19. Kapitel
Die gespenstische Frauenschar war verschwunden. Tja, größtenteils, aber nicht ganz.
Bev und Jared standen noch immer mitten im Laden und starrten einander an. Auch zwei ältere Frauen, die sich zuvor um ein trägerloses rosa Abendkleid im Empirestil gestritten hatten, schlichen bedrückt zwischen den Kleiderstangen umher.
Ernie stand neben Frankie und machte ein niedergeschlagenes Gesicht.
»Mist.« Dexter schüttelte den Kopf. »Was ist da schiefgegangen?«
»Sieht aus, als hätten wir den Bus ins Jenseits verpasst, mein Hübscher«, flötete Jared mit kokett gespitzten Lippen.
»Nein!«, schrie Bev. »Nein! Bin ich immer noch hier? Ich will heim!«
»Ich auch.« Ernie seufzte. »Und jetzt habe ich keine Chance mehr.«
»Und was ist mit denen?« Frankie sah zu den Frauen hin, die noch immer bedrückt bei den Siebzigerjahre-Kleidern umherwanderten. »Wer zum Teufel sind die? Wieso sind die noch hier?«
»Frag mich nicht.« Mit unbeirrt selbstgefälligem Blick setzte Maisie sich auf. »Ich habe mein Bestes gegeben. Und die meisten bin ich ja auch losgeworden, nicht wahr? Könnte mir bitte mal jemand einen Schluck Wasser holen?«
»Hol ihn dir doch selbst«, erwiderte Frankie erschöpft. »Ein schöner Schlamassel ist das jetzt. Zuerst hatte ich einen Geist, und jetzt habe ich fünf. Du musst es noch mal versuchen, Maisie. Du hast es einmal geschafft. Du kannst es wieder tun.«
»Und du, Süße, machst wohl Scherze. Ich fühl mich wie ein ausgewrungener Putzlappen. Total erledigt. Ich habe kaum noch Energie zum Atmen, geschweige denn um meine Kräfte einzusetzen.«
»Kräfte!«, schnaubte Ernie. »Kräfte nennt sie das. Pah!«
»Du verlässt dieses Geschäft nicht, bis du nicht alle vertrieben hast!« Frankie merkte, wie sie die Beherrschung verlor. »Fünf beschissene Geister sind einfach zu viel für mich!«
»Nicht solche Ausdrücke, bitte!«, sagte Bev streng. »Geister sind wir ja, aber beschissen sind wir nicht. Auch wenn manche da oben ziemlich unappetitlich aussehen, das kann ich dir flüstern. Vor allem die, die in alten Zeiten hingerichtet wurden.«
»Sag doch so was nicht!« Lilly schluckte. »Ich hab den Film Nacht der lebenden Toten gesehen.«
»Klingt ja wirklich passend.« Dexter seufzte.
Maisie rappelte sich unsicher auf die designerbeschuhten Füße und taumelte auf den hohen Absätzen in Richtung Küche. »Da ihr offenbar nicht vorhabt, mir zu helfen, hole ich mir selbst ein Glas Wasser. Und wenn ich einen Schluck getrunken habe, wünsche ich, nach Hause gebracht zu werden.«
»Es interessiert mich nicht, was du wünschst, verdammt noch mal!« Mit loderndem Blick sah Frankie dem sich entfernenden, wallenden Kaftan hinterher. »Du kannst nicht nach Hause gehen und diese, tja, äh, die da hierlassen.«
»Ich bin einverstanden, ihr Lieben«, kiekste Jared, streichelte sein lila Ensemble und sah sich begeistert im Geschäft um. »Nur zu gerne bleibe ich hier. So viele Kleider und so viel Zeit!«
Die beiden Frauen bei den Kleiderstangen starrten erst ihn und dann einander entgeistert an.
Jared winkte ihnen zu. »Wie es aussieht, sitzen wir alle hübsch in der Patsche, was, Mädels? Ich bin Jared.«
»Ruby«, sagte die eine im schlabberigen grauen Nachthemd. »Nett, dich kennenzulernen.«
»Gertie«, sagte die Ältere der beiden, die von sehr blassgrauer Hautfarbe war und aussah, als liefe sie in ein Leintuch gewickelt herum. »Reizendes kleines Geschäft, nicht wahr? Hübsche Kleider. Ich mag hübsche Kleider.«
»Aargh!«, schrie Frankie. »Genug!«
Alle Blicke richteten sich auf sie.
»Tut mir leid, aber das ist zu viel für mich. Das ist ja der totale Irrsinn!«
»Ist es nicht, Frankie. Reg dich ab. War viel spannender als ein Samstagabend in der Disco«, meinte Lilly und gähnte dann. »Aber jetzt bin ich todmüde. Das ist das Dumme bei Champagner, nicht wahr? Man erlebt ein prickelndes Hochgefühl, und – wusch! – schon ist es wieder vorbei.«
»Das werde ich jetzt ja wohl nicht mehr genießen können!« Frankie funkelte sie zornig an. »Nachdem du alles ausgetrunken hast.«
Lilly kicherte. »Sorry. Ich kauf dir zu Weihnachten eine neue Flasche. Jedenfalls, da du nun nur noch wenige Geister übrig hast und die ganz zufrieden aussehen, können wir jetzt vielleicht nach Hause gehen?«
»Nein!« Frankie starrte sie ungläubig an. »Ich kann nicht nach Hause gehen und sie einfach hierlassen. Ich brauche den Laden geisterfrei, bevor ich Montagmorgen wieder aufmache.«
»Auf Maisie kannst du da aber lange warten«, meinte Dexter bedauernd. »Ich habe gerade nach ihr geschaut, sie hat sich in der Küche auf die Mäntel gelegt, ist eingeschlafen und nicht mehr ansprechbar.«
Bev seufzte. »So wie’s aussieht, wirst du uns wohl so schnell nicht los – genauso wie wir vorerst nicht wegkönnen. Wirklich verdammt ärgerlich. Du willst uns hier nicht haben, und wir wollen garantiert nicht hier sein.«
»Ich schon, meine Lieben«, flötete Jared.
»Sei still!«, riefen alle im Chor.
Jared stolzierte in eine Ecke davon und begann, sich mit Ernie zu unterhalten.
Bev zuckte die Achseln. »Wie ich schon sagte, es sieht aus, als müssten wir alle das Beste daraus machen, bis du ein richtiges Medium findest, das uns ins Jenseits zurückbringen kann. Du scheinst ein nettes Mädchen mit guten Absichten zu sein. Immerhin ist dieser Schlamassel nur deshalb entstanden, weil du geglaubt hast, du könntest Ernie aus seiner Notlage helfen. Hör zu, wir werden versuchen, uns im Hintergrund zu halten, wenn dein Geschäft geöffnet ist. Wir sind so diskret wie möglich. Du wirst gar nicht merken, dass wir hier sind, und deine Kunden hoffentlich auch nicht. Außerdem muss es da draußen doch jede Menge Leute geben, die richtig Kontakt mit dem Totenreich aufnehmen können, anders als dieser nutzlose Wackelpudding, der sich da drüben um den Verstand schnarcht.«
»Oh ja!« Lilly wirkte gleich ein wenig wacher. »Die gibt es! Sieht man ständig im Fernsehen! Jede Menge. Wirklich berühmte Spiritualisten und Medien, und es gibt alle möglichen Sendungen über Spukhäuser. Wir können zu so jemand Kontakt aufnehmen und ihn beauftragen, eine richtige Sitzung durchzuführen, nicht wahr?«
»Nein.« Frankie schüttelte heftig den Kopf. »Wir erzählen niemandem hiervon. Keiner Menschenseele. Ich habe nur noch zwei Verkaufswochen bis Weihnachten. Ich kann es garantiert nicht brauchen, in der besten Saison des Jahres die Kunden zu vergraulen. Ich werde bis zum neuen Jahr irgendwie damit klarkommen müssen. Dann denke ich darüber nach, was zu tun ist.«
»Du könntest eine Verkaufsstrategie daraus machen«, meinte Lilly und gähnte wieder. »Jennifer Blessing sagt immer, dass man aus jeder Katastrophe eine Verkaufsstrategie machen kann. So wie damals, als …«
»Sei still!«, fauchte Frankie. »Ich mache keine Verkaufsstrategie daraus, dass es in meiner Boutique spukt. Und bitte, bitte versprich mir, dass du das niemandem gegenüber erwähnst.«
»Ich habe es bereits versprochen.« Lilly schmollte. »Ich bin gut darin, Versprechen zu halten. Versprochen. Oh, und jetzt muss ich aufs Klo.«
»Zu viel Champagner«, bemerkte Frankie verärgert. »Und wenn du fertig bist, mach dich mal nützlich und sieh zu, ob du Maisie wachkriegst, damit wir alle nach Hause können.«
»Sprich nicht vom Nachhausegehen, bitte«, Bev stopfte sich weitere blonde Strähnen unter ihr Haarnetz, »das ist zu schmerzlich. Aber bevor du gehst, könntest du mir vielleicht einen anderen Gefallen tun.«
»Ach ja?« Frankie sah sie an. »Nur zu, worum geht es denn?«
»Gib uns etwas zum Anziehen.« Bev deutete auf die Kleiderständer. »Jared wird wahrscheinlich seine ganze Zeit hier damit verbringen, alles anzuprobieren, aber Ruby und Gertie könnten offenbar dringend etwas Anständiges gebrauchen. Nur für den Fall.«
»Für welchen Fall?«
»Für den Fall, dass wir in einem ungeeigneten Moment erscheinen. Wie ich schon sagte, war ich noch nie zuvor erdgebunden, von daher weiß ich nicht, wann wir unsichtbar sind und wann nicht. Ich werde darauf achten, dass wir möglichst nicht gesehen werden, aber ich bin mir nicht sicher, wie gut es klappt. Und ich nehme mal an, du möchtest nicht, dass sich zwischen deinen Weihnachtskundinnen plötzlich drei Damen in unterschiedlich entkleidetem Zustand tummeln.«
»Sie hat schon Recht.« Dexter nickte. »Ernie ist in Ordnung, er ist mit seinem Anzug gut gekleidet, er hat sogar Hemd und Krawatte und schön polierte Schuhe an, sodass ihn jeder, der ihn sieht, für einen Kunden halten würde. Aber die da drüben in dem Bettlaken«, er zog eine Grimasse in Gerties Richtung, »würde jedem einen tödlichen Schrecken einjagen.«
Frankie seufzte, dann lächelte sie Bev zu. »Ich fürchte, die Kleider, die ich habe, gehen momentan nur bis in die Fünfzigerjahre zurück. Wir haben keine wirklich antiken Sachen. Das Angebot könnte ein bisschen zu, öhm, modern für dich sein.«
»Schon möglich«, stimmte Bev ihr zu. »Noch mehr aber für diese beiden.«
Ruby und Gertie machten betrübte Gesichter.
»Okay.« Frankie versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas derart Verrücktes getan hatte, und holte tief Luft. »Dann tun wir mal so, als wärt ihr alle normale Kundinnen – also, seht euch doch bitte um, was euch passen könnte.«
Gertie und Ruby stürzten sich augenblicklich wieder auf das trägerlose rosa Abendkleid.
»Das nicht.« Frankie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Es muss normale Alltagskleidung sein. Denn sonst fallt ihr auf wie bunte Hunde.«
»Und du glaubst nicht, dass sie das sowieso tun?«, fragte Dexter vorsichtig. »Wo sie doch tot sind?«
»Bev sieht nicht tot aus. Und Ruby bei guter Beleuchtung auch nicht. Was Gertie betrifft, bin ich mir da allerdings nicht so sicher.«
»Ich war immer schon blass«, meinte Gertie und grinste sie reichlich gruselig an. »Auch als ich noch lebte. Weiß wie die Wand. Käsiges kleines Bleichgesicht hat mein Dad immer zu mir gesagt. Eigentlich sehe ich jetzt nicht sehr viel anders aus.«
»Lieber Himmel!«, murmelte Dexter.
Frankie hätte plötzlich am liebsten laut gelacht, war aber überzeugt davon, dass es, wenn sie einmal damit anfinge, in einen hysterischen Anfall ausarten würde und sie nie wieder aufhören könnte. Also eilte sie zu den Kleiderstangen hinüber und beachtete ihn nicht weiter.
»Blau würde dir gut stehen«, sagte sie zu Bev. »Wie wäre es hiermit?«
Bev begutachtete das blaue Fünfzigerjahre-Kleid mit weißem Kragen, weißen Manschetten und schmaler Taille. »Hm, das gefällt mir recht gut. Kann ich es anprobieren?«
»Gerne doch«, murmelte Frankie und sah die Kleider durch, um etwas zu finden – egal was –, das geeignet wäre, um Rubys und Gerties offensichtliches, äh, Totsein zu vertuschen.
»Das hier wäre hübsch für dich.« Sie zog ein dunkelrotes Wollkleid in einer recht kleinen Größe heraus und zeigte es Ruby. »Du bist sehr zierlich.«
»Ich war früher ein ausgesprochen kräftiges Mädchen«, sagte Ruby im Plauderton und strich liebevoll über das rote Kleid. »Bis zu meiner tödlichen Krankheit.«
Frankie zuckte zusammen. Zu wissen, dass sie tot waren, war eine Sache, sich damit auseinanderzusetzen, warum, etwas völlig anderes. »Tut mir wirklich leid. Ich wollte dich nicht kränken.«
»Oh, das hast du nicht«, sagte Ruby vergnügt. »Ich fand es toll, dünn zu sein, zumindest eine Zeit lang. Und jetzt bin ich immer dünn, und es gefällt mir gut.«
Begeistert schlüpfte sie aus dem angegrauten Nachthemd und stand splitternackt im Ladenraum.
Dexter, Ernie und Jared wandten rasch die Blicke ab.
»Um Gottes willen, du hast ja gar keine Unterwäsche an«, keuchte Frankie. »Wäsche führe ich leider nicht.«
»Für Geister ist das kein Problem«, versicherte ihr Ruby, schlüpfte in das rote Kleid, das ihr perfekt passte, und drehte sich im Kreis. »So, bitte! Wie sieht es aus?«
»Wirklich hübsch.« Frankie nickte. »Wie für dich gemacht. Schade, dass keine von euch Schuhe anhat. Schuhe würden die Kleider noch besser zur Geltung bringen.«
»Das ist hier doch keine verdammte Modenschau«, sagte Dexter gereizt. »Sie sind tot, Frankie, nicht auf dem Sprung zu einer großen Veranstaltung mit rotem Teppich. Sie brauchen keine passenden Accessoires. Sorg einfach dafür, dass sie irgendwas anhaben, und dann nichts wie raus hier.«
»Ja, aber«, zischte Frankie, »wenn man sieht, wie sie mitten im Winter barfuß im Laden herumlaufen, wird es den Leuten auffallen, nicht wahr?«
»Hmm, schätze schon.«
»Ach, jetzt wünschte ich, Rita hätte nicht Maisie all ihre Schuhe vermacht.«
»Dann wird Maisie eben ein paar davon wieder rausrücken müssen«, sagte Dexter. »Ich nehme welche mit, wenn ich sie nach Hause bringe. Auch wenn sie vielleicht nicht ganz genau passen. Was hatte Rita denn für eine Schuhgröße?«
»Neununddreißig«, sagte Frankie. »Meine Damen? Wären Schuhe in Größe neununddreißig für Sie in Ordnung? Ich kann nicht garantieren, dass Sie zu Ihren Kleidern passen, aber …«
»Schuhe, egal welcher Art, wären sehr willkommen«, sagte Bev. »Ich habe ohnehin neununddreißig. Aber die Größe dieser beiden weiß ich natürlich nicht.«
»Ich glaube, ich hatte achtunddreißig«, sagte Ruby, »aber ich hatte immer nur Schuhe aus zweiter Hand und kann ruhig die Spitze mit Zeitungspapier ausstopfen.«
»Ich habe Größe vierzig«, ergänzte Gertie. »Aber ich kann die Hacken runtertreten. So musste ich es immer machen, wenn ich mir Schuhe von meiner Schwester geborgt habe. Die hatte auch Größe neununddreißig, das geht also gut. Ich bin auch nicht wählerisch, was Form oder Farbe betrifft.«
Frankie tat einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Schuhe, so schien es, waren im Jenseits wohl eher nebensächlich. Das sollte man Lilly gegenüber lieber nicht erwähnen.
»Wir werden schon zurechtkommen mit dem, was du auftreiben kannst, vielen Dank. Und dieses Kleid gefällt mir gut.« Bev drehte in ihrem blauen Kleid eine Pirouette. »Ich hatte ein ganz ähnliches, bevor wir ausgebombt wurden. Versetzt mich direkt in alte Zeiten zurück.«
»Es steht dir wirklich gut«, sagte Frankie. »Ähm, war es der Bombenangriff, durch den du, öhm, dahingegangen bist?«
»Gestorben«, sagte Bev, die sich im Standspiegel bewunderte. »Ja. Wir verwenden keine Euphemismen. Wir sprechen nicht von dahingehen, verscheiden, hinüber sein, das Zeitliche segnen oder solchem Unfug. Wir sind gestorben, und wir sind tot. So ist es nun mal.«
»Äh, richtig.«
»Kannst du jetzt mir ein Kleid suchen?«, fragte Gertie quengelig, die ihr Laken hinter sich herzog. »Vergiss mich nicht.«
»Als ob das möglich wäre«, sagte Dexter.
Frankie warf ihm einen strengen Blick zu.
»Wie wäre es mit einem hübschen kräftigen Gelb? Etwas Heiteres vielleicht.« Frankie schob die Kleiderbügel hin und her. »Ich finde, Gelb bringt in den trübsten Tag ein bisschen Sonnenschein, meinst du nicht?« Lieber Himmel, sie klang ja schon fast wie Cherish. »Ach, das hier ist hübsch und sieht aus, als ob es dir passen könnte.«
Sie hielt ein zitronengelbes Baumwollkleid hoch, dessen ausgestellter Rock mit dottergelben Sonnenblumen gesprenkelt war.
»Oh ja!« Gertie klatschte in die grauen Hände. »Entzückend! So etwas Hübsches! Ich hatte schon immer eine Schwäche für hübsche Kleider!« Sie warf Dexter ein kokettes Lächeln zu. »Die Jungs waren stets alle sehr angetan von meinen hübschen Kleidern.«
Dexter, bemerkte Frankie, sah aus, als würde ihm leicht übel. Ernie und Jared hatten noch immer die Augen geschlossen.
Gertie streifte das löchrige Laken ab, sodass ihr ganz und gar grauer Leib vollständig sichtbar wurde, und zog das leuchtend gelbe Kleid über den Kopf.
»Machst du mir den Reißverschluss zu, Liebes?« Sie grinste Frankie an. »Ich kann es kaum erwarten, mich nach über achtzig Jahren wieder in einem Kleid zu sehen.«
Frankie zog am Reißverschluss und vermied es, die welke graue Haut anzuschauen.
»Oh! Ich liebe es!« Gertie drängte Bev und Ruby mit den Ellbogen vom Spiegel weg. Besorgt sah sie Frankie an. »Vielen, vielen Dank – aber wenn wir zurückgehen, können wir die Kleider dann anbehalten? Wir müssen dann doch hoffentlich nicht wieder die anderen Sachen anziehen, oder?«
»Ich denke nicht«, sagte Frankie, die keine Ahnung hatte. »Ich bin sicher, wenn ihr diese Kleider anhabt, nun ja, wann immer wer auch immer euch wieder ins, äh, Jenseits schicken kann, dann geht ihr, äh, in den Sachen zurück, die ihr zu diesem Zeitpunkt gerade tragt. Ihr könnt sie gerne behalten.«
»Wunderbar.« Gertie war hocherfreut. »Danke. Ich kann es kaum erwarten, mich meinem Alten darin zu zeigen, wenn ich zurückkomme. Das gibt noch mal neue Flitterwochen.«
Dexter gluckste.
Frankie wand sich.
»Gut.« Dexter fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es fiel wunderschön und seidig wieder zurück. »Ich bin völlig erledigt. Wir einigen uns nun also darauf, dass Bev und Ernie und Co. so diskret wie möglich hierbleiben, bis wir ein echtes Medium finden können, das sie erlöst, ist das für dich so in Ordnung?«
Frankie hatte die Bewegung seiner durchs Haar fahrenden Finger mit einem Verlangen beobachtet, das sie längst für erloschen gehalten hatte, und rieb sich die Augen. Ach herrje … schwerer Fehler. Wie ein Panda auszusehen wirkte nie besonders vorteilhaft.
»Ähm, in der Tat bleibt mir wohl gar nichts anderes übrig, also ja.«
»Prima. Dann gehe ich jetzt und lade Maisie in den Wagen, bringe sie nach Hause und hole drei Paar Schuhe für die, äh, Damen, okay?«
Frankie nickte müde. »Und ich hole Lilly – weiß der Himmel, wo sie geblieben ist – und zerbreche mir morgen früh über all das hier wieder den Kopf.«
»Sieh es mal positiv«, sagte Dexter, als sie in Richtung Küche gingen, »immerhin ist morgen Sonntag. Wir können alle ausschlafen, und du musst nicht herkommen, um sie zu füttern oder frische Streu ins Kistchen zu füllen oder sonst etwas. Wenn es junge Kätzchen wären, wäre das Ganze sehr viel aufwendiger, oder?«
Frankie lachte. »Ja, schätze schon. Obwohl ich mir Sorgen mache wegen Ernie. Er ist so schrecklich enttäuscht.«
»Ja, armer Kerl, er ist ganz schön deprimiert wegen alldem – oh Gott, Frankie, wenn man uns reden hört. Wir haben Mitleid mit einem Gespenst.«
Sie kicherte. »Aber mit einem sehr liebenswerten Gespenst. Und ich möchte ihm wirklich gern helfen. Immerhin scheint er sich bizarrerweise ganz gut mit Jared zu verstehen, sodass er vielleicht nicht allzu einsam ist, bis wir mit einem richtigen Medium etwas in die Wege leiten können. Ich werde im Internet recherchieren und schauen, ob es hier in der Gegend jemanden gibt.«
»Aber diesmal ein Experte mit ordentlicher Qualifikation.« Dexter nickte. »Jemand mit erstklassigen Referenzen in allen spirituellen Bereichen. Keine dilettantischen Pfuscher mehr wie – oh, na toll …«
Sie standen Seite an Seite im Eingang zur Küche. Maisie schnarchte noch immer selig auf dem Stapel von Mänteln, doch nun lag Lilly neben ihr, murmelte im champagnerberauschten Schlaf vor sich hin und nuckelte am Daumen.
»Denen geht’s ja gut.« Frankie seufzte. »Ach, was war das für eine fürchterliche Nacht.«
»Das kannst du laut sagen – nein, bitte nicht.« Dexter lächelte ihr sanft zu. »Nur so eine Redewendung. Aber mal ehrlich, ich weiß, es ist nicht so gelaufen, wie wir es geplant hatten, aber trotzdem hätte ich es um nichts in der Welt verpassen wollen.«
»Nicht? Bist du geisteskrank oder ein Masochist oder so?«
»Weder noch.« Unvermittelt nahm Dexter sie in die Arme. »Es war nur einfach dermaßen aberwitzig, dass ich darüber, nun ja, Dinge vergessen habe, von denen ich dachte, sie würden mich ewig verfolgen. Dafür bin ich dir wirklich dankbar.«
Wenn sie nicht so müde gewesen wäre, so verwirrt, durch alles so völlig aus der Fassung gebracht, hätte Frankie vielleicht nachgefragt. So aber war sie einfach nur glücklich, Dexters Arme um sich zu spüren. Er war warm und lebendig und real – außerordentlich real –, und in diesem Moment brauchte sie alle Realität und Normalität, die sie bekommen konnte.
»Gern geschehen. Und ich danke dir, dass du mir bei all diesem Zinnober geholfen hast. Auch wenn ich gedacht hätte, nichts könnte schlimmer sein als die Entdeckung, dass es wirklich Gespenster gibt. Ich wette, so etwas hättest du nicht erwartet, als du aus Oxford weggegangen bist, stimmt’s?«
Dexter schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich hätte so manches nicht erwartet, als ich aus Oxford weggegangen bin.«
Sie sah ihm in die Augen, und er sah in ihre. Sie waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Ihr Herz tat einen Hüpfer. Ach, wie hinreißend er war. Und wie wenig vertrauenswürdig.
Genau wie damals Joseph Mason.
»Tatsächlich?« Sie entwand sich ihm. »Klingt ja interessant. Darüber müssen wir uns wirklich mal ausführlich unterhalten. Tja, da wir nun mit den Toten alles geregelt hätten, sollten wir wohl besser die Lebenden aufwecken und für die letzten Stunden dieser Nacht nach Hause gehen.«
»Okay.« Dexter zuckte die Achseln, er hatte die Botschaft offenbar verstanden. Dann bückte er sich, um an Maisies massiger, kaftanbedeckter Schulter zu rütteln. »Ganz, wie du willst.«
Verflixt noch mal, fluchte Frankie innerlich, während sie Lillys schmale Hand packte und ihr den Daumen mit einem Plopp aus dem Mund zog. Wie blöd bin ich denn eigentlich?
»Geh weg«, murmelte Lilly. »Lass mich in Ruhe.«
»Wir gehen heim, Lilly.«
»Ach so?« Ächzend setzte Lilly sich auf, starrte einigermaßen überrascht auf die noch immer schnarchende Maisie und schaute dann zerknautscht von Frankie zu Dexter. »Oh … Wo bin ich? Wer bin ich? Ach, Gott sei Dank bin ich jetzt wach. Liebe Güte, Frankie, ich hatte einen wirklich schlimmen Traum.« Sie hickste. »Weißt du was, ich habe geträumt, dein ganzer Laden wäre voller Geister. Ist das nicht verrückt?«