joseph?«
»Traf ein, nachdem ich zwei Monate wieder bei Mason’s gearbeitet hatte. Er wurde nicht nur als Gegenpart zu meiner Stelle mit Leitung der Herrenmode-Abteilung betraut, sondern er war auch der Sohn und Erbe der Familie.«
»Aha.« Dexter nickte und schenkte Schorle nach. »Der Goldjunge der Familie, der das Gewerbe von der Pike auf erlernt?«
»Ganz genau.« Frankie seufzte. »Er war zwei Jahre älter als ich, und als ich zunächst als Lehrling dort begonnen hatte, war er auf der Universität gewesen und hatte in London gewohnt, und obwohl ich von ihm gehört hatte, waren wir uns noch nie begegnet.«
»Und es war Liebe auf den ersten Blick?«
»Mehr oder weniger. Zumindest dachte ich das.« Frankie seufzte. »Mein Gott, was war ich naiv.«
Dexter beugte sich über den Tisch. »Ich glaube, den Rest kann ich mir ausmalen. Du brauchst es mir nicht zu erzählen.«
»Ich glaube, niemand kann sich vorstellen, wie dumm ich mir vorkam«, sagte Frankie aufgebracht. »Ich hatte schon einige Freunde gehabt und geglaubt, verliebt zu sein, aber so war es noch nie gewesen. Ich war liebestrunken wie im siebten Himmel und dachte, ihm ginge es genauso. So wirkte er jedenfalls. Zumindest, wenn wir unter uns waren.«
Dexter zog eine Grimasse. »Am Arbeitsplatz aber nicht?«
Frankie schüttelte den Kopf. »Bei Mason’s arbeiteten Joseph und ich als gleichberechtigte Partner und gingen gemeinsam zu Modeschauen oder Konferenzen mit Designern. Nach außen hin nur als Kollegen. Mehr nicht. Nur wir beide wussten es. Mein Leben und sein Leben waren untrennbar miteinander verknüpft, und ich glaubte wirklich, er hätte dieselben Gefühle wie ich. Als er dann vorschlug, seine Wohnung in London aufzugeben und bei mir mit einzuziehen, um sich das Pendeln zu sparen, war ich der glücklichste Mensch der Welt.«
Die hübsche junge Kellnerin kam wieder und servierte fachmännisch mehrere Teller.
»Ofen-Ravioli mit Pilzen und Spinat?« Verführerisch sah sie Dexter an.
»Für die Dame.«
»Sehr wohl.« Sie stellte die große Schüssel vor Frankie ab, den Blick noch immer auf Dexter gerichtet. »Sie sind dann also die Polenta mit Blaukäse und roter Zwiebelpastete?«
»Bin ich.« Er lächelte ihr zu.
Liebevoll stellte sie die zweite große Schüssel vor ihm ab. »Und hier haben wir noch junges Bauerngemüse in Sahnesoße, eine Portion gedämpfte Kartoffeln mit Gartenkräutern sowie Billys berühmte Ballater Scones. Lassen Sie es sich schmecken.«
»Das werden wir – vielen Dank«, sagte Dexter mit weicher Stimme, und die Kellnerin tänzelte davon.
»Hör auf damit.« Frankie lachte. »Sie ist ja schon rot geworden.«
»Sie war süß – und nie im Leben werden wir das alles essen. Und falls doch, werden wir uns nie wieder von der Stelle rühren.«
Frankie atmete die von den Schüsseln mit herrlichem Essen aufsteigenden köstlichen Düfte ein. »Hmm – das ist ja alles ganz wunderbar. Aber du hast Recht – wir hätten eine Portion bestellen und sie uns teilen sollen. Okay, sehen wir mal, wie weit wir kommen.«
»Und währenddessen erzählst du mir weiter von Joseph, dem Mistkerl.«
»Schon richtig – es ist wie eine Therapiestunde. Willst du wirklich die ganze traurige Geschichte hören? Oh, wow, das ist ja unglaublich.«
»Meines auch«, bestätigte Dexter. »Und ja, ich möchte hören, wie es weiterging. Also, er ist in deine Wohnung mit eingezogen, und dann …«
»Wir haben ›Trautes Heim, Glück zu zweien‹ gespielt«, murmelte Frankie zwischen ihren Ravioli. »Ich war überglücklich. Ich fand es herrlich, mein ganzes Leben mit ihm zu teilen. Und weil bei Mason’s zum Thema Beziehungen unter Kollegen ziemlich altmodische Ansichten herrschten, haben wir uns am Arbeitsplatz weiterhin nichts anmerken lassen, sodass kein Mensch von uns wusste oder etwas ahnte, was der ganzen Affäre natürlich einen gewissen zusätzlichen Reiz verlieh. Fast ein Jahr lang waren wir sehr glücklich miteinander.«
Dexter gab noch mehr junges Sahnegemüse auf beide Teller.
Frankie schüttelte den Kopf. »Ich platze, wenn ich das alles esse.«
»Nein, wirst du nicht. Und es wäre ein Jammer, etwas übrig zu lassen. Also, sprich weiter.«
Frankie schluckte. Bis hierhin war es leicht gewesen. Jetzt allerdings nicht mehr. »An diesem besonderen Tag kam die Unternehmensführung von Mason’s zu Besuch. Joe Mason senior, Josephs Vater, war der Geschäftsführer und hatte ein Büro im Haus, seine zwei Brüder jedoch, Josephs Onkel, hielten die Mehrheit der Anteile und hatten die finanzielle Kontrolle, kamen aber nicht oft nach Winterbrook. Dass die beiden im Haus waren, war also eine wirklich große Sache. Sämtliche Mitarbeiter hatten dafür zu sorgen, dass alles perfekt war. Joseph und ich hatten unsere Abteilungen aufgestockt, dafür gesorgt, dass alles vorbildlich aussah, und waren im Keller gewesen, um einige Promotion-Artikel für unsere neuen Kollektionen zu holen …«
Frankie brach ab und nahm einen Schluck von ihrer Weinschorle.
Dexter tat sich noch mehr Kartoffeln auf und sah sie über den Tisch hinweg an. »Okay, erzähl weiter. Reg dich bitte nicht auf.«
»Tu ich nicht. Ehrlich. Also, wir haben all diese Plakate und Poster usw. in den Lastenaufzug gestapelt und wussten, dass uns nur noch etwa eine Stunde blieb, um alles für den Besuch der Onkel vorzubereiten. Und wir haben gelacht und herumgealbert, wie man das eben so macht. Und ich …« Frankie stockte und lachte. »Und ich hab ihn einfach gepackt und geküsst.«
Dexter hörte auf zu essen, seine Gabel schwebte in der Luft. »Und? War Küssen bei Mason’s denn etwa verboten?«
»Nein, aber wie ich schon sagte, ich hatte bei der Arbeit nie auch nur ansatzweise durchblicken lassen, dass Joseph und ich ein Paar waren, von daher kam es mir schon außerordentlich gewagt vor.«
»Ja gut, aber ihr wart doch im Aufzug. Allein im Aufzug. Na und?«
»Unsere Abteilungen waren im zweiten Stock, aber der Aufzug hielt plötzlich im Erdgeschoss. Die Türen gingen auf, und da stand Mr Mason senior mit den beiden Onkeln, die vorzeitig eingetroffen waren.«
Dexter gluckste. »Und hatten eine nicht jugendfreie Darbietung in Großaufnahme vor Augen?«
»Und hatten in Großaufnahme vor Augen, wie Joseph und ich uns küssten, ja.«
»Und da bekamen sie allesamt einen kollektiven Herzinfarkt oder Asthmaanfall? Wie zimperliche alte Jungfern?«
»Sie haben allesamt gelacht.« Frankie schluckte. »Gelacht. Und reichlich eigenartige Bemerkungen gemacht von wegen die Familientradition aufrechterhalten und so.«
»Okay«, sagte Dexter langsam. »Und …?«
»Ach, ja gut, um den Rest gnädig abzukürzen, Joseph hat auch gelacht und mich weggeschoben und etwas wirklich Seltsames gesagt, von wegen, so sei er nun mal erzogen worden. Und er führe eine Strichliste über all seine Eroberungen bei den Verkäuferinnen. Und dass er nicht einmal meinen Namen wüsste.«
»Was?« Dexter runzelte die Stirn. »Hatte der den Verstand verloren?«
»Nein, er war einfach nur ein mieser Feigling. Er behauptete, mich nicht zu kennen. Er sprach von mir als der Abteilungsleiterin für Damenmoden und nicht anders. Wir haben zusammen gelebt, er war am Morgen dieses Tages aus meinem Bett gekrabbelt, und trotz alledem hat er mich als einfältiges, billiges Flittchen hingestellt.« Frankie blickte zur anderen Seite des Restaurants und sah Ash und Ella, sichtlich bis über beide Ohren verliebt, in der Küche beim Kochen miteinander lachen. »Mir war, als hätte er mir in aller Öffentlichkeit ins Gesicht geschlagen. Ich konnte es nicht fassen. Die Masons quetschten sich alle in den Aufzug und fingen an, übers Geschäft zu reden, als wäre ich gar nicht anwesend. Und von da an hat Joseph mich ignoriert. Als wir in unserem Stockwerk ankamen, hat er weiter mit den anderen Masons übers Geschäft gesprochen und ist mit ihnen weggegangen und hat mich und die Promotion-Artikel einfach, tja, stehen gelassen, wo wir waren.«
»Wow.« Dexter stieß die Luft aus. »Und du meintest, ich wäre schlimm.«
»Oh, du hast sicher auch so einiges auf dem Kerbholz.« Frankie lächelte traurig. »Aber vermutlich könntest nicht einmal du dich so benehmen. Jedenfalls, das war’s dann. Ich lief herum wie betäubt. Als die Onkel ihre Besichtigungsrunde machten, war Joseph dabei, und als sie mich sahen, haben alle verhalten gekichert. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was los war. Ich meine, ich wusste zwar, dass unsere Beziehung geheim war. Mir war nur nicht klar gewesen, wie geheim.«
»Und nachdem die Onkel wieder weg waren?«
»Joseph hat nur erklärt, dass er aus der Wohnung auszieht und ich nie irgendwem erzählen dürfe, dass er dort gewohnt hätte oder dass wir je ein Liebespaar gewesen wären. Falls ich das täte, würde er es abstreiten. Er war regelrecht in Panik und redete, als lebten wir in den Dreißigerjahren … Er sagte, als Erbe des Mason-Vermögens wäre es für ihn vollkommen undenkbar, sich an eine Frau aus der Arbeiterklasse zu binden. Tatsächlich hat er gesagt, sein Vater würde ihm nicht erlauben, jemanden ›vom Verkauf‹ zu heiraten.«
»Lieber Himmel! Man hat ihm wohl zugesetzt? Die ganze Familie?«
»Und zwar heftig. Anscheinend war er schon lange dazu bestimmt, eine andere zu heiraten. Die Tochter irgendeines Kaufhauskönigs. Er sagte auch, sein Vater habe vorgeschlagen, mir eine Abfindung zu zahlen, um Komplikationen zu vermeiden.«
»Heilige Hölle. Das klingt ja wie eine Geschichte aus viktorianischen Zeiten. Aber das konnten sie doch sicher nicht machen?«
»Oh, sie konnten sehr wohl, und sie haben es auch getan. Sie haben alle möglichen Vorwände erfunden, sinkende Verkaufszahlen in meinen Abteilungen, dieses und jenes Fehlverhalten und lauter solchen Unfug. Mir war es egal. Für mich zählte nur, dass Joseph, den ich aus tiefstem Herzen liebte, mich die ganze Zeit über belogen hatte. Natürlich hatten wir eine Aussprache. Privat. Später. Da hat er mir tatsächlich ins Gesicht gesagt, ich hätte ihm nie etwas bedeutet. Meine Wohnung sei bloß ein praktischer Unterschlupf gewesen, der es ihm erspart hätte, jeden Tag von London hin und zurück zu pendeln, und ich sei, nun ja, nur ein Zeitvertreib gewesen. Eine Tändelei hat er es wohl genannt. Und ich müsse verrückt sein, wenn ich glaubte, er dächte auch nur im Traum daran, eine Verkäuferin zu heiraten.«
»Wer zum Teufel hat denn dieses Drehbuch geschrieben? Noel Coward?« Dexter griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. »Und du hast nicht um ihn gekämpft?«
Frankie schüttelte ihren Kopf. »Ich war so fassungslos, so verletzt, er hat mir so sehr das Herz gebrochen, dass ich nur noch möglichst weit weg wollte. Ich wollte Joseph und Mason’s nie wiedersehen. Also habe ich die Abfindung genommen und bin gegangen. Joseph hat unverzüglich jemand geschickt, um seine Sachen aus meiner Wohnung zu holen – vermutlich einen Freund, dem er vertraute. Und ich habe mich für die schlimmsten Wochen meines Lebens in meiner Wohnung verschanzt, und dann, als mein Geld alle war und ich wusste, dass ich aufhören musste zu weinen und anfangen zu essen und der Wirklichkeit ins Gesicht sehen und mir einen neuen Job suchen, tja, da habe ich im Winterbrook Advertiser Ritas Inserat gesehen, in dem sie eine Mitarbeiterin suchte. Und Rita wiederum wusste, dass Lilly eine Mitbewohnerin für ihr Haus suchte.« Frankie sah auf ihre auf dem Tisch ineinander verschlungenen Hände und lächelte. »Und hier bin ich. Verwundet, aber ungebeugt, wie man so sagt.«
Dexter schwieg einen Augenblick. Dann seufzte er. »Alles klar, ich werde ihn wirklich ermorden.«
»Da hättest du aber einen weiten Weg«, meinte Frankie lachend. »Die andere Kaufhauserbin war nämlich aus Sydney. Anscheinend leben die beiden in glücklicher transkontinentaler Unternehmensfusion in Australien.«
»Die Welt ist ein Dorf.« Dexter zog die Nase hoch. »Australien ist nur vierundzwanzig Stunden entfernt. Ich könnte ihn trotzdem kriegen.«
»Lass ihn, Dexter – er ist es nicht wert.« Frankie kicherte.
Er schüttelte den Kopf. »Okay, jetzt verstehe ich schon manches besser, und ich kann es dir nicht verdenken, dass du keinem vertraust. Aber mal ehrlich, Männer wie dieser Schleimscheißer Joseph sind die Ausnahme. Natürlich war es scheußlich für dich, dass er offenbar einer von der schlimmsten Sorte war, aber es gibt auch anständige Männer. Jede Menge. Hattest du seitdem denn überhaupt keine Verabredungen?«
»Ach ja, ein paar schon. Aber nur ganz zwanglos und unverbindlich. Männer, von denen ich wusste, dass sie ungefährlich waren und mich nicht verletzen würden – ganz bestimmt nichts Ernsthaftes, und es war auch keiner dabei, der mir wirklich am Herzen lag. Das ist die einzige Art von Beziehung, mit der ich umgehen kann, verstehst du?«
»Ja, aber du solltest …«
Die Kellnerin kam, um das Geschirr des Hauptgerichts abzuräumen. Als sie ihnen die Dessertkarten überreichte, flirteten Dexter und sie wieder miteinander, bis sie davontänzelte.
»Ich bekomme keinen Bissen mehr herunter, wirklich schade.«
Frankie blickte auf die Liste köstlicher und ausgefallener Nachspeisen hinab. »Ach sieh mal, hier steht, alle Desserts werden von Ella zubereitet – jetzt erinnere ich mich, sie war bei Dewberry’s Dinners die Nachtischspezialistin. Oh, Haselnussbaisers mit Irish Cream klingt unglaublich lecker, findest du nicht? Eigentlich glaube ich, das könnte ich gerade noch schaffen.«
»Hauptsache, du übergibst dich nicht in meinem Mercedes.«
»Wie wäre es, wenn wir uns eine Nachspeise teilen?«
»Okay.«
»Du bist ja leicht rumzukriegen.« Frankie lachte. »Wie auch immer, nun habe ich dir mein Herz ausgeschüttet, jetzt bist du an der Reihe.«
Dexter schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Nicht heute Abend. Und ich hoffe, du quälst dich nicht mehr damit. Du konntest ja überhaupt nichts dafür …« Er brach ab und bestellte bei der hübschen Kellnerin mit unveränderter Charmeoffensive das gewünschte Dessert.
Als sie gegangen war, sah er Frankie wieder an und griff nach ihrer Hand. »Und überhaupt, in wen man sich verliebt, kann man sich ja schließlich nicht aussuchen, wie ich leider nur allzu gut weiß.«